K. Hildebrand u.a. (Hrsg.): Geschichtswissenschaft und Zeiterkenntnis

Cover
Titel
Geschichtswissenschaft und Zeiterkenntnis. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Festschrift zum 65. Geburtstag von Horst Möller


Herausgeber
Hildebrand, Klaus; Wengst, Udo; Wirsching, Andreas
Erschienen
München 2008: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
XIII, 779 S., 1 Abb.
Preis
€ 99,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karl Heinrich Pohl, Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Der von Klaus Hildebrand, Udo Wengst und Andreas Wirsching herausgegebene Sammelband ist einem bedeutenden Historiker der Nachkriegszeit gewidmet. Horst Möller hat – besonders durch die langjährige Leitung des Instituts für Zeitgeschichte in München und die Tätigkeit am Deutschen Historischen Institut in Paris – wissenschaftspolitisch weit über Deutschland hinaus Spuren hinterlassen. Der Umfang der Festschrift, fast 800 Seiten, spiegelt das gewissermaßen „quantitativ“ wider. Der Band macht deutlich, welch breiter Schüler-, Freundes- und Kollegenkreis sich Möller verbunden fühlt: Rund 50 Beiträge namhafter Wissenschaftler schmücken den Sammelband, von „A“ wie Helmut Altrichter bis zu „W“ wie Michael Wolffsohn. Da der Titel der Festschrift sehr offen gefasst ist, gibt er gar nicht erst vor, eine inhaltliche und thematische Konsistenz erreichen zu wollen. Die Beiträge beschäftigen sich – und das ist der eigentliche innere Zusammenhalt – fast alle mit Themenfeldern, auf denen auch der Jubilar wissenschaftlich gearbeitet hat. Dies betrifft eine Vielzahl von Zeitebenen und Arbeitsbereichen. Viele Beiträge versuchen – und sei es nur an wenigen Ansatzpunkten –, an Möllers Studien anzuknüpfen und sie in die eigenen Überlegungen zu integrieren.

Immerhin, ein gewisser methodischer und wissenschaftstheoretischer Trend scheint den Band zu kennzeichnen – trotz der Verschiedenartigkeit der Beiträge. Oder sollte es ein Zufall für den „Geist“ dieser Festschrift sein, dass der Prolog, den der 85-jährige Karl Dietrich Bracher dem 65-jährigen Jubilar Möller zum Einstieg widmet, ein vor bereits 30 Jahren veröffentlichter Aufsatz ist? Zu diesem Beitrag steht der Verfasser – nach eigenen Angaben – unverändert auch heute noch (S. 9), als habe es in der Forschung der letzten drei Jahrzehnte zu dem behandelten Thema „Totalitarismus und Faschismus“ nichts wesentlich Neues mehr gegeben. Das suggeriert auf den ersten Blick eine gewisse Nostalgie oder „Rückwärtsgewandtheit“ des Bandes, vielleicht auch den Versuch, gerade in der besonders umkämpften und wandelbaren Zeitgeschichte Dauer und Beständigkeit zu betonen. Die Nostalgie-Vermutung stimmt allerdings nur bedingt.

Bei allen Autoren handelt es sich auf der einen Seite um ausgewiesene Kenner der Materie, die vielfach ein besonders hohes Forschungsniveau auszeichnet. Kein wissenschaftliches Leichtgewicht ist auszumachen. Zudem ist die Internationalität der Festschrift besonders durch den hohen Anteil von französischen Kollegen augenfällig. Schaut man sich jedoch auf der anderen Seite das Spektrum der Themen und die Art ihrer Bearbeitung an, sind die meisten wohl als eher „konventionell“ zu bezeichnen. Der Beitrag von Wilhelm Volkert etwa, „Die Bayerische Patriotenpartei und das Zentrum 1871–1898“ (S. 83-98), ist ein klassischer Zugriff, der so und nicht anders auch vor 30 Jahren hätte angewendet werden können – und angewendet wurde. Ähnlich geartet ist der Beitrag von Hermann Rumschöttel, dem Generaldirektor der Staatlichen Archive Bayerns, über „Das bayerische Heer im Ersten Weltkrieg“ (S. 529-540). Hier handelt es sich um einen weiteren Aufsatz aus bayerischer Perspektive, die – wie zu erwarten – in dem Band häufig eingenommen wird. Der Verfasser beschäftigt sich mit einem militärgeschichtlich interessanten Projekt, das von der Quellenlage her nicht einfach zu bearbeiten ist. Den gegenwärtigen Fragestellungen einer jüngeren, meist theoretisch orientierten Historiographie entspricht er – auch nach Rumschöttels eigener Meinung – aber eher weniger.

Ohne einzelnen Autoren zu nahe treten zu wollen, die etwa eine kritische Analyse von „Militär und Politik in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts“ anbieten und dabei auch auf den Jubilar Bezug nehmen (Anselm Doering-Manteuffel, S. 119-132), die eine Neuinterpretation der „Entscheidung zur Vernichtung aller europäischen Juden“ wagen und dabei den Stand der Forschung überzeugend bündeln (Edouard Husson, S. 277-289) oder über Preußen schreiben, sich dabei aber mit dem Fußball und nicht etwa den Kriegen oder der Staatsräson beschäftigen (Thomas Raithel, S. 99-116): Insgesamt überwiegt der eher konventionelle, meist auch der das Politische betonende Zugriff, so als hätte es keine Sozialgeschichte und schon gar nicht eine (oder mehrere?) kulturwissenschaftliche Wende(n) gegeben. Weder „Geschichte von unten“ noch Aspekte der Geschlechtergeschichte – im Übrigen sind nur drei Autorinnen beteiligt –, weder „Post-Colonial Studies“ noch in theoretische Überlegungen eingebettete transnationale Ansätze erhalten einen wesentlichen Platz. Immerhin, mit dem Beitrag von Hélène Miard-Delacroix („Der Westen als Hort. Diskursanalytischer Beitrag zur Deutung des Begriffs ‚Westen’ in den Reden Konrad Adenauers zu Beginn der 1950er Jahre“, S. 397-407) ist ein dezidiert diskursanalytischer Aufsatz vertreten. Das stellt aber eine Ausnahme dar.

Die Festschrift gliedert sich in sechs Abteilungen, die entlang von Möllers Werk angelegt sind. Im ersten Teil geht es um „Geist und Politik – von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg“. Die Zusammenstellung wirkt ein wenig disparat; neben einer Skizze von Hans Maier über „Mozart und die Aufklärung“ (S.13-20), die aber kaum mit einem kulturalistischen Zugriff argumentiert, steht unter anderem Jean Mondots Beitrag über „Staatsräson und Kritik in einigen Stadtrepubliken des 18. Jahrhunderts“ (S. 51-65). Im zweiten Abschnitt („Demokratien und Diktaturen im 20. Jahrhundert“) finden sich neben Spezialstudien wie etwa Ulrich von Hehls Beitrag über „Universität und Revolution 1918/19“, der sich mit der Universität Leipzig beschäftigt (S. 133-147), mediengeschichtliche Ausflüge wie Magnus Brechtkens „’Finden Se dat so schön?’“ – ein Beitrag über „Medienorientierung und Imagebildung Konrad Adenauers“ (S. 211-223) –, zugleich auch „Schwergewichte“ wie Hans Günter Hockerts’ Essay über „Parteien in Bewegung“, der sich mit der bundesdeutschen Reformära 1966–1974 auseinandersetzt (S. 225-240).

Die Abschnitte drei und vier befassen sich mit „Deutschland, Frankreich und de[m] Westen“ sowie – in Form von nur drei Beiträgen – mit „Flucht und Vertreibung“. Knappe Essays (Maurice Vaïsse, „Internationale Politik und deutsch-französische Beziehungen im zweiten Halbjahr 1967“, S. 365-371) stehen neben übergreifenden Gedanken (etwa Günther Heydemann, „Zwischen Konsens, Krise und Konflikt. Der 11. September 2001 und seine Auswirkungen auf die deutsch-amerikanischen Beziehungen“, S. 437-451), wobei in der Regel der regionale oder lokale Zugriff überwiegt.

Schließlich beteiligen sich in den Abteilungen fünf und sechs („Geschichtsschreibung und historische Ausstellungen“ sowie „Ideengeschichtliche Analysen und Zeitdiagnosen“) nicht nur einige führende deutsche Historiker mit durchaus verschiedenem wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse, sondern auch mit verschieden gewichtigen Beiträgen. Neben Gerhard A. Ritter („50 Jahre Leo Baeck Institut“, S. 585-595) publiziert Lothar Gall über „Die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und die Gründung des Instituts für Zeitgeschichte“ (S. 559-567), beides also institutionengeschichtliche Beiträge. Neben Michael Wolffsohn („’Kunst’ als Politik. Das Berliner Holocaust-Mahnmal. Weltpolitische Rahmenbedingungen und Entscheidungsvorgang“, S. 655-670) mit einem sehr konkreten Thema bietet zugleich Ernst Nolte („Der Begriff der ‚Dekadenz’ und seine Bedeutung für das Selbstverständnis Europas“, S. 707-717) einen weit gefassten und zur kontroversen Diskussion reizenden Essay an.

Das Resümee: Wir haben es mit einer – von den Herausgebern so auch pointiert hervorgehobenen – „Festschrift“ zu tun, die den Jubilar vor allem durch die große Anzahl und die Namhaftigkeit der Autoren ehrt. Das Unterfangen verzichtet auf einen engen thematischen Rahmen, so dass eine innere Kohärenz der Beiträge nicht immer gegeben ist. Wer in dem Band methodisch und theoretisch wegweisende Beiträge erwartet hat, wird ein wenig enttäuscht werden. Aber das können Festschriften wie diese in der Regel wohl auch nicht leisten.