Ch. Kanz u.a. (Hrsg.): Revisionen des Familienmodells

Cover
Titel
Zwischen Demontage und Sakralisierung. Revisionen des Familienmodells in der europäischen Moderne (1880–1945)


Herausgeber
Christine, Kanz; Krause, Frank
Erschienen
Anzahl Seiten
282 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Anna Leyrer, Departement Geschichte, Universität Basel

Es ist ein reizvoller und vielversprechender Titel, den der vorliegende literaturwissenschaftliche Sammelband trägt. Er ist hervorgegangen aus einer Konferenz am Institute of Germanic & Romance Studies der Universität London und enthält deutsche wie englische Beiträge.

Die zwölf Beiträge sind thematisch gegliedert in fünf Teile. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Fragen der Mutterschaft/Mütterlichkeit und des Matriarchats; das wird schon in den beiden Beiträgen des einführenden Teils – „Voraussetzungen und Hintergründe“ (I) – deutlich: Peter Davies’ Aufsatz arbeitet dort die Matriarchatsdebatte um 1900 als Schlüssel für die Frage nach dem Platz der Familie in der Moderne heraus und Christine Kanz legt eine innovative Lesart des „männlichen Gebärphantasmas“ vor. Der zweite Abschnitt ist mit „Maskulinität und Elterlichkeit“ (II) betitelt; die beiden so zusammengefassten, stark biographisch orientierten Aufsätze thematisieren Männer und Väter jedoch nur am Rande: Yahya Elsaghe referiert über Mutterrechtlichkeit bei Bertolt Brecht und Frank Krause stellt bis dato unpublizierte Quellen aus dem Nachlass des Schriftstellers Georg Kaiser vor. Während den Vätern also wenig Platz eingeräumt ist, zeichnet sich der dritte Teil, „Revisionen von Weiblichkeit“ (III), erneut durch einen Fokus auf die Mütter aus: Charlotte Woodford schreibt über Mütterlichkeit und reproduktive Selbstbestimmung, Godela Weiss-Sussex über außereheliche Mutterschaft. Beide arbeiten dabei die Nähe von eugenischen Argumentationen und Forderungen nach weiblicher, reproduktiver Selbstbestimmung heraus. Zudem untersucht Sigrid Bauschinger Frauenfiguren im jüdischen Familienroman.

Der vierte Teil des Bandes fokussiert „Dysfunktionale Paarbeziehungen“ (IV). Hier beschreibt Elza Adamowicz, wie Geschlechterbeziehungen in der Weimarer Republik von dadaistischer Kunst herausgefordert wurden. Sophie Wennerscheid liest skandinavische Familiendramen hinsichtlich der Deformation der Familie und stellt dabei einen Legitimitätsverlust des Familienvaters fest: Eine „Krise paternaler Männlichkeit“ (S. 197), die die von ihr untersuchten Dramen zeigen, breche die familiäre Ordnung auf. Veränderungen in den Familien- bzw. Geschlechterkonstellationen an der Jahrhundertwende geht auch Karl Leydecker nach, der literarische Darstellungen von Scheidungen untersucht. Die Lockerung rechtlicher Rahmenbedingungen und die gesellschaftliche Enttabuisierung von Scheidung deutet er weder als feministischen Befreiungsschlag noch als das Ende eines romantischen Liebesnarrativs: Stattdessen sieht er die grundlegende Verschiebung um 1900 darin, dass Scheidung weniger als individuelles Schicksal denn zunehmend im Kontext von Familienökonomien und Besitzverhältnissen gesehen und geschrieben wird. Der letzte Teil des Bandes schließlich verlässt das zuvor etablierte Terrain der Geschlechterbeziehungen und befasst sich mit „Familie und Regionalität“ (V): Jasmin Grande setzt sich hier mit dem Strukturmodell der ‚Heiligen Families‘ (nach Albrecht Koschorke) auseinander, wobei der „regionale“ Aspekt des Aufsatzes, ein Fokus auf das Rheinland, etwas bemüht wirkt. Andreas Kramer beschäftigt sich mit der topographischen Dimension von Familienromanen.

Methodisch wird in der Einleitung Abstand genommen von „vorschnellen Gleichsetzungen von Literatur und Wirklichkeit“ (S. 7 f.), wenngleich sich mit der These vom Verfall der Familie auch die „Frage nach dem historischen Realitätsgehalt“ (S. 7) stelle. Es soll daher nach „kulturellen Energien“ (S. 8) gefragt werden, die literarische Texte produzieren bzw. von literarischen Texten produziert werden. Die Vermittlung einer Analyse des literarischen Texts mit jenen kulturellen Energien wird dabei allerdings eher als eine Schwerpunktwahl umgesetzt: Tendenziell stehen in den deutschsprachigen Beiträgen einige wenige literarische Texte und deren Analyse im Vordergrund, während für die englischen Aufsätze kulturgeschichtliche Darstellungen ins Zentrum rücken, die mittels literarischer Texte fundiert oder illustriert werden. So zeichnet beispielsweise Peter Davies die Matriarchatsdebatte an der Jahrhundertwende in den zeitgenössischen Wissenschaften und Gesellschaftstheorien sowie in feministischen Diskursen nach und spannt so einen Deutungsrahmen für die in diesem Zeitraum entstandene Literatur auf. Umgekehrt legt etwa Yahya Elsaghe eine gründliche und detaillierte Analyse von Bertolt Brechts lyrischer Autobiographik vor, deren Stilisierung zwischen vater- und mutterrechtlichen Linien sie zeigen will.

Für die einleitend angekündigten Einblicke in die „differente Komplexität“ (S. 19) familiärer Konstellationen an der Jahrhundertwende sind einzelne Beiträge besonders hervorzuheben: Christine Kanz liest männliche Schwangerschaft, um 1900 in Kunst und Philosophie sehr präsent, nicht einfach als Metapher für männliche Kunstschöpfung und Kreativität, sondern mit einem neuen Denken von Materie, von Stoff- und Körperlichkeit verknüpft. Ähnlich geht Godela Weiss-Sussex vor, wenn sie die Figur der ledigen Mutter über die literarischen Darstellungen von Mutterschaft und Mütterlichkeit hinaus in moralischen Diskursen und in genetischen und eugenischen Argumentationen verfolgt. Überzeugend ist auch die kulturtheoretisch fundierte Analyse Andreas Kramers, der eine Auswahl von Regionalliteratur der Weimarer Republik auf die räumliche Projektion von Familie hin liest.

Letztlich erweist sich allerdings der Titel „Familie“ als ein wenig irreführend, da der Band lediglich spezifische Teilaspekte von Familie thematisiert: Einleitend heißt es, die zu untersuchenden „für die Moderne zentralen Foki auf Familie“ seien „Auseinandersetzung zwischen Maskulinität und Matriarchat, Familie und die Frage der biologischen Reproduktion (und der Verfügungsgewalt darüber), Matrilinearität und Paarbeziehungen, Stufen der Zivilisation und deren regionale Codierungen für den Zusammenhang Familie und Moderne“ (S. 13). Die titelgebenden „Revisionen“ von Familie gehen von einer Veränderung von „Familienstrukturen“ aus, die sich, so die These, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von „paternal[en] zu maternal[en]“ wandeln (S. 10). So schließt der Band auch an die 2009 erschienene Monographie „Maternale Moderne“ der Herausgeberin Christine Kanz an.

„Familie“ wird also primär über Elterlichkeit, Geschlechterbeziehungen und Paarkonstellationen untersucht. Als Referenzwerke werden dementsprechend die beiden geschlechterhistorischen Publikationen von Anne-Charlott Trepp und Rebekka Habermas genannt1. Wo sind aber die Söhne und Töchter, die Geschwister, Tanten, Schwäger/innen und Großeltern? Insofern der Band antritt, die Erzählung vom „Verfall“ der Familie (S. 7) zu hinterfragen, wäre eine umfassendere Reflexion der Kategorie „Familie“ am Platz gewesen. Dabei hätte man zurückgreifen können etwa auf sozialanthropologisch inspirierte Ansätze historischer Familien- und Verwandtschaftsforschung, die hier mit dem Stichwort „New Kinship Studies“ aufgerufen werden sollen, oder auf ähnliche familiensoziologische Entwicklungen2. Hinter das Versprechen des Titels fällt der Band daher zurück.

Zwei kleinere Formalia sind noch zu bemängeln: Zum einen gibt der Buchdeckel den Zeitraum mit 1890 bis 1945 an, während im Buch durchgängig von 1880 bis 1945 die Rede ist. Und zum anderen wäre eine Übersicht über die Autoren und Autorinnen mit biographischen und weiterführenden Informationen wünschenswert gewesen.

Anmerkungen:
1 Anne-Charlott Trepp, Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1770 und 1840, Göttingen 1996; Rebekka Habermas, Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750–1850), Göttingen 2000.
2 Janet Carsten (Hrsg.), Cultures of relatedness. New approaches to the study of kinship, Cambridge/New York 2000; Sarah Franklin / Susan McKinnon (Hrsg.), Relative values. Reconfiguring kinship studies, Durham 2001; Christopher H. Johnson / David Warren Sabean (Hrsg.), Sibling relations and the transformations of European kinship, 1300–1900, New York 2011; David Warren Sabean / Simon Teuscher / Jon Mathieu (Hrsg.), Kinship in Europe. Approaches to long-term developments (1300–1900), New York 2007; Carol Smart, Personal life. New directions in sociological thinking, Cambridge 2012.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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