L. Elenius u.a. (Hrsg.): The Barents Region

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Titel
The Barents Region. A Transnational History of Subarctic Northern Europe


Herausgeber
Elenius, Lars; Tjelmeland, Hallvard; Lähteenmäki, Maria; Golubev, Alexey
Erschienen
Oslo 2015: Pax
Anzahl Seiten
518 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anna Derksen, Münster

Die Barentsregion (Barents Euro-Arctic Region – BEAR) ist eine junge und politisch einzigartige Region, die nach dem Ende des Kalten Krieges dazu dienen sollte, die internationale Zusammenarbeit und Integration im Gebiet der Barentssee sowie ihrer Anrainerstaaten Russland, Schweden, Finnland und Norwegen zu befördern. Sie umfasst 13 Subregionen in den nördlichen Landesteilen ihrer Mitgliedsstaaten mit mehr als fünf Millionen Einwohnern unterschiedlichster Nationalitäten und Ethnien, darunter die indigenen Völker der Sami, Nenzen und Wepsen. Ihre Institutionalisierung erfolgte 1993 mit der Unterzeichnung der Kirkenes-Erklärung, als kultureller Begegnungsraum kann die Barentsregion jedoch auf eine weitaus längere Geschichte zurückblicken. Die subregionalen Verflechtungen, die sich seit dem Mittelalter nachweisen lassen, sind vielfältig: Handelsbeziehungen, religiöser und kultureller Austausch, aber auch politische Ambitionen und kriegerische Auseinandersetzungen haben das Gebiet an der Nordpolarküste geprägt. Bis ins 20. Jahrhundert hinein stand es dabei meist außerhalb der zentralen politischen Steuerungsprozesse, so dass sich über die Jahrhunderte ganz eigene regionale Strukturen entwickelten.

Der Geschichte dieser Region folgt der von Lars Elenius herausgegebene Band „The Barents Region. A Transnational History of Subarctic Northern Europe“, der Beiträge von 27 internationalen Autoren versammelt. Anlässlich des zwanzigjährigen Jubiläums der Barentsregion im Jahr 2013 soll das Projekt erstmalig aufzeigen, inwiefern es gelungen war, ein länderübergreifendes, zukunftsfähiges Kooperationsnetzwerk mit eigener Identität zu generieren, das sich auch auf historische Kontinuitäten stützen kann. Ein weiterer Vorsatz war die stärkere Zusammenarbeit der Universitäten in der Nordpolarregion. Entsprechend richtet sich der Sammelband vorrangig an Studenten der Geschichte, Politik- und Sozialwissenschaften, aber auch an alle weiteren an nordischer Geschichte Interessierten.

Elenius, Historiker an der Universität Umeå, hat sich der Herausforderung eines solchen Sammelbandes souverän gestellt und ein umfassendes, facettenreiches und qualitativ überzeugendes Werk herausgebracht, das trotz der Menge an Autoren in Inhalt und Form einem einheitlichen Duktus folgt. Anhand von sieben historischen Wendepunkten, die gleichsam die einzelnen Kapitel markieren, wird die Geschichte der Barentsregion und ihrer Bewohner detailliert und unter Einbeziehung aller beteiligten Länder sowie verschiedener Bereiche wie Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Religion und Ethnien nachgezeichnet, ohne jedoch ins Repetitive oder Fragmentarische zu verfallen. 22 Faktenboxen mit Zusatzinformationen zu Personen, Ereignissen und Phänomenen, anschauliches Bild- und Kartenmaterial sowie ein Personen- und Ortsnamenindex ergänzen das Werk, zudem finden sich zu jedem Kapitel umfangreiche Literatur- und Quellenangaben. Die Herausbildung einzelner ethnischer Gruppen ab dem 9. Jahrhundert markiert den Ausgangspunkt der Untersuchung, ihren Schwerpunkt hat sie jedoch im 19. und 20. Jahrhundert, dem Beginn des Modernisierungs- und Nationsbildungsprozesses. Zwei zentrale Problemstellungen, die die Autoren zu Beginn des Bandes identifizieren, sind einerseits verschiedene Ansichten zu der spezifischen Charakteristik der Barentsregion als regionale Einheit, andererseits die Frage, ob die Barentsregion als kolonialisiertes Gebiet zu verstehen ist. Auch heute, in einer Zeit neuer Spannungen zwischen Ost und West, sind die inneren Widersprüche der Barentsregion offenkundig: Obschon an der europäischen Peripherie gelegen, steht sie mit ihren wirtschaftlichen Ressourcen und ihrer strategischen Lage im Zentrum der politischen wie wirtschaftlichen Aufmerksamkeit. Ihrer vergleichsweise dünnen Besiedlung zum Trotz ist sie ein kulturelles Sammelbecken indigener Völker, der Lokalbevölkerung sowie regionaler und internationaler Zuwanderer, und sie ist geprägt von vielfältigen, teilweise divergierenden politischen und sozialen Zielsetzungen. Welcher Art die regionale Identität der Barentsregion zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor dem Hintergrund ihrer 1.200-jährigen Geschichte tatsächlich ist, stellt daher die vorherrschende Leitfrage dar.

Die Barentsregion als gemeinsames Gebiet heterogener und politisch unabhängiger ethnischer Gruppen ist das verbindende Element der einzelnen Kapitel. Die Integration dieser Gruppen in politische und wirtschaftliche Netzwerke verorten die Autoren bereits im ersten Abschnitt, der sich mit den Anfängen staatlicher Formation zwischen 800 und 1550 beschäftigt. Sie identifizieren unterschiedliche Strategien der indigenen Gruppen und lokalen sowie staatlichen Eliten, im Gebiet der Barentssee zu interagieren und sich gegenseitig zu dominieren. Insbesondere der Aufbau einer wirtschaftlichen Infrastruktur, die Schaffung säkularer, administrativer und gerichtlicher Strukturen und die Ausdehnung der Kirchenadministration in den hohen Norden werden für diesen Zeitraum als charakteristisch benannt.

Ein verstärkter Ausbau diese Netzwerke fand zwischen 1550 und 1809 statt und ist Gegenstand des zweiten Abschnitts. Nicht mehr lokale Kontakte, sondern der intensivierte Konflikt zwischen den Anrainermächten Dänemark, Schweden und Russland über die Dominanz der Nordpolarküste steht hier im Fokus, der sich Anfang des 18. Jahrhunderts im Großen Nordischen Krieg entlud. Die Verflechtungen zwischen den politischen Ambitionen der angrenzenden Staaten und dem Ausbau von Handel, Industrie und einer veränderten Bevölkerungsstruktur werden anschaulich und nachvollziehbar skizziert.

Der dritte Abschnitt des Sammelbandes hebt ausgehend von den Napoleonischen Kriegen ab 1809 eine weitere gemeinsame historische Entwicklung der Barentsregion hervor: In allen vier Ländern führte eine protektionistische Verteidigungspolitik zu einem verstärkten Nationalismus mit klar definierten staatlichen Grenzen und kulturnationalistischen Idealen, andererseits aber auch zu neuen kulturellen Strömungen wie der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie, einem Bildungsanspruch, der auch die indigenen Gruppen umfasste, religiösem Pietismus und einem neuen Dialog um Rechte, Identität und Staatsbürgerschaft. „All these movements questioned the traditional social hierarchy with four leading estates, a questioning that was accentuated at the turn of the century. In this regard the main lines of development seemed to be surprisingly similar among the different countries and regions of the present-day Barents Region“ (S. 234).

Das zwanzigste Jahrhundert ist Gegenstand des vierten bis siebten Abschnitts. Mit der nationalen Unabhängigkeit Finnlands und Norwegens zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehen die Autoren eine neue Dimension in der politischen Bedeutung der Barentsregion erreicht, die sich durch die Konfrontation der angrenzenden Staaten im Zweiten Weltkrieg sowie der Militarisierung und den antagonistischen Ideologien während des Kalten Kriegs, dessen Fronten zwischen der Sowjetunion, dem NATO-Staat Norwegen und den neutralen Staaten Schweden und Finnland mitten durch die Region verliefen, noch verstärkte. Mit dem Aufbau der Nordischen Passunion ab 1952 und dem Nordkalottenprojekt der 1960er-Jahre, welches die gemeinsame Modernisierung von Norwegen, Schweden und Finnland unter Federführung der Sozialdemokratie befördern sollte, wurden erste Schritte zu einer internen Integration gemacht. Die Autoren erklären diese Entwicklungen mit der starken Rolle der staatlichen Administrationen nicht nur in Bezug auf politische Zielsetzungen, sondern auch in der Erschließung neuer Industrie- und Berufszweige, der Umgestaltung des Arbeitsmarktes und der Stärkung regionaler Kultur durch Theater, Museen und Wissenszentren. Erst diese umfassenden Bemühungen um die Verbesserung des Lebensstandards, so das Fazit, konnten die Barentsregion nach dem Ende des Kalten Krieges als eine Friedens- und Stabilisierungszone konstituieren. Als problematisch jedoch wird die asymmetrische Kooperation der NATO- und EU-Staaten mit Russland angesehen, das durch die wirtschaftliche Krise der 1990er-Jahre, einer weitgehend apolitischen Zivilgesellschaft und einer reaktionären politischen Rhetorik Annäherungen weiterhin erschwert.

In der Gesamtbetrachtung ist den Autoren eine profunde und überzeugende Darstellung der 1.200-jährigen Geschichte des Gebietes und der Menschen rund um die Barentssee gelungen, die vor allem lokale Netzwerke und gesellschaftliche Entwicklungen portraitiert. In diesen Bereichen sieht Elenius daher auch die aktuelle Bedeutung der Region: „The Barents Region is both a new and a novel political region with the aim of also being a functional one. It is definitely not an identity region. […] the Barents Region started with dispersed hunting groups and small groups connected to networks of farmers and traders. The local networks stull function, but now within the framework of a global market“ (S. 468ff.).

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