W. Rauscher: Das Scheitern Mitteleuropas

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Titel
Das Scheitern Mitteleuropas. 1918–1939


Autor(en)
Rauscher, Walter
Erschienen
Anzahl Seiten
206 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rainer Leitner, Historiker, Graz

Unter dem Begriff Mittel- oder Zentraleuropa sind ursprünglich einmal die Monarchien Österreich-Ungarn und Deutschland verstanden worden. Darüber hinaus darf, je nachdem, welcher Zusammenhang den Rahmen bildet, spekuliert werden: Sind die Nachfolgestaaten der Donaumonarchie gemeint, bedeutet der Begriff das Heilige Römische Reich, zählt Elsass-Lothringen dazu, wie verhält es sich mit der Schweiz et cetera?

Jedenfalls bedeutete das Jahr 1918 den Zusammenbruch der Kaiserreiche Österreich-Ungarn und Deutschland und die Umwandlung der einstigen Monarchien in Republiken. Auch das klein gewordene Österreich vollzog diesen Prozess, während die übrigen ehemaligen Gebiete der Monarchie sich in die sogenannten „Nachfolgestaaten“ verwandelten, die durchwegs durch Multiethnizität, Mehrsprachigkeit und Multikulturalität geprägt waren. Die Grundlage dafür bildeten die Verträge von Saint-Germain und Trianon, in denen – ebenso wie im Vertrag von Versailles – die Sieger den Besiegten ihre Bedingungen diktierten. Auf Wünsche und Bedürfnisse der Besiegten wurde nicht eingegangen, allerdings sahen die der Donaumonarchie nachfolgenden Staaten oftmals die Chance eines Neubeginns: Nicht zuletzt als Resultat von Aktivitäten aus dem Exil gelang die Gründung der Tschechoslowakei; Polen hatte im 18. Jahrhundert seine staatliche Souveränität eingebüßt und erlebte nun seine nationale Wiedergeburt; Ungarn erklärte den Thronverlust der Habsburger und proklamierte den eigenen Staat; das Königreich Kroatien und Slawonien löste sich von Ungarn und gemeinsam mit dem selbständig gewordenen Slowenien, das sich aus Teilen der ehemals habsburgischen Kronländer Steiermark und Krain zusammensetzte, entstand unter der Führung Serbiens das südslawische Königreich (SHS), das spätere Jugoslawien.

Am wenigsten Lust die bestehende Gemeinsamkeit zu lösen verspürten die Österreicher. Von den sich neu formierenden Staaten der ehemaligen Donaumonarchie vor vollendete Tatsachen gestellt, sah man daher in einem Anschluss an Deutschland eine sinnvolle Option, da man an einem ökonomischen Überleben des Kleinstaates zweifelte. Konservative Kreise hingegen hofften auf eine Restauration der Familie Habsburg, während die Siegermächte eine Vergrößerung Deutschlands unterbinden wollten und aus diesem Grund einen Anschluss Österreichs an die Weimarer Republik untersagten. So entstand vor diesem Hintergrund der Gedanke einer Donaukonföderation, um ein Gegengewicht zur Stärke und Größe Deutschlands zu schaffen. Deutschland jedoch litt am meisten unter der Tatsache, Kriegsverlierer zu sein, weniger am Wandel von der Monarchie zur Republik. Zu diesem Umstand hatte entscheidend das Sicherheitsbedürfnis der Siegerstaaten des Ersten Weltkrieges beigetragen, die alte Militärmacht Deutschlands mit ihrem hohen Prestige möglichst dauerhaft zu schwächen.

Die Auswirkungen der Friedensverträge waren jedoch für Österreich und Ungarn viel weitreichender und einschneidender als für Deutschland. Der als Rest neu entstandene Staat Österreich war zur Selbständigkeit verurteilt worden, auch in der Namenswahl hatte sich das Land zu beschränken: Statt dem ursprünglich gewünschten Deutsch-Österreich hieß der Staat nun einfach Republik Österreich. In der ersten Zeit nach der Abspaltung von Österreich hatte sich in Ungarn eine Räterepublik, die nach und nach zurückgedrängt werden konnte, konstituiert. Allerdings hatte Ungarn durch den Frieden von Trianon weitreichende Territorien an die Nachbarländer abgeben müssen. Dies unterstrich die Einwohnerzahl, die von 21,9 Millionen im Jahr 1910 auf 7,6 Millionen gesunken war. Politisch stellte das Land ein Kuriosum dar, nämlich ein Königreich ohne König, verwaltet vom Reichsverweser Miklos Horthy.

Das zuletzt noch von den Mittelmächten besiegte Rumänien konnte letztlich vom Ausgang des Krieges profitieren, da sich durch Trianon sein Staatsgebiet verdoppelt hatte. Ebenso wie im Königreich der Südslawen setzte sich die Bevölkerung aus unterschiedlichen Ethnien und Sprachgruppen zusammen. Gegenüber Österreich erwartete man sich seitens des SHS-Staates weitere Gebietsgewinne, während die italienischen Nationalisten Gebietszuwächse auf der Balkanhalbinsel erhofften – hatte man aus ihrer Sicht doch die Habsburgermonarchie ganz allein und unter gewaltigen Opfern besiegt. Nachdem die Alliierten nicht geneigt waren, diese weitergehenden Wünsche zu erfüllen, empörte sich die öffentliche Meinung Italiens derart, dass von einem „verlorenen Frieden“ gesprochen wurde und von einem „verstümmelten Sieg“ (S. 50). Dieser Mythos sollte in Hinkunft für Italiens radikale Rechte einen essentiellen Stellenwert einnehmen und stellte einen entscheidenden Umstand im Aufstieg Mussolinis an die Macht dar.

In diesem Kontext waren die Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns durch ihre mangelnde Stabilität zum Krisenfaktor geworden. Von den Siegermächten aber war Großbritannien primär mit der Übertragung des Empire in das Commonwealth of Nations beschäftigt und die USA hatten sich bezüglich der Friedenskonferenz vollständig vom Alten Kontinent verabschiedet. Die neu formierten Staaten verblieben somit in beinahe desaströsen Zuständen: Österreich konnte nur mit Mühe vor einem Staatsbankrott bewahrt werden, Deutschland pendelte zwischen Bürgerkrieg und Hyperinflation, Bayern entwickelte sich in dieser Phase zum Gegenpol des demokratischen Berlins, in welchem sich der Aufstieg des Faschismus langsam abzeichnete. Als nicht förderlich zu den Beziehungen Deutschland erwies sich nach einem bewaffneten Aufstand der Umstand, dass Polen weite Teile des schlesischen Industriegebietes erhalten hatte. Als demokratischer Ruhepol war lediglich die Tschechoslowakei zu bezeichnen.

Bei den Überlegungen zur Zukunft der Nachfolgestaaten der Donaumonarchie kam man grundsätzlich nicht vorwärts. Das Konzept der Donaukonföderation galt vor allem bei den Repräsentanten der Kleinen Entente als Unwort; vor diesem Hintergrund erwog man eine ganze Reihe von Konzepten und Überlegungen, die primär den Interessen jenes Landes, aus dem sie jeweils stammten, dienen sollten. Zudem schlitterte der wirtschaftlich ohnedies wenig stabile Zustand dieser Staaten durch die Weltwirtschaftskrise in eine Katastrophe. Diese Prämissen bildeten bei den Proponenten einer europäischen Integration die Basis jener Überlegungen, einen Völkerbund zu formieren und so den nationalen Gelüsten einen Gegenpol entgegen zu setzen. Durch die Auswirkungen der globalen Wirtschaftskrise war auch die Weimarer Republik in eine existentielle Krise geraten, in der die demokratische Gesellschaftsordnung diskreditiert wurde und in der die NSDAP ihren Aufstieg erlebte – dies mündete 1933 in die Kanzlerschaft Hitlers. Durch Deutschlands revisionistische Politik gegenüber der Tschechoslowakei erschwerte sich deren politische Lage, sodass man sich dort zusehends der Sowjetunion annäherte. Österreich hatte sich realpolitisch dem faschistischen Italien und dem autoritären Ungarn angenähert. Nach dem Bürgerkrieg 1934, in dem die Sozialdemokratie ausgeschaltet worden war, gelang es selbst nach der Ermordung des Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß durch Nationalsozialisten nicht, die weiterhin zunehmenden Eingriffe und Unterwanderungen des Staates durch die illegale NSDAP zu unterbinden.

Mit Ausnahme der Tschechoslowakei zeigte sich in den 1930er-Jahren Mitteleuropa als eine antidemokratische, antiwestliche und autoritäre Staatenwelt. Nachdem sich in Deutschland die Herrschaft des Nationalsozialismus konsolidiert hatte, begann man dort eine aggressive Außenpolitik zu betreiben. Auch Italien war an die Seite Hitlers gerückt. Zudem war es Deutschland gelungen, ein für die Einverleibung Österreichs günstiges Klima zu erzeugen. Die Annexion Österreichs fand schließlich im März 1938 statt, von einer solidarischen Hilfe anderer europäischer Staaten war nichts zu merken. Diese Vorgangsweise war freilich für die Tschechoslowakei ein schwerer Schlag, da sie an der von Nationalsozialisten geschürten Sudentenkrise schwer litt und selbst die Friedensbemühungen des britischen Premierministers Chamberlain die Errichtung des Protektorates Böhmen und Mähren durch NS-Deutschland nicht zu verhindern imstande waren. Nationale Enge und Grenzen konnte Mitteleuropa nicht überwinden, dazu kamen ein eklatanter Mangel an Solidarität miteinander sowie der Untergang jeglicher demokratischer Werte schlechthin. Der Weg in die totale Katastrophe des Zweiten Weltkriegs war geebnet, das Tor zur Hölle geöffnet.

Walter Rauscher legt mit seinem Werk eine kompakte, klar gegliederte Abhandlung der mitteleuropäischen Staatenwelt der Zwischenkriegszeit mit ihren mannigfaltigen Problemen, Eigenheiten und staatlichen Egoismen vor. Die Ausrichtung der Studie richtet sich wohl eher an Wissenschaftler oder ein fachkundiges Publikum, da zum Verständnis ein exaktes Vorwissen der historischen Zusammenhänge unerlässlich ist. Für eine kompetente Leserschaft ist das Buch als kompakter Überblick einer vielschichtigen Zeit bestens geeignet und darüber hinaus vermag es unzählige Anregungen zu vermitteln und wirkt als Stimulans, sich in Einzelaspekte (Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, Nationalismen, Antisemitismus) der Epoche zwischen den Weltkriegen zu vertiefen.

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