S. Wölck: Komplexe Körper

Titel
Komplexe Körper: Con lai Mỹ. Identitätsverhandlungen, Fremdbilder und gesellschaftliche Positionierung von Besatzungskindern in Vietnam


Autor(en)
Wölck, Sascha
Erschienen
Anzahl Seiten
XVIII, 376 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Edda Heyken, Institut für Sozial- und Kulturanthropologie, Freie Universität Berlin Email:

In der vorliegenden Studie untersucht Sascha Wölck die Gruppe von Personen, die während der Präsenz US-amerikanischer Bodentruppen in Vietnam (1965–1973) aus Verbindungen von vietnamesischen Frauen und US-amerikanischen Soldaten hervorgingen. Als con lai Mỹ (wörtlich übersetzt: „Kind Mix Amerika“) weisen diese in Vietnam lebenden Personen einen leiblich eingeschriebenen Bezug zu dem geschlagenen Kriegsgegner USA auf, was vor allem nach Kriegsende in Vietnam dezidiert als Normverletzung wahrgenommen wurde und eine entsprechende Diskriminierung der Betroffenen zur Folge hatte.

Gleichwohl sie die wandelbaren Grenzen sozialnormativerer Systeme in Vietnam vielfältig markieren, blieben diese Zeitzeug/innen der vietnamesischen Nachkriegsgesellschaft weitestgehend unbeachtet. Eine kurzweilige mediale und (sozial-)wissenschaftliche Aufmerksamkeit wurde ihnen Ende der 1980er-Jahre zuteil, nachdem die USA ein Programm zu ihrer „Heimholung“, den Amerasian Homecoming Act (AHA), ins Leben rief. Beinahe alle Angehörigen dieser Gruppe bewarben sich für die Ausreise in die USA, welche dem Großteil der Bewerber gestattet wurde (ca. 20.000 Personen). Die bisherige akademische Auseinandersetzung mit den con lai Mỹ nimmt fast exklusiv diesen Moment in den Fokus und stellt Vergleiche über die biographischen Verläufe vor und nach der Migration in die USA an. Der Argumentation des Autors zufolge ist diese wissenschaftliche Lücke einerseits der Dominanz amerikanischer Autoren in der Beschäftigung mit dem Vietnamkrieg, andererseits den formalen Bedingungen geschuldet, welche sozialwissenschaftlichen Forschungsvorhaben in Vietnam zugrunde liegen.

Die zentrale Forschungsfrage versucht die rasanten und tiefgreifenden Entwicklungen miteinzubeziehen, welche die vietnamesische Gesellschaft seit dem Friedensschluss 1975 durchlaufen haben: „In welchem Verhältnis stehen die Diskriminierung und die soziale Positionierung der con lai Mỹ zu den sich wechselnden sozialen und politischen Bedingungen in Vietnam?“ (S. 33)

Nach der Darstellung des Forschungsanliegens sowie des persönlichen Zugangs folgt im zweiten Kapitel eine detaillierte Vorstellung und Reflexion angewendeter Methoden. Mittels problemzentrierter Interviews wurde eine solide Datengrundlage geschaffen, um sich den Fragen nach Erfahrungen von Diskriminierung, persönlicher Stigmatisierung sowie Konfrontationsstrategien mit diesen und einer Wandlung der Zuschreibungen im Kontext historischer und politischer Ereignisse anzunähern. Trotz struktureller Hindernisse gelang es Wölck über Vertrauenspersonen Zutritt zu dieser Community zu erhalten und den Alltag einiger con lai Mỹ in Danang und Ho-Chi-Minh-Stadt während seiner zweijährigen Datenerhebung begleiten zu dürfen. Untermauert durch (Archiv-)Recherchen sowie geschichtspolitische und sozialgesellschaftliche Kontextualisierungen, ergänzt diese Dissertationsschrift die Forschungslandschaft um einen fundierten Einblick in das Leben der con lai Mỹ, welche sich als jüngere Geschichte einer Facette sozialer Peripherie Vietnams lesen lässt.

Das dritte Kapitel enthält einen Exkurs in die französische Kolonialvergangenheit Vietnams sowie den amerikanischen Vietnamkrieg und zeichnet die Genese moderner rassistischer Ordnungen in der vietnamesischen Gesellschaft nach. Die Reproduktion dieser Strukturen wird über Begegnungen und Motivationen von Vietnamesinnen erläutert, eine Verbindung mit Weißen oder Schwarzen US-Soldaten einzugehen, was mit unterschiedlichen Pull-Faktoren in urbanen Gebieten und sozialen bzw. finanziellen Konditionen einherging. Entlang von Beziehungen, Ehen, Prostitution, Romanzen oder Vergewaltigungen werden die Umstände skizziert, in welche die con lai Mỹ hineingeboren wurden. Die Wiedervereinigung Vietnams unter kommunistischer Regierung 1975 leitete eine soziale Neupositionierung der Besatzungskinder in der Postkriegsgesellschaft ein.

Das vierte Kapitel – das Herzstück des vorliegenden Werks – skizziert die Lebenswege von acht con lai Mỹ. Die individuelle Annäherung war durch teilweise langjährige Erfahrung von Diskriminierung erschwert, was der Autor durch einen sensiblen und respektvollen Umgang mit der Thematik honoriert. Die teilweise langatmigen Situationsbeschreibungen lesen sich unter diesem Aspekt auch weniger als informative Kontextualisierung, sondern als emotionale Annäherung an seine Gegenüber.

Neben den Biographien seiner Interviewpartner, dessen Struktur und Gliederung Wölck beibehält, werden gesellschaftliche und politische Ereignisse vorgestellt, die für das historische/soziale Kollektiv der con lai Mỹ von Bedeutung waren. Dabei handelt es sich um den AHA, um staatliche Formen der Repression und Ausschlussmechanismen, etwa zu höherer Bildung. Einen weitaus direkteren Eingriff in die individuellen Biographien stellten die gesellschaftlichen Diskriminierungen im Alltag dar, wie viele Beispiele demonstrieren. Aufgrund ihrer körperlichen Stigmatisierung als con lai Mỹ waren ihre Möglichkeiten der sozialen Mobilität limitiert; nach Erfahrungen von Armut, Gewalt und Diskriminierung zogen sich viele Betroffene mit einem zerstörten Selbstwertgefühl in die soziale Isolation zurück und schafften es nur in wenigen Fällen, ihre Situation am Existenzminimum zu überwinden.

Als ein zentraler Auslöser der Diskriminierung erwies sich die Abwesenheit der Väter, die bei den befragten Interviewpartnern mehrheitlich unbekannt sind. Hier hält die Diskriminierung das Paradox aus, einerseits die con lai Mỹ über die Väter zu identifizieren und andererseits die Abwesenheit der Väter als sozialen Normbruch zu rezipieren. Die rassistische Erkennung platziert Wölck dominant in eine Interdependenz zu patrilinearen Strukturen.

Eindrücklich wird gezeigt, dass Schwarze deutlich stärker mit Diskriminierung und sozialem Ausschluss als Weiße con lai Mỹ konfrontiert wurden und zum Teil noch werden. Ihre phänotypische Stigmatisierung wird gesellschaftlich offensichtlicher wahrgenommen und gleichzeitig dezidierter sanktioniert. Während vielen seiner als Weiß markierten Interviewpartner über „visuelle Erkennung ein Passing“ (S. 294) gelang, stellte dies für die Schwarzen con lai Mỹ keine Strategie dar.

Im fünften Kapitel folgen Analysen des Materials unter sozial- und kulturwissenschaftlichen Gesichtspunkten nach theoretischen Ansätzen von Stuart Hall, Ervin Goffman und Slavoj Žižek.

Kontinuitäten kolonialer rassistischer Erkennung zeigt Wölck entlang andauernder stereotyper Zuschreibungen. Die Diskriminierung und der Rassismus beinhalten jedoch nicht nur eine soziale Abwertung, wie die Zäsur durch die Einführung des AHA deutlich herausstellt: folglich verband die Mehrheitsgesellschaft eine Identifikation der con lai Mỹ mit den USA mit unermesslichem Reichtum sowie für tatsächliche und vermeintliche Angehörige der Möglichkeit, mit in die USA auszuwandern. Exemplarisch werden Situationen von Dokumentenfälschung, angebotenen Adoptionen sowie Eheschließungen angeführt, um eine individuelle Verbesserung der Lebenssituation über die Beziehung zu einem con lai Mỹ zu erreichen.

Die kulturwissenschaftlichen Kategorien von race, class, gender ergänzt der Autor um den Konfuzianismus. Gerade letzterer, der einen mindernden aber auch potenzierenden Effekt aufweisen konnte, zeigt sich in seiner Wirkungsmacht vergleichbar stark wie rassistische Strukturen. Anschaulich wird herausgearbeitet, dass die Abwesenheit der väterlichen Linie mit einer identitätsstiftenden und abschätzigen Implikation einhergeht. Das Individuum wird aufgrund einer unbekannten Ahnenreihe von der vietnamesischen Dominanzgesellschaft distanziert, die Abwesenheit des biologischen Vaters verstärkt die Vulnerabilität in der patriarchal geprägten Gesellschaftsform Vietnams.

Die Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichen Dynamiken und der Positionierung der con lai Mỹ werden bei der Betrachtung der biographischen Lebenslinien anhand des Stigmamanagements nach Goffman analysiert. Hier eröffnet Wölck eine bedeutende Perspektive und zeigt die veränderte soziale Positionierung sowie daran anschließende, neue Handlungsoptionen der Interviewpartner und ihrer Angehörigen. Formen des Empowerments, individuelle emotionale Selbstmanipulation sowie eine Umdeutung oder Relativierung des Stigmas werden unter den Gesichtspunkten einer Strategie des Selbstschutzes sowie einer Reproduktion der gesellschaftlichen Erwartungshaltung diskutiert.

Sascha Wölck resümiert, dass die soziale Positionierung der con lai Mỹ auf individueller wie auch kollektiver Ebene unterschiedlichen Dynamiken unterworfen war, die in Wechsel- oder Abhängigkeit zu größeren historischen, politischen und sozialgesellschaftlichen Ereignissen zu suchen sind. Er stellt schlüssig dar, wie zügig die Veränderung gesellschaftlicher Dispositive von politischer Macht in die Mikroebene sozialer Akteure einwirkte und rassistische und diskriminierende Diskurse um con lai Mỹ beeinflusste. Gleichzeitig wandelte sich die vietnamesische Gesellschaft, deren Bild der con lai Mỹ sich von einem Feindbild zu einer Chance auf Wohlstand änderte und deren Interesse an dieser Gruppe mit ihrer im Zuge der Ausreisewelle gesunkenen Sichtbarkeit im öffentlichen Raum schwand.

Trotz einer Vielzahl implementierter theoretischer Ansätze liegt der Schwerpunkt der Publikation in der Darstellung seines Materials bzw. den Biographien seiner Gesprächspartner. Die Einblicke in die vielfältigen Möglichkeiten der Kontextualisierung, Interpretation gesellschaftlicher Bedingungen und ihrer Dynamiken zeichnet die Qualität der vorgelegten Publikation aus. Als solche besteht ihr Wert nicht zuletzt darin, vielleicht auch der erste Versuch zu sein, die Interdependenzen sozialer Kategorien von Rassismus und Konfuzianismus in Vietnam zu untersuchen.

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