L. Krull: Prozessionen in Preußen

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Titel
Prozessionen in Preußen. Katholisches Leben in Berlin, Breslau, Essen und Münster im 19. Jahrhundert


Autor(en)
Krull, Lena
Reihe
Religion und Politik 5
Erschienen
Würzburg 2013: Ergon Verlag
Anzahl Seiten
355 S.
Preis
€ 56,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Handschuh, Seminar für katholische Theologie, Universität zu Köln

Prozessionen als sensible Indikatoren für die jeweilige kommunale Selbstwahrnehmung sind aus der mittelalterlichen wie frühneuzeitlichen Stadtforschung gut bekannt und haben sich bewährt. Bislang eher ungewöhnlich, wenn auch nicht ohne Präzedenzfall ist die Anwendung auf das 19. und 20. Jahrhundert, wie es die der Kulturwissenschaft und der vergleichenden Städteforschung verpflichtete Dissertation von Lena Krull unternimmt. In ihrem Fokus stehen katholische Prozessionen als „Ausdruck konfessioneller Vergemeinschaftungsformen“ und als Träger „spezifisch konfessionelle[r] Inhalte“, ambitioniert erschlossen anhand der Untersuchungsstädte Berlin, Breslau, Essen und Münster. Ihr geht es um den „symbolischen Wert der Prozessionen“, um das, „was sie für Teilnehmer, Klerus, städtische Verwaltung und preußischen Staat bedeuteten und wofür sie standen“ (S. 10). Entsprechend gliedert sich die Arbeit in (1) eine chronologisch sortierte Skizze der preußischen Norm- und Verwaltungsperspektive auf das Phänomen der Prozessionen und Wallfahrten, (2) eine Skizze des katholischen Lebens in den Untersuchungsstädten als kultur- und sozialgeschichtlicher Kontext sowie (3) in den folgenden drei Kapiteln eine ebenfalls chronologisch strukturierte Untersuchung der Prozessionen in den jeweiligen städtischen Kontexten, differenziert nach den drei von Krull erarbeiteten Phasen (Epochenumbruch zwischen 1740 und 1830, Zeit der Kulturkämpfe 1830–1880 sowie die Aneignung bürgerlicher Festkultur zwischen 1880 und 1918).

Die informative Charakterisierung der preußischen Einstellung gegenüber den Prozessionen zeichnet in mehreren Phasen die Wandlungen der legislativen Tätigkeit nach. Während bis etwa 1850 im gedanklichen Kontext der Katholischen Aufklärung Staat und Kirche auf lokaler Ebene zusammenarbeiteten, um „Unzucht“ zu vermeiden, waren hiervon die Prozessionen – von der nun entstehenden Genehmigungspflicht abgesehen – kaum betroffen und konnten nahezu ohne Einschränkung und vor allem ohne einheitliche legislative Regelung abgehalten werden; lediglich Ausweitungen des Prozessionswesens und bewaffneten Prozessionswächtern standen Staat wie Kirche kritisch gegenüber. In einer zweiten Phase bis 1870 wurde eine einheitliche überregionale Gesetzeslage geschaffen, nach der nur noch die etablierten, „hergebrachten“ (S. 49) Prozessionen unter dem Schutz des Staates standen, neu entstehende wurden lokal genehmigungspflichtig. Erst unter den Bedingungen des Kulturkampfes kam es bis 1900 zu breiterer öffentlicher Ablehnung der katholischen Prozessionen, ein generelles Verbot wurde aber nicht erlassen, lediglich deren öffentliche Präsenz konnte von der lokalen Verwaltung mit dem Argument der Verkehrsbehinderung eingeschränkt werden. Nach 1900 neigten aber insbesondere lokale Behörden dazu, sowohl in Bezug auf Genehmigungen wie auch auf öffentliche Sichtbarkeit äußerst großzügig zu verfahren.

Diese vier Phasen preußischer Gesetzgebung führten in den vier Untersuchungsstädten Berlin, Breslau, Essen und Münster zu sehr unterschiedlichen Reaktionen der katholischen Bevölkerung. Allen gemeinsam ist die Tatsache, dass sich sehr unterschiedliche städtische Katholizismen mit der preußischen Herrschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts arrangieren und in der Folge unter den sich wandelnden Bedingungen des Kulturkampfes auseinandersetzen mussten. Sehr viel mehr Vergleichsebenen lassen sich aber kaum griffig festhalten: Die Heterogenität der Untersuchungsstädte und die stark differierende Forschungslage – zu Breslau existiert nicht einmal eine entsprechende Milieustudie! – macht einen Vergleich schwierig bis nahezu unmöglich: Während in Berlin ein noch vergleichsweise unerforschter Diasporakatholizismus in stark protestantisch geprägter Umgebung um seine institutionelle Selbstdefinition und personelle Erstausstattung rang, existierten in Breslau, Münster und Essen etablierte, in den ersten beiden gar episkopal geprägte katholische Strukturen, die sich unter der neuen preußischen Herrschaft sehr unterschiedlich entwickelten. Der ebenfalls nach wie vor eher unerforschte Katholizismus in Breslau organisierte sich unter Ausrichtung auf den eigenen Adel und Klerus, vermutlich personifiziert in der Person des jeweiligen Fürstbischofs. In Essen und Münster etablierten sich vergleichsweise dichte katholische Milieus, in Essen stark motiviert durch eine intensive Industrialisierung seit 1860, in Münster durch die Ereignisse des Kulturkampfes.

Die weiteren drei Kapitel charakterisieren chronologisch in drei Sinneinheiten die Bedeutung der Prozessionen für die jeweilige katholisch-städtische Sinn- und Lebenswelt vor dem Hintergrund und in Spannung zur protestantischen Herrschaft. Zwischen 1740 und 1830 erfuhren die Prozessionen im „Epochenumbruch“ einen zunehmenden Bedeutungsverlust, wichtige Gruppierungen innerhalb des Katholizismus fielen als Protagonisten aufgrund des Wandels in Folge der Säkularisation weg, das Arrangement mit den preußischen Behörden tritt ins Zentrum. Auch inhaltlich wandelte sich ihr Charakter: In Münster und Breslau übernahmen die Organisation die Bistumsverwaltungen, in Essen der lokale Klerus, in Berlin existierte aufgrund der Diasporasituation noch keine etablierte Fronleichnamsprozession. Dies wandelte sich grundlegend zwischen 1830 und 1880, als der Konflikt zwischen Staat und Kirche zu einem regelrechten Motor von katholischer Vergesellschaftung wie auch der Prozessionen wurde, sobald sich einzelne Geistlicher ihrer annahmen und sie aktiv förderten. Als in der Öffentlichkeit vollzogene liturgische Akte generierten sie in ihren spezifischen lokalen Kontexten unter den Bedingungen von Ultramontanisierung und zunehmenden Spannungen zwischen Katholiken und preußischem Staat einerseits ein latentes Konflikt-, andererseits ein hohes Identifikationspotential, das sich in den Untersuchungsstädten sehr unterschiedlich ausformte. In Berlin-Spandau entstand gar erst als wichtiger Identifikationsmarker eine eigene Prozession an Fronleichnam, zu der die Katholiken in verblüffender Anzahl erschienen; 1875 wurde sie aufgrund ihres Status als nicht etablierte Prozession nicht mehr genehmigt und damit faktisch unterbunden. In Breslau geriet die Fronleichnamsprozession in den 40er-Jahren zum Protestfanal gegen den Deutschkatholizismus, die Beteiligung blieb auch danach hoch, selbst katholische Verbindungen beteiligten sich ab den 1870ern. Intensive Konflikte um die Prozessionen finden sich in den hochverdichteten Milieus von Essen und Münster. In Essen entluden sich innerstädtische Konfliktlinien zwischen Katholiken und Protestanten an einem (vermuteten) Fahnendiebstahl während der Prozession, gefolgt von einer längeren prozessualen Aufarbeitung, die prägend für die Trennlinie zwischen Protestanten und Katholiken in der Kulturkampfzeit bleiben sollte. In Münster erlebte die Große Prozession einen regelrechten Boom, und das dichte katholische Milieu arbeitete sich intensiv an diversen preußischen Erlassen und Einschränkungen der Teilnahme von Schülern ab. Erst in der dritten Phase ab 1880 entspannte sich vor dem Hintergrund zunehmender Verbürgerlichung die Lage, sogar die Festregie wanderte nach und nach in die Hände von Bürgerkomitees ab, ein unter den Bedingungen sich verfestigender Milieustrukturen durchaus plausibler Entwicklungsschritt.

Bilanzierend wird man festhalten dürfen, dass Lena Krull ein interessantes, abwechslungsreich zu lesendes Werk gelungen ist, das ein heterogenes, aber klar strukturiertes Bild der Prozessionen in ihren vier Untersuchungsstädten zeichnet. Es stärkt den von Lothar Gall und Thomas Mergel konstatierten bunten Charakter1 lokaler und regionaler Katholizismen und liefert einen aus der Perspektive der vergleichenden Städte- wie auch der Prozessionsforschung wichtigen Beitrag. Manko der Arbeit bleibt die geringe Verzahnung mit der aktuellen milieuzentrierten Katholizismusforschung.2 So stellt sich die Frage, was die skizzierte Prozessionengeschichte mit der sie unterfütternden katholischen Identitätsgruppe zu tun hat, und welche Entwicklungslinien der longue durée an den hier sichtbaren Entwicklungen ablesbar werden, weitgehend offen. Ebenfalls dringend zu fragen wäre im Sinne kulturgeschichtlicher Erweiterung3 nach der innerkatholischen Sinnstruktur der Prozessionen, die aufgrund von Krulls Prozessionsbegriff und Quellenbeständen leider weitestgehend unsichtbar bleibt. Allein hier dürften zwischen 1800 und 1914 mehrfache Weiterentwicklungen in den Wissensbeständen zwischen Katholischer Aufklärung, Ultramontanismus und Katholischem Milieu zu vermuten sein.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu exemplarisch: Joachim Kuropka (Hrsg.), Grenzen des katholischen Milieus. Stabilität und Gefährdung katholischer Milieus in der Endphase der Weimarer Republik und in der NS-Zeit, Münster 2013.
2 Arbeitskreis für Kirchliche Zeitgeschichte (AKKZG), Katholiken zwischen Milieu und Moderne. Das Katholische Milieu als Forschungsaufgabe, in: Westfälische Forschungen 43 (1993), S. 588–654; Arbeitskreis für Kirchliche Zeitgeschichte (AKKZG), Konfession und Cleavages im 19. Jahrhundert. Ein Erklärungsmodell zur regionalen Entstehung des Milieus in Deutschland, in: Historisches Jahrbuch 120 (2000), S. 257–395.
3 Andreas Holzem, Katholische Kultur in kommunalen Lebenswelten Südwestdeutschlands 1850–1940. ‚Katholisches Milieu‘ in kultureller Erweiterung – Skizzen eines langfristigen Forschungsprogramms, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 24 (2005), S. 87–114.

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