S. Hnilica: Der Glaube an das Grosse in der Architektur der Moderne

Cover
Titel
Der Glaube an das Grosse in der Architektur der Moderne. Grossstrukturen der 1960er und 1970er Jahre


Autor(en)
Hnilica, Sonja
Erschienen
Zürich 2018: Park Books
Anzahl Seiten
264 S., 96 Farb- und 178 SW-Abb.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Swenja Hoschek, Institut für Geschichte, Technische Universität Darmstadt

Die Großbauten der 1960er- und 1970er-Jahre werden kontrovers diskutiert. Gelten sie den einen als hässlich und inhuman, sehen die anderen darin bedeutende, erhaltenswerte Bauwerke ihrer Zeit. In den Debatten um Abriss, Sanierung und Denkmalschutz geht es dementsprechend gegensätzlich zu. Allerdings ist dies eine relativ neue Erscheinung. Wurden die Großbauten über Jahre vor allem als abweisend, als „Betonburgen“ und „Gebirge“ bezeichnet, gibt es nun in der Forschung wieder positivere bzw. offenere Bewertungen. In diese ordnet sich auch Sonja Hnilicas Arbeit ein. Die Autorin zeichnet in ihrer Publikation, die auf ihrer 2017 an der Technischen Universität Dortmund angenommenen Habilitationsschrift basiert, die „Ideengeschichte der Großstrukturen“ (S. 6) der „Boomjahre“ nach, um ein besseres Verständnis und damit einen anderen Umgang mit den Gebäuden zu ermöglichen.1

Hnilica plädiert dafür, dass die betrachteten Großbauten, die durch ihre Fläche mitunter die Größe ganzer Stadtteile erreichen, eine Chance auf Verbesserung und eine gleichzeitige Würdigung ihrer Grundintention verdient haben. Sie diskutiert einzelne Denkmalschutzauflagen und Sanierungsprojekte im Hinblick darauf, ob und wie die Gebäude verstanden wurden. Obwohl sie bei vielen Sanierungen ein mangelndes Geschichtsbewusstsein kritisiert, bilanziert die Autorin, dass bei vielen Projekten Umbau und Veränderung konzeptionell mitgedacht wurden, Dynamik gewollt war und dass gerade die Veränderbarkeit ein Potential der Großbauten der 1970er-Jahre ist, das zu selten genutzt werde.

Um diese These zu stützen, lautet das Ziel ihrer architekturhistorischen Arbeit, „das diskursive Feld der Großstrukturen darzustellen und systematisch zu reflektieren“ (S. 45). Dabei fragt Hnilica, welche Wertvorstellungen, sozialen Utopien und Konzepte hinter „Größe“ in der Architektur liegen. Dies dient der Neubewertung der Bauten, wurde das ihnen zugrundeliegende theoretische Konzept doch bislang kaum erforscht. Betrachtungsraum der Arbeit ist vor allem die Bundesrepublik Deutschland, doch werden zugleich viele internationale Bauwerke besprochen (auch über politische Systemgrenzen hinweg), da führende Architekt/innen der Zeit weltweit Projekte umsetzten, vernetzt waren und sich international inspirierten. Die Quellen reichen von europäischen (Fach-)Zeitschriften und Zeitungen bis zu Archivmaterialien. Durch den Fokus auf Fachzeitschriften wird auch abgebildet, welche Bauwerke in Westdeutschland Resonanz fanden. Auf Grundlage der in der Fachöffentlichkeit geführten Diskussionen wurden Bauwerke ausgewählt, anhand derer die zugrundeliegenden Theorien beispielreich nachvollzogen werden.

Die Arbeit gliedert sich in sieben Kapitel: Während Kapitel 1 als Einleitung einen kurzen geschichtlichen Abriss über Herrschaftsarchitektur, Sakralbauten und die Gratwanderung zwischen „großer Baukunst und Größenwahn“ (S. 25) sowie deren Bewertung vor dem „Zeitalter der Massen“ (S. 37) darstellt, widmen sich die Kapitel 2 und 3 jeweils gegensätzlichen Konzepten im Untersuchungszeitraum: multifunktionale (Kapitel 2) und monofunktionale (Kapitel 3) Großkomplexe. Aus dem Umgang mit den Problemen dieser beiden Großstrukturen leitet Hnilica dann drei theoretische Konzepte im 20. Jahrhundert ab: „Großform“ (Kapitel 4), „Bausysteme“ (Kapitel 5) und „Megastrukturen“ (Kapitel 6), deren Ideen und Realisierungen sie systematisch vorstellt. „Bilanz und Ausblick“ (Kapitel 7) sowie ein Anhang mit Indices runden das Buch ab.

Hinter den multifunktionalen Großkomplexen („Stadt in einem Haus“, Kapitel 2) stand die Idee, eine ganze Stadt oder einen Stadtteil mit allen Funktionen in einem Gebäude zusammenzufassen. Beginnend mit Le Corbusiers Wohnriegeln in Frankreich, von der Idee der vertikalen Stadt inspiriert, über das Nordwestzentrum in Frankfurt am Main bis zu der Gestaltung von Innenstädten im Sinne komplexer Großstrukturen zeigt Hnilica an verschiedenen Bautypen, wie Funktionen gemischt wurden, sodass sich Räume für Wohnen und Freizeit, Arbeit und Konsum unter einem Dach befanden. Die monofunktionalen Gebäude („Riesenmaschinen“, Kapitel 3) wurden hingegen wie (soziale) Fabriken gedacht. Ihre Funktionsweise wurde rationalisiert und optimiert. Die Gebäude großer Kauf- und Versandhäuser, aber auch Universitäten und Konferenzzentren – im Buch nach ihrer Funktion als „Wissensmaschinen“ (S. 93) und „Kommunikationsmaschinen“ (S. 97) benannt – wurden diesen Prinzipien folgend gebaut. Hier, aber auch bei den multifunktionalen Komplexen, trat schon während des Baus das Problem zutage, dass gar nicht bekannt war, was auf lange Sicht die Funktion des Gebäudes sein würde – die Architektur sollte sich aber dem Wandel anpassen können. Lösungsansätze waren Großformen, Bausysteme und Megastrukturen.

Die Großform (Kapitel 4) folgte der Idee der „großen Gesten“: Eine einfache, große Form sollte der Gestalttheorie folgend dem Bauwerk ein identitätsstiftendes Äußeres verleihen. Besonders beim Wohnungsbau zeigte sich dies häufig, beispielsweise im Märkischen Viertel in West-Berlin. Hier zeichnet Hnilica die „Landschaftlichkeit“ (S. 129) der Großstrukturen nach. Sie argumentiert, dass die an Gebirge erinnernde Architektur etwas Gewolltes war, kam doch der Begriff der Großform bereits aus der Geologie. Gleichzeitig sorgte hier das Verhältnis von Individuum und Masse für Kritik. Es stellte sich heraus, dass soziale Probleme nicht durch architektonische Mittel gelöst werden konnten. Solche „großen Gesten“ waren zudem nur von machtvollen Architekt/innen oder Bauträger/innen zu realisieren, hatten Symbolkraft und waren repräsentativ. Derartige Architektur hat bis heute Bedeutung und wird weiterhin gebaut.

Kapitel 5 widmet sich der gegenläufigen Strömung: den Bausystemen. Hier erläutert die Autorin vor allem anhand von Wohnbauten, wie Architekt/innen offene Systeme entwickelten, die flexibel und anpassbar sein sollten. Deshalb entwarfen sie lediglich einen Bausatz, wie es beispielsweise beim Plattenbau der DDR zu erkennen ist. In offenen Systemen sollten die Bewohner/innen die Ausgestaltung übernehmen, damit eine „natürlich gewachsene“ (S. 166) Form entstünde, was jedoch nur vereinzelt praktiziert wurde. Aufschlussreich ist hier Hnilicas Betonung der Systemtheorie als wichtige Strömung, die auch die Architektur beeinflusste. Als „sozio-technisches Gesamtsystem“ (S. 158) spiegelt sich in den Bausystemen ein Nebeneinander von Individualismus und Gleichheit wider, was als eine Reaktion auf die Kritik der „großen Gesten“ zu deuten ist. Allerdings kann Hnilica auch zeigen, dass viele dieser Ideen bei der Realisierung an ihre Grenzen stießen. In den Auseinandersetzungen zwischen Systembau und identitätsstiftenden Großformen zeichnet die Arbeit nicht zuletzt die Debatte um Architektur als künstlerische Form oder als technische Lösung nach.

Verbunden wurden die Konzepte Großform und Bausystem dann in Megastrukturen, in denen von Architekt/innen erdachte Gerüste langlebig die Grundordnung vorgeben sollten, einzelne Elemente im Inneren aber variabel und austauschbar waren. Dabei drückte sich ein dezidierter Fortschrittsglaube aus, denn der „Fortschritt“ sollte die Flexibilität in der Architektur ermöglichen. Aber nicht nur für Wohnbauten und Stadtzentren wurden solche Strukturen gedacht, sondern auch für Kultureinrichtungen und Krankenhäuser. So wurde in Schottland während der 1960er-Jahre das Cumbernauld Town Centre realisiert, das alle Funktionen eines Stadtzentrums beherbergte, innen aber veränderbar war und nach außen erweiterbar sein sollte. Das Universitätsklinikum Aachen (Baubeginn 1971, Einweihung 1985) folgte ebenfalls dieser Idee. Viele der Entwürfe wurden allerdings deutlich kleiner realisiert als geplant. Hier wäre interessant gewesen zu erfahren, woran die Konzepte letztendlich scheiterten. Zudem kam die Tendenz auf, die Innenstädte mit ihrer anonymen Architektur gegenüber den Großbauten als überlegen anzusehen, und die Großstrukturen-Idee wurde auf die gesamte Stadt als offene Struktur übertragen.

In ihrer Bilanz (Kapitel 7) führt Hnilica die Entwicklung dieser Strömungen bis in die Gegenwart und resümiert, dass die hochgesteckten Erwartungen an die Gebäudekomplexe selten erfüllt wurden. Sie seien häufig „abweisende Fremdkörper im Stadtraum“ und „funktionieren nur für diejenigen gut, die drinnen sind“ (S. 213). Gleichwohl scheinen architektonische „große Gesten“ in Deutschland eine Renaissance zu erleben, beispielsweise in Form der Hamburger Elbphilharmonie. Auch einzelteilige Systeme werden weitergedacht, und Megastrukturen finden in hybriden Gebäudekonstruktionen ihre Fortsetzung.

Insgesamt bietet Sonja Hnilicas Werk eine auch durch das reiche Bildmaterial und das aufwendige grafische Konzept sehr anschauliche Darstellung der Ideengeschichte der Großstrukturen der 1960er- und 1970er-Jahre bis heute. Dabei leistet die Kategorisierung in drei verschiedene Denktraditionen einen wichtigen Beitrag, um zu erklären, warum diese Gebäude so gebaut wurden, wie sie sich uns teilweise heute noch präsentieren. Interessant wäre es gewesen, die wechselseitige Beeinflussung der Strömungen auch in ihrer möglichen Chronologie aufzuzeigen. Die Fortschreibung der Ideen ins Heute und der Aktualitätsbezug überzeugen; so wird die Arbeit anschlussfähig an aktuelle Debatten. Hnilicas Plädoyer für einen geschichtsbewussten Umgang mit den Großbauten, etwa bei der seit Jahren laufenden Sanierung der Ruhr-Universität Bochum oder dem geplanten Erhalt des Internationalen Congress Centrums (ICC) Berlin, nimmt diese Debatten auf und liefert Argumente für den (partiellen) Schutz solcher Architekturen.

Anmerkung:
1 Zum breiteren Kontext siehe auch Frank Eckardt u. a. (Hrsg.), Welche Denkmale welcher Moderne? Zum Umgang mit Bauten der 1960er und 70er Jahre, Berlin 2017 (mit einem Aufsatz von Sonja Hnilica); rezensiert von Alexandra Klei, in: H-Soz-Kult, 10.11.2017, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-27256 (12.12.2018).