H.-J. Schwarz u.a.: Moses Mendelssohn und die Krankheit der Gelehrten

Cover
Titel
Moses Mendelssohn und die Krankheit der Gelehrten. Psychologisch-biographische Studie


Autor(en)
Schwarz, Hans-Joachim; Schwarz, Renate
Erschienen
Hannover 2014: Wehrhahn Verlag
Anzahl Seiten
410 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Grażyna Jurewicz, Martin-Buber-Professur für Jüdische Religionsphilosophie, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Vor über vierzig Jahren setzte Alexander Altmann in der Forschung neue Maßstäbe. Seine Mendelssohn-Biographie von 1973 suggeriert – so entdeckungsreich wie sie ist –, dass es nach ihr nichts mehr zu entdecken gäbe.1 Man wurde aber eines Besseren belehrt, als noch drei Jahrzehnte später fast parallel zwei weitere Monographien zum Thema erschienen: die gelehrte Untersuchung von Dominique Bourel und die unersetzliche Deutung des ‚jüdischen Mendelssohn‘ aus der Feder Shmuel Feiners.2 Es lässt sich also wiederholt fragen: Kann man eine weitere biographisch ausgerichtete Arbeit zu Moses Mendelssohn schreiben, ohne Gefahr zu laufen, redundant zu sein? Post factum muss man diese Frage bejahen, denn es erschien kürzlich eine Studie, die in der Tat etwas Neues bietet. Die Autoren Hans-Joachim Schwarz und Renate Schwarz greifen ein Thema auf, das in der bisherigen Mendelssohn-Forschung auf erstaunlich wenig Interesse stieß: eine Krankheit, die Mendelssohn Anfang der 1770er-Jahre ereilte und unter der er bis an sein Lebensende nachweislich litt. Den meisten Forschern nötigte sie höchstens einige Zeilen im Kontext eines Bekehrungsversuchs ab.

1769 widmete der Zürcher Theologe Johann Caspar Lavater Mendelssohn eine von ihm angefertigte Teilübersetzung einer christlichen Apologie. In dem öffentlichen Widmungsschreiben forderte er den jüdischen Philosophen dazu auf, die Schrift zu widerlegen oder – falls ihm das nicht gelingen solle – zum Christentum überzutreten. Als Jude konnte Mendelssohn in der Öffentlichkeit keine klaren Worte eines Gegenangriffs an Lavater richten, ohne die eigene bürgerliche Existenz zu gefährden. Seine aus der Zeit der langen öffentlichen Auseinandersetzung mit Lavater stammenden Briefe an Freunde und Vertraute bezeugen Ohnmachtsgefühle und Resignation vermischt mit Zorn und Enttäuschung.

Am 28. Februar 1771 erlitt Mendelssohn einen „psychischen und physischen ‚Zusammenbruch‘“ (S. 161). Das psychosomatische Leiden, zu deren Symptomen nächtliche Lähmungs- und Angstzustände gehörten, identifizierte der Erkrankte als eine „Nervenschwäche“. Ärztlich angeordnet wurde „die damals übliche heroische Therapie, die aus dem Dreigestirn von Aderlass, Abführ- und Brechmitteln bestand“ (S. 181).3 Die Behandlung machte aus ihm relativ schnell wieder einen Kaufmann, aber den Philosophen brachte sie – auch wenn Mendelssohn sich bereits in der zweiten Hälfte der 1770er-Jahre erneut gelehrten Arbeiten widmete – nie mehr zurück. Bis ans Lebensende beklagte er den seinem Empfinden nach dauerhaft beschädigten Gesundheitszustand und die verloren geglaubte intellektuelle Leichtigkeit bei den metaphysischen Studien.

Das gängige biographische Narrativ sieht den Krankheitsbefund des Jahres 1771 in einem kausalen Verhältnis zu der enormen Belastung in Folge der Auseinandersetzung mit Lavater. Diese Auffassung erweist sich im Lichte der Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung als falsch. In ihrer Studie zeichnen Hans-Joachim Schwarz und Renate Schwarz das Krankheitsgeschehen als multifaktoriell nach und analysieren persönlichkeits- und krankheitsrelevante Faktoren, unter welche sie auch soziale, kulturelle und politisch-gesellschaftliche Umstände subsumieren. Auf diese Weise stellen die Verfasser die bisherigen biographischen Erzählmuster in Frage.

Innerhalb der Rekonstruktion der Lebensphasen bis zum Ausbruch der Krankheit räumen die Autoren erwartungsgemäß der Kindheit – der Lebensphase Mendelssohns, zu der wenige gesicherte Erkenntnisse vorliegen – besonders viel Raum ein. Um den spärlichen Quellen ein verlässliches Wissen zu entreißen und damit der biographischen Wahrscheinlichkeit zur historischen Evidenz zu verhelfen, ziehen sie bei der Analyse allgemeine Quellen der jüdischen Sozialgeschichte heran. So werden die überlieferten Fakten aus Mendelssohns Vita anhand von Ausführungen zu den Rahmenbedingungen, unter denen das Leben eines Jungen in einer jüdischen Gemeinde um 1750 verlief, überprüft und um diese ergänzt. Gefragt wird nach denjenigen materiellen und geistigen Umständen einer jüdischen Existenz und Persönlichkeitsgenese im 18. Jahrhundert, die „ein erhöhtes Erkrankungsrisiko“ mit sich brachten (S. 50).

Den Krankheitsauslöser identifizieren die Autoren in einem Vorschlag der Aufnahme Mendelssohns in die Preußische Akademie der Wissenschaften. Anfang Februar 1771 wurde ihm mitgeteilt, dass er als ordentliches Mitglied der Philosophischen Klasse gewählt worden sei. Es bedurfte noch einer Bestätigung der Wahl durch den König. Drei Wochen später kam es zum Ausbruch der Krankheit. Nach einer gängigen Deutung soll der Philosoph, dessen Gesundheit zu diesem Zeitpunkt ohnehin durch die Auseinandersetzung mit Lavater untergraben war, vor vorweggenommener Enttäuschung im Falle einer Negativantwort zusammengebrochen sein. Die Verfasser plausibilisieren hingegen – mit nachvollziehbaren Argumenten – eine umgekehrte Interpretation: Nicht die Antizipation einer Absage, sondern die Angst vor einer Zusage habe die Krankheit ausgelöst (vgl. S. 353–357). Wäre die Wahl vom König bestätigt worden, wäre Mendelssohns Arbeitsbelastung aufgrund seiner „Doppelexistenz“ als Seidenhändler und Gelehrter noch höher geworden (S. 98). Den Konflikt der „unterschiedlichen Identitäten“ (ebd.), in dem der Brotberuf der Berufung zur gelehrten Tätigkeit gegenüberstand, konnte Mendelssohn bis dahin nur um den Preis einer körperlichen und psychischen Dauerbelastung bewältigen. Hinzu kommt es, dass der stotternde Mendelssohn als Akademie-Mitglied dazu verpflichtet gewesen wäre, öffentlich Wort zu ergreifen. Um jeden Preis mied er aber angstbedingt – so die These – öffentliche Auftritte.

Einer der interessantesten Aspekte der Studie liegt in der Hypothese, ein weiterer krankheitsrelevanter Faktor sei in Mendelssohns Verhältnis zu Kant zu identifizieren. Die Beziehung der beiden Philosophen, die von einer ähnlich schwachen körperlichen Konstitution waren, kennzeichnete sich durch eine gegenseitige Wertschätzung. Als Kant den Ruf auf die Königsberger Professur annahm, wurde es Mendelssohn den Autoren zufolge klar, wie unterschiedlich die Karriereaussichten eines christlich-preußischen Gelehrten und diejenigen eines wissenschaftlich ambitionierten jüdischen Kaufmanns waren: Kants aufsteigender Stern führte Mendelssohn die Unerfülltheit und Unerfüllbarkeit der eigenen Wünsche vor Augen. Darüber hinaus musste der jüdische Philosoph in der Konstellation mit dem Königsberger Kollegen hautnah einen Niedergang der Schulmetaphysik erleben, welcher sein ‚zweites Glaubensbekenntnis‘ galt. Sie sollte bereits zu Mendelssohns Lebzeiten von Kants Transzendentalparadigma abgelöst worden sein.

Einen weiteren krankheitsrelevanten Faktor machen die Verfasser in Mendelssohns medizinischem Vorwissen aus. Seine Selbstdiagnose einer „Nervenschwäche“ weist darauf hin, dass er die eigene Krankheit entsprechend einem zeitgenössischen, unter dem Namen „Krankheit der Gelehrten“ bekannten Krankheitsbild deutete. Es handelte sich um ein Leiden, das als Folge einer übermäßigen intellektuellen Anstrengung vor allem bei Nacht beschrieben und unter anderem mit den Symptomen Niedergeschlagenheit, Schlafstörung und Gedächtnisverluste spezifiziert wurde. Die Verfasser legen nahe, dass Mendelssohns Annahme auf die Lektüre einer zeitgenössischen medizinischen Darstellung des Schweizer Arztes Samuel Tissot zurückging. Tissot zeichnete in seiner Studie „Von der Gesundheit der Gelehrten“ (1768) das düstere Bild einer Krankheit nach, die mit dem Tod in Folge eines Schlaganfalls ende. Nach der Lektüre dieser Schilderung muss sich Mendelssohn todgeweiht geglaubt haben, was nicht ohne Einfluss auf sein Erleben der Krankheit und in dessen Konsequenz auf ihren Verlauf bleiben durfte.

Die Darstellung von Hans-Joachim Schwarz und Renate Schwarz mündet in einer Diagnose aus der Perspektive der heutigen Medizin, die mit der gegenstandsgerechten methodologischen Sensibilität und in vollem Bewusstsein der Fragwürdigkeit retrospektiver Diagnostik vorgetragen wird (vgl. S. 379). Jenseits von reinem Psychologismus und bloßer Sensationslust gipfelt in diesem vorsichtigen Versuch einer Diagnose eine breit angelegte, detaillierte Darlegung eines historischen Krankheitsfalls. Sie lässt bekannte Quellen in einem neuen Licht erscheinen und eröffnet damit bis jetzt ungenutzte hermeneutische Perspektiven. Es bleibt also zu fragen: Gibt es nach dieser Mendelssohn-Studie noch etwas zu entdecken?

Anmerkungen:
1 Alexander Altmann, Moses Mendelssohn. A Biographical Study, Philadelphia 1973.
2 Dominique Bourel, Moses Mendelssohn. Begründer des modernen Judentums, Zürich 2007 (franz. 2004); Shmuel Feiner, Moses Mendelssohn. Ein jüdischer Denker in der Zeit der Aufklärung, Göttingen 2009 (hebr. 2005).
3 Zitat nach Robert Jütte, Moses Mendelssohn und seine Ärzte, in: Marion Kaplan / Beate Meyer (Hrsg.), Jüdische Welten. Juden in Deutschland vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart (= Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden 27), Göttingen 2005, S. 157–176, hier S. 162.

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