Cover
Titel
The Modern Origins of the Early Middle Ages.


Autor(en)
Wood, Ian
Erschienen
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
£ 65.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Caspar Ehlers, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt am Main

Nicht dem Frühmittelalter selbst, sondern seiner Erforschung in Mitteleuropa seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert widmet sich das neue Buch des renommierten Historikers des frühen Mittelalters. Zwar bietet Ian Wood eine kurze Einführung in den Zeitraum „300–700“ und seine Historisierung (S. 1–18), aber „wie es eigentlich gewesen“, will er nicht zeigen, da es ihm um die Geschichte der Erforschung des Zeitraumes geht, die politische Verortung dieser Forschung und vor allem um die Indienstnahme ihrer Ergebnisse selbst.

Wood teilt diesen wissenschaftsgeschichtlichen Zugang in 15 Kapitel auf, die der Chronologie folgen und im Wesentlichen unterteilt sind nach den Nationalitäten der behandelten Forscher, die hauptsächlich aus Frankreich, England und Deutschland stammen. Italien, Nord- und Osteuropa spielen wie die amerikanische Forschung nur eine Nebenrolle. Vieles erfährt man über das historische Umfeld der Protagonisten der Frühmittelalterforschung, allerdings ist es oft ein langwieriges Geschäft, wenn über Seiten mit einer hohen Anmerkungsdichte in Folge ein einzelnes Werk referiert wird (etwa S. 88–92, S. 132–136, oder S. 237–241). Das nützt zweifelsohne demjenigen, der die Forschung nicht kennt, nicht aber dem kundigen Leser, für den dieses Buch eigentlich geschrieben ist.

Denn es ist mehr als eine Bilanz oder ein Kompendium zu zwei Jahrhunderten Frühmittelalterforschung. Vielmehr deutet Wood diese vor einem bildungsgeschichtlichen und politischen Hintergrund der europäischen Moderne. So überrascht es wenig, dass gerade die deutsche Forschung als verwerflich erscheinen muss, da sie seit dem 19. Jahrhundert im Grunde nur zur Vorbereitung von Angriffskriegen gedient habe (S. 154–173 zum deutschen Nationalismus, den Monumenta Germaniae Historica und den von der Kieler Universität öfters ausgehenden Bestrebungen, Norddeutschland gegen Dänemark in der „Schleswig-Holstein Question“ auszuspielen, vgl. dazu auch S. 173–176 und nochmals S. 326 f.; vor allem kommt die ideologische Inanspruchnahme auf das Frankenreich durch deutsche Historiker ausführlich zur Sprache am Beispiel der Kriege 1870/71, 1914–1918 und 1939–1945, was hier im Einzelnen nicht mit Seitenangaben nachzuweisen ist, da es das Buch wie ein roter Faden durchzieht). Allerdings ist dieser Befund nicht neu – und wäre im übrigen auch mit entsprechenden Gedankengängen deutscher Mediävisten gegenüber Ostmitteleuropa zu ergänzen – , aber man hätte sich gewünscht, dass Wood die Literatur zu diesem Phänomen verarbeitet (die Forschungen von Otto Gerhard Oexle, Michael Kater oder Patrick Geary und vieler anderer vermisst man) und so manchen selbst gewonnenen Eindruck auf eine breitere Basis des aktuellen Forschungsstandes gestellt hätte.

Diese mutmaßlich der Lesbarkeit und dem Umfang des Buches geschuldete, eingeschränkte Rezeption der Forschung zum Thema trübt etwas den Gesamteindruck, wie auch der Umstand, dass die althistorische und theologische Forschung zu Spätantike und Frühmittelalter zumindest für Deutschland wenig Beachtung findet (Alexander Demandt, Arnold Angenendt und andere fehlen, Peter Brown jedoch hat einen kurzen Auftritt, S. 288 und 305–312). Der Fokus des Buches liegt somit auf der Mediävistik, aber dann fragt man sich, warum etwa Carlrichard Brühl (1925–1997) nicht erwähnt wird, der nun gerade dem von Wood gezeichneten Schema eines deutsch-französischen Gegensatzes nicht entsprach.

Dennoch ist die Lektüre ein Gewinn, sehr detailliert werden die Forschungswege und die daraus abgeleiteten politischen Bewertungen der Jahrhunderte zwischen Antike und Mittelalter von Montesquieu bis in unsere Gegenwart anhand der von Wood ausgewählten Wissenschaftler und der ausführlichen Referate ihrer wesentlichen Werke nachgezeichnet. Man war für oder gegen Napoleon, traf sich in Genfer Salons in unruhigen Zeiten (S. 84 ff. zu Sismondi und dem Salon der Madame de Staël, S. 94 zu François Guizot, der in Genf erzogen wurde, S. 120 f. zu Cesare Balbo), war katholisch oder reformiert, germanenfreundlich oder den Römern zugeneigt. In Westeuropa konnten solche persönlichen, politischen und konfessionellen Einstellungen zwar individuelle Karrieren fördern oder beenden, nicht aber die nationale Politik maßgeblich beeinflussen. Nur in Deutschland, so das von Ian Wood an vielen Beispielen herausgearbeitete Bild, waren sich alle maßgeblich Beteiligten einig, dass Kriege als Resultat der Forschung zur Vergangenheit in der Gegenwart nötig und zu billigen seien. Der deutsche Nationalismus des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unterscheidet sich durch diese Bereitschaft zu einer vermeintlich historisch legitimierten innereuropäischen Gewaltanwendung vom gleichfalls aus der frühmittelalterlichen Interpretation der Geschichte beeinflussten Patriotismus der Franzosen und Engländer. Ob es sich, um mit Ian Wood (S. 314) zu sprechen, um einen „conflict between a predominantly transatlantic group of scholars on the one hand and supposed heirs to German traditional scholarship on the other“ handelte, kann sicherlich nicht allein anhand der vom Verfasser herangezogenen Forschung zum Frühmittelalter beantwortet werden, doch eröffnet Wood den bislang in einer Einzelstudie so noch nicht geleisteten diachronen und komparatistischen Zugang zum Thema auf westeuropäischer Basis. Inwieweit sich europäische Ideen von „Sprache“ und „Rasse“ im Zeitalter des Imperialismus in den jeweiligen Kolonien niederschlugen, wird von Wood kaum beachtet, wenn auch beispielsweise S. 282 am Beispiel der Kritik von Henri Irénée Marrou (1904–1977) durchaus angesprochen, während die Denker dazu aber behandelt werden (vgl. vor allem S. 199–221).

Das Buch des profunden Kenners des Frühmittelalters und seiner Erforschung bietet seinen Lesern viel Anlass zur Kalibrierung eigener Ansichten sowie zum Bedenken geschichtswissenschaftlicher Traditionen und Ansätze der Deutung von Vergangenheit und Gegenwart – nicht nur vor einem europäischen Hintergrund, sondern vor allem im Angesicht einer zunehmenden Globalisierung, die auch nicht ohne die Heranziehung historischer Legitimationen abzulaufen scheint.

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