W. Milert u.a.: Die andere Demokratie

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Titel
Die andere Demokratie. Betriebliche Interessenvertretung in Deutschland 1848 bis 2008


Autor(en)
Milert, Werner; Tschirbs, Rudolf
Reihe
Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen – Schriftenreihe A: Darstellungen 52
Erschienen
Anzahl Seiten
712 S.
Preis
€ 49,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Platz, Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn

Im Jahr 2012 jährte sich die Verabschiedung des Betriebsverfassungsgesetzes von 1952 zum 60. Mal, die Novelle von 1972 zum 40. Mal. Die Betriebsverfassung der Nachkriegszeit nahm bedeutende Aspekte der Entwicklung in der Weimarer Republik, insbesondere des Betriebsrätegesetzes von 1920 wieder auf. Dazwischen lag die „Zerschlagung der Mitbestimmung“ 1933, der Werner Milert und Rudolf Tschirbs kürzlich eine Forschungsausstellung mit neuen Befunden gewidmet haben.1

Ihre chronologisch gegliederte Darstellung betrieblicher Interessenvertretung in Deutschland hebt im 19. Jahrhundert mit einem Kapitel an, das von den Anfängen eines „Mitbestimmungsrechts“ in Arbeiterausschüssen zur Zeit der Revolution von 1848/49 bis zur Mitte des Ersten Weltkriegs reicht. Während die Anfänge unter dem Vorzeichen des betrieblichen Patriarchalismus standen, verschärfte sich der Kampf im Kaiserreich, als die Unternehmerschaft deutlicher begann, mittels einer „Herr im Hause“-Politik ihren Standpunkt zu verteidigen und die zarten Formen betrieblicher Mitbestimmung einzudämmen. Ein qualitativer Wandel war mit dem Hilfsdienstgesetz von 1916 zu verzeichnen, aufgrund dessen Arbeiterausschüsse zur Absicherung der Kriegswirtschaft erstmals in breiter Front installiert wurden.

Der qualitative Sprung in der Geschichte der Normsetzung der deutschen Betriebsverfassung war zweifellos das Betriebsrätegesetz von 1920 in Verknüpfung mit der Anerkennung der Tarifpartnerschaft zwischen Gewerkschaften und Unternehmern. Hier vertreten die Autoren die These, dass das Betriebsrätegesetz pragmatischen Erwägungen und dem Handeln staatlicher, unternehmerischer und gewerkschaftlicher Akteure geschuldet, also keine Reaktion auf die Rätebewegung der Revolutionszeit war. Die Nationalsozialisten zerstörten 1933 die erste Betriebsdemokratie auch deswegen mit einer solchen Gewalt, weil die Betriebsräte sich bei den freien Betriebsratswahlen im März 1933 als die letzte funktionierende Institution der Weimarer Demokratie erwiesen hatten.

Dem Gegenbild der autoritären nationalsozialistischen Betriebsverfassung widmen Milert und Tschirbs das dritte Kapitel. Prononciert vertreten sie die These, dass die nationalsozialistischen Leitbilder der Volks- und Betriebsgemeinschaft lediglich ideologische Versatzstücke waren, während die Realität die einer rigiden Betriebsdiktatur gewesen sei, in der auch die nationalsozialistische Massenorganisation der Deutschen Arbeitsfront (DAF) im polykratischen Geflecht der NS-Betriebsherrschaft allenfalls begrenzte Wirkmacht entwickeln konnte.

Den zweiten Schwerpunkt der Studie bildet eine Synthese der Vielzahl an Studien zum Aufbau der Betriebsräte in der Nachkriegsgesellschaft. Antifaschistisch orientierte Betriebsräte gehörten mit zu den ersten demokratischen Institutionen, die großenteils spontan unter Ausschluss der nationalsozialistischen DAF-Vertrauensleute gegründet wurden. Unter dem alliierten Kontrollratsgesetz Nr. 22 wurden die demokratischen Institutionen der ersten Betriebsräte gesichert. Detailliert vollziehen die Autoren den Prozess der rechtlichen Institutionalisierung der Betriebsräte in den Landesgesetzen nach. In der Nachkriegszeit etablierten sich im Bereich Montanindustrie, in der die Alliierten sich weitergehende Kontrollrechte vorbehielten, Modelle der Unternehmensmitbestimmung, die den Gewerkschaften auch Einfluss auf die Unternehmenskontrolle und -führung sicherten. Dieses Mitbestimmungsmodell retteten die Gewerkschaften in die bundesdeutsche Wirtschaftsverfassung, indem sie 1951 die Verabschiedung des Montanmitbestimmungsgesetzes erzwangen. Das Betriebsverfassungsgesetz von 1952 betrachteten sie hingegen als politische Niederlage, da die Mitbestimmungsrechte nicht auf die gesamte Industrie ausgedehnt werden konnten.

Im Folgenden widmen sich Milert und Tschirbs der betrieblichen Realität der Interessensvertretung in der formativen Phase der Bundesrepublik und zeichnen nach, wie sich trotz der gesellschaftspolitischen Niederlage ein stabiles System der betrieblichen Interessenvertretung etablierte, das durch verrechtlichte und formalisierte Strukturen gekennzeichnet war. Für die Gewerkschaften bedeutete dies zunächst einen Rückgang ihrer Einflussmöglichkeiten. Dennoch entwickelte sich unter der neuen Betriebsverfassung auch ein neuer Führungs- und Betriebsstil, der sowohl mit der Verwissenschaftlichung der Personalpolitik als auch mit neuen technisch bedingten Kooperationsanforderungen im Betrieb zusammenhing. Und je mehr die Gewerkschaften ihre Betriebsrätearbeit durch Schulungen und Beratung verstärkten, gewannen sie an Einfluss zurück. Die Anerkennung der Betriebsräte in den Belegschaften hing mit den sozial-, tarif- und lohnpolitischen Funktionen zusammen, die sie innerbetrieblich wahrnahmen, etwa in der Aushandlung betrieblicher Lohnbestandteile. Diese sozialpolitischen Ergänzungen wurden in den 1960er-Jahren häufig monetarisiert, blieben aber bestehen.

Die nächste Zäsur stellt die Novelle des Betriebsverfassungsgesetzes von 1972 dar, dessen Zustandekommen in der sozialliberalen Koalition die Verfasser intensiv rekonstruieren. Die Gesetzesnovelle hatte entscheidende Verbesserungen zur Folge, doch verwirklichte sie die gewerkschaftlichen Forderungen nicht umfassend. Der zweiten Novelle der 1970er-Jahre, dem Mitbestimmungsgesetz von 1976, lag ebenfalls ein Kompromiss zugrunde, der die gewerkschaftlichen Forderungen noch weiter beschnitt. Dennoch klagten Arbeitgeberverbände vor dem Bundesverfassungsgericht und konnten dort 1979 trotz Abweisung der Klage einen Teilerfolg verzeichnen, weil der Richterspruch zukünftige Erweiterungen der Mitbestimmung begrenzte.

Innerbetrieblich vollzog sich in den 1970er-Jahren ein weiterer betrieblicher Generationswechsel, indem der in den 1960er-Jahren ausgebaute gewerkschaftliche Vertrauensleutekörper in die Betriebsräte nachrückte. Damit hielten neue Politikformen, eine konfrontativere Betriebspolitik und eine stärkere Basisnähe Einzug. Außerdem nahmen Kandidaturen betriebsratsoppositioneller Gruppen zu und forderten die gewerkschaftlichen Betriebseliten zusätzlich heraus. Noch gravierender waren die Folgen des industriellen Strukturwandels, der zu Standortverlagerungen und dem Niedergang ganzer Branchen führte. Betriebsräte fanden sich bei der Aushandlung von Sozialplänen in der Rolle eines gewerkschaftlich orientierten Co-Managements wieder, statt Gegenmacht-Positionen zu vertreten.

Bevor sich Milert und Tschirbs des wiedervereinigten Deutschlands und damit der Problemlagen der Gegenwart annehmen, beschreiben sie in einem eigenen Kapitel die Realitäten der betrieblichen Mitbestimmung in der Sowjetischen Besatzungszone und die anschließende rasche Entmachtung der Betriebsräte zugunsten der Betriebsgewerkschaftsleitungen des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) in der DDR, sodass die Gewerkschaftsvertreter in die staatliche Wirtschaftslenkung einbezogen und nach ihrem Selbstverständnis „Transmissionsriemen“ der SED waren. Im abschließenden Kapitel widmen sich die Autoren der Entwicklung der Betriebsräte im vereinigten Deutschland, der Transformationskrise im Osten Deutschlands und dem Strukturwandel im Westen. Sie beschreiben die eigenständige und wichtige Rolle, die Betriebsräten dabei im Rahmen betrieblicher Regelungen zukam. Auch bei der neuerlichen Novelle des Betriebsverfassungsgesetzes 2001 blieben die Regelungen hinter den Forderungen der Gewerkschaften an die sozialdemokratisch geführte Regierung zurück.

Als Gesamtdarstellung ist die Forschungssynthese von Milert und Tschirbs überzeugend und schließt eine empfindliche Lücke. Der Untersuchungsansatz, der rechtliche Normierungen und betriebspraktische Auswirkungen gleichermaßen analysiert, liefert ein rundes Bild der deutschen Betriebsverfassung. Die Darstellung ist insgesamt abwägend geschrieben, dennoch verdient der Argumentationsstil der Autoren kritische Betrachtung, denn er räumt den gegebenen Verhältnissen regelmäßig den Vorrang vor utopischeren zeitgenössischen Vorstellungen ein. Hier hätte sich der Rezensent streckenweise eine ausgewogenere Darstellung gewünscht, die etwa der Tatsache Rechnung tragen hätte können, dass in der gewerkschaftlichen Politik der Weimarer Republik zum Beispiel konkurrierende Richtungen vertreten waren, innerhalb derer auch das Argument linksradikaler „Abweichungen“ ein nennenswertes Gewicht besaß.

Kritisch bleibt hinsichtlich der Darstellung des Nationalsozialismus zu vermerken, dass die Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand einen gewissen Bias aufweist, der erhebliche Einsprüche gegenüber neueren Studien zum Thema der Volksgemeinschaft in der Geschichte der (industriellen) Arbeit formuliert. Hier beschleicht den Rezensenten der Verdacht, dass gewisse Leerstellen bei der Analyse der ideologischen Verfasstheit des Nationalsozialismus bleiben müssen, die ihren Ausdruck auch in der wiederholten Klassifizierung der nationalsozialistischen Politik als „pseudonationalsozialistisch“ findet. Hier wären Fragen nach der volksgemeinschaftlichen Integration der Arbeiterklasse statt der erneuten Gegenüberstellung von „Anspruch“ und „Wirklichkeit“ des Nationalsozialismus sicher weiterführend gewesen.2

Während die Autoren sich stets auf der Höhe des spezifischen Forschungsstandes der Mitbestimmungsgeschichte bewegen, bleibt anzumerken, dass sie sich der Stellungnahme zu den Debatten um einzelne Dekaden der Nachkriegszeit strikt enthalten. So vermisst man etwa eine dezidiertere Position zur „Modernisierung im Wiederaufbau“, zu den Debatten um die Westernisierung in den 1950er- und 1960er-Jahren, zu den 1960er-Jahren als „dynamische Zeiten“ und den langen 1970er-Jahren als „sozialdemokratisches Jahrzehnt“ und besonders eine Auseinandersetzung mit der seit einigen Jahren intensiv diskutierten Strukturbruchthese von Raphael und Doering-Manteuffel.3 In der einleitenden Diskussion des Forschungsstandes zu den industriellen Beziehungen vermisste der Rezensent eine allgemeine demokratietheoretische Verortung, die die Vorstellung der „anderen Demokratie“ auch außerhalb des Feldes der Gewerkschaftsgeschichte, der sie ja bereits geläufig ist, markiert und anschlussfähig gemacht hätte.

Unbeschadet dieser bescheidenen Monita haben Milert und Tschirbs eine Forschungs- und Syntheseleistung bewältigt, die für kommende Arbeiten Maßstäbe setzt. Neben der anfänglichen Beharrungskraft der Betriebsdemokratie in diktatorischen Zeiten und ihrem Beitrag zum Wiederaufbau der Demokratie betonen sie vor allem den Beitrag der vielen Trägerinnen und Träger der Betriebsdemokratie zur demokratischen Kultur in Deutschland. Das Hauptverdienst liegt deshalb darin, dass die „andere Demokratie“ im wissenschaftlichen Feld angemessen gewürdigt wird, statt ihrer lediglich im Zuge der allfälligen Jahrestage politisch zu gedenken.

Anmerkungen:
1 Vgl. den Katalog: Werner Milert / Rudolf Tschirbs, Zerschlagung der Mitbestimmung 1933. Die Zerstörung der ersten deutschen Betriebsdemokratie, Düsseldorf 2013.
2 Siehe hierzu den vermittelnden Ansatz von Richard Evans, „Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft“. Zur Diskussion um Anpassung und Widerstand in der deutschen Arbeiterschaft 1933–1945, Bonn 2010, online verfügbar unter: <http://library.fes.de/pdf-files/historiker/08015-20110523.pdf> (27.11.2013).
3 Vgl. jüngst Knud Andresen / Ursula Bitzegeio / Jürgen Mittag (Hrsg.), „Nach dem Strukturbruch“? Kontinuität und Wandel von Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en) seit den 1970er Jahren, Bonn 2011, vgl. die Rezension von Nina Kleinöder, in: H-Soz-u-Kult, 23.02.2012, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2012-1-127> (27.11.2013); Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, 2. Auflage Göttingen 2010, vgl. die Rezension von Nils Freytag, in: H-Soz-u-Kult, 26.03.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-1-248> (27.11.2013).

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