C. Wilke: Rabbiner der Emanzipationszeit

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Titel
Die Rabbiner der Emanzipationszeit in den deutschen, böhmischen und großpolnischen Ländern 1781-1871.


Herausgeber
Wilke, Carsten; Brocke, Michael; Carlebach, Julius
Reihe
Biographisches Handbuch der Rabbiner
Erschienen
München 2004: K.G. Saur
Anzahl Seiten
965 S.
Preis
€ 296,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Toralf Kleinsorge, Collegium Polonicum, Slubice/Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder) Email: tkleinsorge@blick-nach-osten.de

Dem Judaisten und Religionswissenschaftler Carsten Wilke ist ein herausragendes prosopografisches Werk gelungen, das durch seine inhaltliche Qualität und seinen eigenständigen Charakter überzeugt. Das Handbuch ist unter der geistigen Anregung und der organisatorischen Schirmherrschaft des ehemaligen Direktors der Hochschule für Jüdische Studien (Heidelberg), Prof. Julius Carlebach, und des Düsseldorfer Judaisten und Direktors des Salomon-Ludwig-Steinheims-Instituts für deutsch-jüdische Geschichte, Prof. Michael Brocke entstanden. Es erfasst in fast 2.000 Einträgen das Rabbinat der deutschen und böhmischen Länder sowie der preußischen Ostprovinzen in einer Epoche tiefgreifender Umbrüche, die zu einer radikalen Veränderung der Lage der jüdischen Minderheit führten.

Die Bestimmung des Toleranzediktes Kaiser Josefs II. von 17811 und der Verfassungen Österreichs von 1867 sowie des Deutsches Reiches von 1871 als zeitliche Grenzdaten erscheint plausibel (S. 40f.), obgleich die Bedeutung der politisch-rechtlichen Emanzipation der jüdischen Minderheit für die Herausbildung des modernen Rabbiners nicht überschätzt werden sollte. Ökonomische und kulturelle Veränderungsprozesse, die sich einer vergleichsweise exakten Datierung entziehen, spielten gleichfalls eine entscheidende Rolle in der grundlegenden Umgestaltung der Ausbildungswege, der Arbeitsverhältnisse und, nicht zuletzt, des Selbstverständnisses der Gemeinderabbiner. Der Autor trägt dem aber Rechnung, indem er auch jene Personen erfasst, deren letzte Lebensjahre noch in den Betrachtungszeitraum hineinragen bzw. deren berufliche Laufbahn erst in den 60er-Jahren des 19. Jahrhundert beginnt.

Die territorial-administrative Argumentation der räumlichen Eingrenzung anhand der Grenzen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und des Deutsches Bundes (S. 42) hat im Hinblick auf die preußischen Ostprovinzen Ostpreußen, Westpreußen und die Provinz Posen formale Schwächen. Zugleich erheben sich vor dem Hintergrund der einzelstaatlichen Judenpolitik Zweifel, ob diese beiden Institutionen tatsächlich einen wichtigen politischen Ordnungsrahmen für die Entwicklung der jüdischen Minderheit im mitteleuropäischen Raum dieser Epoche darstellten. Dagegen vermag der gewählte territoriale Rahmen in seiner Definition als Wirkungsraum der deutsch-jüdischen Akkulturationsentwicklung vollständig zu überzeugen.2

Wenngleich sich Wilke auf eine Reihe von Kollektivbiografien älteren und jüngeren Datums und auf die allgemeinen jüdisch-biografischen Lexika stützen konnte, ist der eigentliche Wert seiner Arbeit nicht in der (für den Nutzer sicher komfortablen) Kompilation zu sehen. Vielmehr gelingt ihm die prosopografische Ersterfassung der großen Mehrheit der vorgestellten Rabbiner auf der Basis von Gemeindegeschichten und Primärquellen (S. 118) sowie eine Erweiterung und Überarbeitung des bereits vorliegenden lexikografischen Materials auf der Grundlage umfangreicher Archiv- und Bibliotheksrecherchen (u.a. in Deutschland, Frankreich, Polen und Israel).

Die stark differierende Überlieferungsdichte für die einzelnen Kurzbiografien hat sehr verschiedenartige Ursachen, unter denen zweifellos die NS-Vernichtungspolitik und der Zweite Weltkrieg hervorzuheben sind (S. 35). Die für den süd- und südwestdeutschen Raum tendenziell bessere Überlieferungslage, die sich vor allem in der größeren Detailliertheit der biografischen Einträge und der bibliografischen Angaben für die frühen Jahrgänge zeigt, liegt hingegen in der genaueren und früheren Erfassung der zahlenmäßig besser kontrollierbaren jüdischen Gemeinden und ihrer Rabbiner durch die Aufsichtsbehörden der süd- und südwestdeutschen Einzelstaaten. Hier wirkte sich zudem die – im Vergleich zu den preußischen Ostprovinzen (insbesondere Provinz Posen) – deutlich früher einsetzenden Akkulturation aus, die mit einer Angleichung der Rabbinerausbildung an die nichtjüdischen Akademikerkarrieren einherging.

Lassen sich das religionsgesetzliche bzw. wissenschaftliche Werk und die publizistischen Aktivitäten der Rabbiner weitgehend rekonstruieren, kann die Frage nach dem Grad und dem Umfang ihrer Wirksamkeit in den Gemeinden häufig nicht konkret beantwortet werden. Eine Ausnahme bilden dabei einige namhafte Persönlichkeiten, deren Biografie in aller Regel gut dokumentiert ist. Wilke zitiert häufiger aus Berichten und Nachrufen in der deutsch-jüdischen Presse, um zumindest einen Hinweis auf die Resonanz der Rabbiner in ihren Gemeinden geben zu können. Aufgrund der verklärenden Tendenz von Nekrologen und des polemischen Charakters der deutsch-jüdischen Zeitungen und Zeitschriften sind diese (häufig schablonenhaften) Aussagen allerdings mit Vorsicht zu verwenden. Gleichwohl ist der Wunsch des Handbuchautoren sehr verständlich, mittels prägnanter Zitate aus narrativen deutschsprachigen Quellen den Kurzlebensläufen ein individuelles Profil zu geben und zugleich das sprachliche Kolorit der Zeit anzudeuten.

Im Fall der traditionalistischen und (ultra-)orthodoxen Rabbiner, deren Lebenswelt und Wertesystem – im Vergleich zu den deutlich stärker deutsch akkulturierten Rabbinern der Reformbewegung – fremd und unnahbar erscheinen, können jedoch derartig „charakterisierende“ Quellenbelege manchmal zu einem Hindernis für die weitere Forschung werden. Zwar deckt sich z.B. die angeführte Erinnerung eines nichtjüdischen Zeitzeugen an den Posener Oberrabbiner Akiva Eger (S. 259) mit dem Bild, das seine Schüler von ihm überliefern. Wer jedoch das sich sprachlich und inhaltlich gut einpassende Zitat unkritisch in die eigene historische Darstellung übernimmt, vergibt sich die Chance, die Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit dieser für die preußisch-jüdische Geschichte des frühen 19. Jahrhundert wichtigen und im (ultra-)orthodoxen Judentum bis heute populären Persönlichkeit herauszuarbeiten.3

Um einem Missverständnis vorzubeugen, sei hier unterstrichen, dass die beiden vorangegangenen Absätze sich auf die möglichen Gefahren einer oberflächlichen Nutzung des sehr materialreichen Handbuches beziehen, die Wilke nicht anzulasten sind. Unbedingt zu empfehlen ist vor einer Erstbenutzung die Lektüre der ausführlichen Einleitung, die neben der Erläuterung der Struktur und ihrer methodischen Aspekte auch einen sehr informativen Abriss der Entwicklung des Rabbinats vom Beginn der Frühen Neuzeit bis zum 19. Jahrhundert bietet.

Als eine wesentliche Stärke des Werkes sind die umfassenden bibliografischen Angaben zu den Kurzbiografien hervorzuheben, die neben den quantitativ überwiegenden deutschsprachigen Quellentexten und Literaturerscheinungen auch Dokumente und Materialien in hebräischer4, englischer, französischer, tschechischer und polnischer Sprache registrieren. Die bibliografischen Angaben sind übersichtlich anhand der folgenden Abschnitte gegliedert: Dissertation, veröffentliche Schriften, unveröffentlichte Schriften, ungeschriebene Lehre, archivalische Quellen, epigrafische Zeugnisse, Literatur, Ikonografie.

Das forschungsökonomische Argument für die Verwendung der gegenwärtigen Ortsnamen5, das Wilke in Ablehnung des in der deutschen historischen Ostmitteleuropaforschung üblichen Gebrauchs anführt (S. 110), ist unter dem Aspekt der internationalisierten Forschung zur deutsch-jüdischen Geschichte nicht leicht zu entkräften. In einem gewissen Sinne widerspricht er sich jedoch selbst, wenn er zugleich die außerordentliche Symbolik von Ortsnamen und die mit ihnen verbundene Information für einen Lebensweg im 19. Jahrhundert hervorhebt (S. 36). Arnswalde und Köslin wecken zweifellos andere Assoziationen als Choszczno und Koszalin und dies völlig unabhängig von der jeweiligen Muttersprache des Betrachters. Die im Detail etwas gewöhnungsbedürftige Transkription der hebräischen Begriffe, deren mühevolle Umsetzung dem Autoren jedoch hoch anzurechnen ist, wurde in dieser Liste anlässlich einer früheren Buchbesprechung bereits angesprochen.6

Zu bedauern bleibt, dass dieses außerordentlich wertvolle Arbeitsmittel aufgrund seiner hohen Anschaffungskosten vermutlich nicht den Weg in die Handbibliothek der meisten auf die deutsch-jüdische Geschichte spezialisierten Historiker und Judaisten finden wird, obwohl es von seinem Aufbau und Inhalt her dafür wie geschaffen scheint.

Anmerkungen:
1 Die fehlerhafte Datumsangabe für das Toleranzdekret die Juden Böhmens betreffend (S. 40, 13. Oktober statt 19. Oktober 1781) spiegelt unfreiwillig die wesentlich größere symbolische Bedeutung wider, die dem Toleranzpatent für die christlichen Minderheiten vom 13. Oktober 1781 im zeitgenössischen Europa und in der Josephinismus-Forschung zuteil wurde. Das Toleranzdekret für die böhmischen Juden wies im Vergleich zu den bekannteren Patenten und Judenordnungen für die anderen Provinzen der Habsburgermonarchie (1781-1789) einen deutlich restriktiveren Charakter auf. Vgl. Karniel, Josef, Zur Auswirkung der Toleranzpatente für die Juden in der Habsburgermonachie im josephinischen Jahrzehnt, in: Barton, Peter F. (Hg.), Im Zeichen der Toleranz. Aufsätze zur Toleranzgestaltung des 18. Jahrhunderts im Reiche Joseph II., ihren Voraussetzungen und ihren Folgen. Eine Festschrift, Wien 1981, S. 208f.
2 Die bereits vor dem Ende des Betrachtungszeitraums in Erscheinung tretenden Vorläufer einer zweiten, tschechischen Akkulturationswelle unter den böhmischen Juden, auf die Wilke dezidiert verweist (S. 41f.), entwerten die territoriale Perspektive der deutsch-jüdischen Akkulturation nicht. Unter diesem Blickwinkel erscheint es daher nur konsequent, dass der zweite Teil des Handbuches sich auf das Gebiet des Deutschen Reiches beschränken wird. Vgl. Brocke, Michael; Carlebach, Julius sel. A. (Hgg.), Biographisches Handbuch der Rabbiner. Teil 2: Die Rabbiner im Deutschen Reich 1871-1945, bearbeitet von Katrin Nele Jansen, München 2005, ca. 2 Bde. (in Vorb.).
3 Zur Problematik von Legende und realhistorischem Wirken bei Akiva Eger: vgl. Kleinsorge, Toralf, Na marginesie biografii poznańskiego rabbina Akiwy Egera [Anmerkungen zur Biographie des Posener Rabbiners Akiva Eger], in: Pilarczyk, Krzysztof (Hg.), Żydzi i Judaizm we współczesnych badaniach polskich [Juden und Judentum in der neueren polnischen Forschung], Bd. III, Krakau 2003, S. 89-98.
4 Der judaistische Nutzer wird vor allem für den an Detailtiefe kaum zu übertreffenden Nachweis der Werke zur Halakha und der neueren israelischen Forschungsliteratur zu schätzen wissen.
5 Die historische Form (in den meisten Fällen die deutsche Namensform) wird bei der erstmaligen Nennung im Artikel in Klammern angefügt.
6 Vgl. Stefan Litt: Rezension zu: Wilke, Carsten: "Den Talmud und den Kant". Rabbinerausbildung an der Schwelle zur Moderne. Hildesheim 2003. In: H-Soz-u-Kult, 05.07.2004, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-3-010>.

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