C. Domke: Die Betextung des öffentlichen Raumes

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Titel
Die Betextung des öffentlichen Raumes. Eine Studie zur Spezifik von Meso-Kommunikation am Beispiel von Bahnhöfen, Innenstädten und Flughäfen


Autor(en)
Domke, Christine
Reihe
Wissenschaft und Kunst 26
Erschienen
Anzahl Seiten
403 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Glasner, Abteilung für Mediävistische Germanistik, Universität Bonn

Mit der 402 Seiten starken Publikation der Habilitationsschrift von Christine Domke liegt in der Reihe „Wissenschaft und Kunst“ ein großzügig ausgestatteter Band zur „Betextung des öffentlichen Raumes“ vor. Dass die ansprechend opulente Ausstattung einer linguistischen Habilitationsschrift mit Bild- und Tabellenmaterial für den wissenschaftlichen Gegenstand der vorliegenden Studie unverzichtbar ist, geht bereits aus dem Paratextuellen von Buchtitel und -gestaltung hervor: Die vorgelegte Studie „zur Spezifik von Meso-Kommunikation am Beispiel von Bahnhöfen, Innenstädten und Flughäfen“ weckt nicht nur mit ihrem Untertitel, sondern darüber hinaus auch mit einer Ausschnittsaufnahme aus dem touristischen Schilderwald Interesse an dem so ausgestellten Fokus des wissenschaftlichen Gegenstandes: Was ist mit „Betextung des öffentlichen Raumes“ gemeint? Welche Spezifik wird deren wissenschaftlicher Beschreibung insbesondere an Verkehrsknotenpunkten und Stadtkernen abverlangt? Und schließlich: Inwiefern sind Formen öffentlicher Beschilderung als Gegenstände von (Meso-)Kommunikation analysierbar?

Auf die Stadt als Zeichenträger und damit auf ihre Relevanz als linguistischer, literatur- und kulturwissenschaftlicher Gegenstand verweist eine vielfältige Tradition der Auseinandersetzung mit diesem hypersignifikanten Raum. Als Wohn-, Wirtschafts- und Erinnerungsraum ist ihr seit jeher eine originäre Lesbarkeit zuerkannt worden, da die Stadt als komplexeste Form der Raumaneignung bereits in einem architektonisch-strukturellen Sinne Textcharakter hat. Vor diesem Hintergrund haben sich mit der Textualität des Urbanen antike und mittelalterliche Stadtbeschreibungen ebenso befasst wie moderne Stadtliteratur und -semiotik. Analog zum Textcharakter der Stadt ist vielfach von deren „observern“1 oder ‚Lesern’ gesprochen worden: So hat bereits Roland Barthes2 auf den nicht erst bei Victor Hugo zu findenden Gedanken verwiesen, die Fortbewegung im Stadtkörper als Schrift gleiche einer Lektüre derselben. Und nicht einzig so prominente literarische Flaneure wie Walter Benjamin („Das Passagen-Werk“) haben die Lesbarkeit der begehbaren Stadt als Lektüreerfahrung herausgestellt. Als wissenschaftlicher Gegenstand ist diese seit langem in den Fokus von Stadtplanung und Stadtgeschichte, Literaturwissenschaft und Semiologie gerückt und darüber hinaus nicht nur von Soziologie und Psychoanalyse bearbeitet worden, sondern vielmehr auch von sämtlichen Disziplinen, die sich etwa mit Gedächtnisorten oder Figuren kulturellen Erinnerns befassen. Die von Christine Domke vorgelegte Studie zur Betextung des Stadtraumes lässt aber jedwede Anknüpfung an derartige Beschäftigungen mit der Stadt als Zeichenträger vermissen. Sie setzt vielmehr bei Ortsbeschriftungen, Hinweisschildern, Inschriften, Straßen- und Platznamen sowie Leitsystemen für Alltagsbedürfnisse und Tourismus an, ohne diese von einer kulturellen Lesbarkeit innerhalb des Stadtkörpers zu unterscheiden. Dass deren kultursemiotischer Gehalt allerdings nicht von elementarer Lesefähigkeit vollends erschlossen werden kann, rückt bereits deren Hybridcharakter aus Schrift, Symbol oder Piktogramm vor Augen. Zudem sind etwa Straßennamen vielfach auch ein ebenso kontrovers diskutiertes Politikum, wie auch Piktogramme von Ampel- und Toilettenanlagen Debatten über eine politisch korrekte Darstellung der Geschlechter hervorrufen können. Die Deixis derartiger Informationsangebote im Stadtraum ist eben immer auch Ausdruck des gesellschaftlichen Systems und von dessen Historizität. Kein Geringerer als Victor Klemperer3 hat etwa das ideologisch Brisante von Straßennamen (in der NS-Zeit) beobachtet und damit die Straßenbeschilderung nicht nur als topographisches, sondern vielmehr als zeitspezifisches wie weltanschauliches Leitsystem erkannt. Damit sind die Stadt als Zeichenkörper und die ihr eingeschriebenen Verweisungssysteme topographischer wie kultureller Verortung per se interdisziplinäre Gegenstände von Kulturwissenschaft, Linguistik und Literaturwissenschaft. Vor diesem Hintergrund erscheint ein neuerlicher Nachweis der „Legitimität nicht-geographischer Disziplinen, sich mit dem Raum zu beschäftigen“ (S. 95), obsolet zu sein.

Sich im Stadtraum – als Berufstätiger, Tourist oder Flaneur zu bewegen – konfrontiert folglich mit ganz unterschiedlichen Lektüreangeboten und jedes von diesen – von der historischen Stadtanlage über ihren Namenschatz bis hin zu den Leitsystemen für Touristen und Warenströme – kann zurecht vielversprechende Forschungsperspektiven eröffnen. Christine Domke nimmt interessanterweise den Ausgangspunkt ihrer genuin linguistischen Perzeption des Stadtraumes darin, dass sie das „Verhältnis zwischen dem Gehenden […] und der nicht privaten, nicht künstlerischen, sondern institutionellen bzw. öffentlichen Kommunikation im öffentlich begehbaren Raum“ (S. 16) in den Fokus ihrer Arbeit rückt: „Das Hauptaugenmerk liegt auf der Untersuchung der medial-materialen Struktur sowie ausdrucksseitigen Spezifik und inhaltsseitigen Funktion von Schildern, Anzeigetafeln, Durchsagen und Wegweisern.“ (S. 16) Hierbei zielt die Analyse auf eine kategoriale Unterscheidung von Textsortengruppen bzw. Kommunikationsformen (wie Abfahrtstafel, Straßenname, Aushang oder Abreißer) einerseits und von je spezifischen Texthandlungen (wie z.B. Warnen, Hinweisen, Steuern, Informieren, Markieren etc.) andererseits.

Die klar strukturierte Arbeit ist gegliedert in fünf große Abschnitte: Die 49-seitige Einführung (I) umfasst Einleitendes zum Textcharakter des Urbanen (S. 15–24) sowie in analytische Perspektiven auf verbale Hinweise und akustische Durchsagen (S. 25–29), eine exemplarische Analyse (S. 29–42) und schließlich ein Kapitel zu Leitfragen, Struktur und Material der Arbeit (S. 43–49). Der sich anschließende Theorieteil (II) spannt einen äußerst breiten Horizont wissenschaftlicher Ansätze zu ‚Sprache im Raum’ (S. 54–79), soziologischem, kulturellem und humangeographischem Raum auf (S. 70–105), um zusammenführend den topographischen Ort/Raum von kommunikativen Räumen (S. 105–112) kategorial unterscheiden zu können. In einem dritten Theorieabschnitt werden analyserelevante Kommunikationsparameter wie ‚Teilnehmer’, ‚Medialität der Vermittlung’ und ‚Adressatenorientierung’ entfaltet (S. 113–157). Nach Analysen von ‚visuell/auditiv/taktil wahrnehmbaren, dauerhaften/temporär gespeicherten Kommunikationsformen’ dienen Überblickstabellen der Ergebnissicherung. Hierbei werden die ‚Texthandlungen’ nach den Kriterien Wahrnehmungsmodalität, Kommunikationsmedium/-vermittlung, -richtung und -partner, sozialem Status, semiotischen Ressourcen, Zeit-, Orts- und Raumgebundenheit sowie durch das Rezipientenprofil differenziert (vgl. S. 230, 245, 266, 279, 288, 299). Das vierte und letzte Unterkapitel des Theorieteils steht unter dem Gesichtspunkt der ‚Meso-Kommunikation’, ihrer Rezeptionsspezifik sowie ihrer Orts-, Raum- und Zeitbezogenheit (S. 159–175). Christine Domke versteht die „Kommunikationsform Anzeigetafel als Meso-Kommunikation“ (S. 41), da diese dem Reisenden ein Kommunikationsangebot und dadurch die Örtlichkeit Bahnhof zum nutzbaren Raum mache (ebd.). „Meso-Kommunikation“ wird hierbei „als bis dato übersehene Größe ‚zwischen’ Face-to-Face-Kommunikation und technisch vermittelter Massenkommunikation angeführt“ (S. 175). Als „meso-kommunikative“ Merkmale gelten die „Selektion der Adressaten (S. 178), die immer wieder betonte Ortsgebundenheit (S. 178), die spezifische ‚medial-materiale Geprägtheit‘ (S. 179) und schließlich der Aspekt „von asymmetrischen Konstellationen unter den Kommunikationsteilnehmern“ (ebd.).

Den Theorieteil beschließt ein Unterkapitel „Die öffentliche Textwelt als ein Typus von Meso-Kommunikation“, in dem sich deren „vier konstitutive Merkmale“ aufgelistet finden: 1. Kommunikationsteilnehmer (S. 178), 2. „Ortsgebundenheit von Kommunikationsformen (ebd.), 3. medial-materiale Geprägtheit (S. 179) und schließlich 4. „asymmetrische Konstellationen unter den Kommunikationsteilnehmern“ (ebd.). Der mit „III. Empirie“ überschriebene Arbeitsteil analysiert das Datenkorpus aus Fotos und Tonaufnahmen (dem Klappentext zufolge 2000 Fotografien und 30 Tonaufnahmen), unterschieden als (dauerhaft und temporär) „Sichtbares“, „Hörbares“, „Tastbares“ und „Hybride“. Entsprechend den im Theorieteil herausgearbeiteten Parametern öffentlicher Kommunikation werden in einem siebten Abschnitt des Empirieteils Ortsgebundenheit, Teilnehmerspezifik und Kommunikationsmedialität enggeführt. Der Analyse von Wegweisern, Hinweisschildern und Reisedurchsagen ist ein Kapitel nachgeschoben, das Werbung als „(8.) Verführung im öffentlichen Raum“ (S. 321–330) thematisiert. Vor den diversen Anhängen und üblichen Verzeichnissen wird unter „IV. Abschluss“ (S. 333–340) der Forschungsertrag gebündelt und mit einem Ausblick auf anschlussfähige Forschungsfragestellungen und -felder verknüpft.

Wer ausgehend von breit aufgefächerten Begriffswelten von ‚Text’ und ‚Kommunikation’ erwartete, sprach- und zeichentheoretisch eingeführt zu werden in unterschiedliche mediale Möglichkeiten der Betextung des öffentlichen Raumes, muss sich bereits bei der exemplarischen Analyse einer Abfahrtstafel (IC 154, 14.08 Uhr, Gleis 11; S. 29–31) vielmehr unmittelbar darauf einstellen, diese Anzeigetafel des Osnabrücker Hauptbahnhofs als „eine Kommunikationsform“ (S. 30), eine „Textsorte“ (ebd.) und darüber hinaus als eine „kommunikative Praktik“ (ebd.) vorgestellt zu bekommen. Das Fallbeispiel dient zwar auch der Hinführung zu leitenden Untersuchungsfragen (nach konstitutiven Merkmalen, ihren Funktionen und der semiotisch wie medial-materialen Bedingtheit der öffentlichen Textwelt) sowie zur Darlegung des Aufbaus und Materials der Arbeit (S. 43–49). Eine zeichentheoretische bzw. (kultur-)semiotische Abgrenzung der Ausdrucksformen Hinweisschild, Straßenname oder Streetart findet sich jedoch nicht. Während die Ausklammerung nicht institutioneller Betextung des öffentlichen Raumes plausibel gemacht werden kann, ist die unsystematische Herausarbeitung der konstitutiven Unterschiede von Abfahrtstafeln und etwa Straßennamen umso erstaunlicher, da nicht nur deren Nebeneinander im Stadtbild durch Fotos des zugrunde gelegten Korpus dokumentiert wird, sondern sogar eigens auch auf andersartige Betextungskonzepte wie etwa auf Gunter Demnigs Stolpersteine in Erinnerung an Holocaustopfer (vgl. S. 211f.) eingegangen wird. Bei der vielfach wiederholten Ortsgebundenheit von Meso-Kommunikationsformen erstaunt in diesem Zusammenhang, kultursemiotische Unterschiede von Passantensteuerung und Figuren kulturellen Erinnerns nicht stärker herausgearbeitet zu haben (vgl. hierzu auch die raumbezogenen Aussagen sogar zu Friedhöfen auf S. 219f.). In diesem Zusammenhang zeigt das von Christine Domke angeführte Beispiel der Beschriftung des Hauses der Lübecker Schiffer-Gesellschaft (vgl. Abbildung 6.10, S. 219) einen Mangel an kulturtheoretischer Fundierung der Analyse, wenn traditionsreiche Namen wie dieser „als Teil des kommunikativen Gedächtnisses“ (S. 218) ausgewiesen werden. Jan Assmann zufolge sind die Medien des kommunikativen Gedächtnisses4 aber gerade durch ihre Ungeformtheit und Alltagsbezogenheit charakterisiert, wohingegen ein Hausname wie derjenige der Schiffergesellschaft in Lübeck bereits typographisch seinen hohen Geformtheitsgrad als Medium des kulturellen Erinnerns ausstellt. In vergleichbar problematische Richtung weist die Fokussierung des Kriteriums der Ortsgebundenheit im ergebnissichernden „Abschluss“ der Arbeit: „Durch das Kriterium der Ortsgebundenheit konnten Kommunikationsformen wie Gottesdienste, Straßenschilder und Vorlesungen miteinander verglichen werden, die besondere medial-materiale Prägung der jeweiligen Kommunikation (durch Stuhlreihen, Mikrophone, Pulte, Metallschilder u.a.) und der Wahrnehmungsmöglichkeiten ihrer Beteiligten rückte so in den Fokus.“ (S. 336) Vom maximal Vagen eines solchen Auszuges der Ergebnissicherung einmal abgesehen, stellt das Nebeneinander von hochritualisierten sakralen wie profanen Kommunikationsformen einerseits und als Nomen proprium schwerlich auslotbaren Erinnerungsfiguren kollektiven Erinnerns (Straßenname) und Stolpersteinen andererseits ein Kernproblem der vorgelegten Studie aus: Die vielfach betonte Prägung von Kommunikation „durch eine spezifische Medialität“ (S. 127) oder die Ortsgebundenheit von Formen der Meso-Kommunikation mag aus „linguistischer, systemtheoretischer und soziokultureller“ (S. 45) Sicht vergleichbar sein, die Ausdrucksform und der Gehalt von Anzeigetafeln und Denkmälern, Verkehrsdurchsagen und Gottesdiensten sind es, ohne unterscheidende Berücksichtigung ihrer Ästhetik (Symbol oder Piktogramm? Schrift oder Bild?) und Typographie (handschriftliches Hinweisschild vs. Rathausplatz in Fraktur) – kultursemiotisch wie – soziologisch –, aber nicht. Wer sich nach der Lektüre von Christine Domkes „Betextung des öffentlichen Raumes“ wie die Verfasserin als ‚Gehender’ durch den Schilderwald unserer Städte bewegt, wird für die Vielfalt der Kommunikationsformen ein Auge haben und neuerlich darüber staunen, wie in deren Fülle Kommunikation gelingen kann.

Anmerkungen:
1 Vgl. Kevin Lynch, Image of the City, Cambridge 1960.
2 Roland Barthes, Das semiologische Abenteuer, Frankfurt am Main 1988, S. 206.
3 Victor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, Leipzig 1996, S. 105f.
4 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 2., durchges. Aufl., München 1997, S. 56.

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