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Titel
Geschichte im Dissens. Die Auseinandersetzungen um die Gedenkstätte Sachsenhausen nach dem Ende der DDR


Autor(en)
Haustein, Petra
Erschienen
Anzahl Seiten
491 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gabriele Hammermann, KZ-Gedenkstätte Dachau

Nach dem Fall der Mauer entbrannte im Umfeld der damaligen „Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen“ wie an anderen Orten mit „doppelter Vergangenheit“ ein erbitterter Streit über den Umgang mit den beiden Diktaturen.1 Insbesondere der Fund der Massengräber, die aus der Zeit der sowjetischen Speziallager stammten, sowie die politische Skandalisierung der Verbrechen führten zu einer Thematisierung der in der DDR tabuisierten und in Westdeutschland über Jahrzehnte vergessenen oder aber durch aktuelle Ereignisse des Kalten Krieges überlagerten Geschichte der sowjetischen Speziallager.

Die Politologin Petra Haustein behandelt in ihrer kommunikationstheoretisch fundierten Dissertation die Debatten und Konflikte um die Neukonzeption der Gedenkstätte, bei der diametral verschiedene Geschichtsbilder und Erfahrungshintergründe der verschiedenen Opfergruppen wie auch der beteiligten Gedenkstättenexperten aufeinanderstießen. Im Fokus der Diskussionen standen der Umgang mit dem staatlich legitimierten antifaschistischen Wertekanon der DDR sowie die historische Einordnung des sowjetischen Speziallagersystems, das in seinen „Ursachen und Funktionen im Schnittpunkt sowjetischer Reparations- und Besatzungspolitik, alliierter Entnazifizierung, kommunistischer Geheimdienst- und Lagerpraxis und zunehmender Sowjetisierung der SBZ/DDR“ stand (S. 209).

Bereits unmittelbar nach der „Wende“ von 1989/90 trat die Erinnerungskonkurrenz der Verfolgtenverbände der KZ-Opfer und der Speziallagerhäftlinge deutlich zu Tage. Wie Haustein ausführt, betrachteten die Überlebenden des Konzentrationslagers Sachsenhausen die sowjetischen Lager als Folge des deutschen Angriffskriegs und alliierter Entnazifizierung, negierten aber die dem System eigenen Elemente stalinistischer Repression. Nach Ansicht der ehemaligen KZ-Häftlinge hatten sich die Speziallagerinsassen für ihre Taten in der NS-Zeit zu verantworten; die Inhaftierten galten als schuldig. Mittlere und kleinere Funktionsträger des NS-Systems, die zeitweise die Mehrheit im Speziallager bildeten, rückten nicht in den Blick. Insbesondere die ehemaligen kommunistischen NS-Verfolgten, deren Widerstand der staatlich gestützte Antifaschismus der DDR als legitimatorisches Element besonders betont hatte, fürchteten eine Entsorgung des für viele identitätsstiftenden Geschichtsbildes. Indem sie also die Rechtmäßigkeit der Speziallagerhaft betonten, gelang es ihnen, ihre antifaschistischen Wertvorstellungen zu bewahren.

Dagegen blendeten die ehemaligen Gefangenen des Speziallagers aus, dass das Speziallagersystem auch im Kontext alliierter Entnazifizierungsmaßnahmen entstanden war. Sie sahen sich ausschließlich als Opfer stalinistischer Willkür und daher als Unschuldige. Selbst schwerwiegende Beteiligungen der Insassen am NS-System, wie etwa im Fall des ehemaligen „Euthanasie“-Arztes Hans Heinze, wurden abgestritten (S. 168). Vielmehr betonte man, die Lebensbedingungen in den Speziallagern seien ungleich bedrohlicher gewesen als in den Konzentrationslagern (S. 92).

Die mit der Konzeption der Neugestaltung der Gedenkstätte beauftragte Expertenkommission schlug 1992 zunächst vor, die Geschichte des sowjetischen Speziallagers – entsprechend kontextualisiert – in die geplante Hauptausstellung zu integrieren. Haustein zufolge nahm das Gremium jedoch nach heftigen Protesten des Internationalen Auschwitzkomitees von dieser Empfehlung Abstand (S. 105ff.). Auch in dem Bemühen um eine Deeskalation des Konfliktes stellte Günter Morsch, der neue Leiter der Gedenkstätte, 1993 ein alternatives, dezentrales Gedenkstättenkonzept vor (S. 128). Damit ergab sich – so Haustein – die Möglichkeit einer getrennten Darstellung der Geschichte von Konzentrationslager und Speziallager, was in der Folgezeit neben Differenzen über die Personalpolitik der Gedenkstätte, unterschiedlichen Auffassungen über Standort und Gestaltung des Museumsneubaus sowie Meinungsverschiedenheiten über die Präsentation des Nachlasses des sowjetischen Lagerleiters zu ständigen Konflikten mit der Arbeitsgemeinschaft der ehemaligen Speziallagerinsassen führte. Die seit Mitte der 1990er-Jahre vorgelegten Forschungsergebnisse – wie etwa die mehrbändige grundlegende Studie eines deutsch-russischen Kooperationsprojekts – vermochten nicht zu einer Versachlichung beizutragen.2 Auch nach der im Dezember 2001 erfolgten Eröffnung des Museums „Sowjetisches Speziallager Nr. 7/Nr. 1“, das sich in der Nähe des größten der 1990 aufgefundenen Massengräber befindet, blieben viele Konflikte virulent.3

Anhand narrativer Interviews analysiert Haustein schließlich die Haltung der verschiedenen Akteure gegenüber der Neukonzeption der Gedenkstätte, die Bewertung der doppelten Geschichte des Ortes und die Erfahrungshintergründe, die die Verfolgtengruppen und die Gedenkstättenexperten beeinflussten. Da das Sample der genutzten Selbstberichte begrenzt war – nicht zuletzt durch die Tatsache, dass einige der Befragten die Veröffentlichungsgenehmigung zurückgezogen haben –, stellt sich bei manchen ihrer Schlussfolgerungen jedoch die Frage nach der Repräsentativität, auch im Hinblick auf die unterschiedlichen nationalen Perspektiven.

Die Erfahrungen der Überlebenden des KZ Sachsenhausen waren sehr disparat. Dominierte die Geschichte des kommunistischen Widerstandes das nationale Narrativ der DDR, so wurde das Schicksal der jüdischen Häftlinge, der Sinti und Roma, der Homosexuellen und „Asozialen“ jahrzehntelang ausgeblendet. Die von den bislang vernachlässigten Opfergruppen geforderte Neuorientierung des Gedenkens führte auch innerhalb des Internationalen Sachsenhausenkomitees zu kontroversen Diskussionen. Einig waren sich die Überlebenden jedoch in der Ablehnung einer gemeinsamen Erinnerung an KZ und Speziallager auf dem Gelände der Gedenkstätte.

Dies stieß bei den Verbänden der Stalinismus-Opfer auf heftigen Widerstand. Die Aufarbeitung der Vergangenheit wies bei dieser Verfolgtengruppe ebenso wie bei den KZ-Überlebenden beträchtliche Unterschiede auf – je nachdem, ob sie nach der Lagerhaft in der Bundesrepublik, in der DDR oder im Ausland lebten (S. 254). Während ihre Haftzeit in der DDR gesellschaftlich und innerfamiliär über Jahrzehnte mit einem Tabu belegt war, erfuhren einige der ehemaligen Speziallagerhäftlinge in Westdeutschland in der Phase der Studentenbewegung von 1968 eine zweite Stigmatisierung (S. 256-272). Mit dem Ende der Zweistaatlichkeit verbanden sie zunächst die Hoffnung auf Rehabilitierung und gesellschaftliche Anerkennung. Doch sahen sie sich durch die pauschale Disqualifizierung als Täter des NS-Systems wieder ins Abseits gestellt.

Als verantwortlich für diese Ausgrenzung sieht Haustein nicht nur die Stalinismusopfer mit ihrer bisweilen unzureichend distanzierten Haltung zum Nationalsozialismus, sondern auch die KZ-Überlebenden und vor allem westdeutsche Historiker und Gedenkstättenexperten. Letztere übernahmen die Leitungen der ostdeutschen Gedenkstätten und dominierten nach dem Ende der DDR die Gremien. Haustein subsumiert die meisten von ihnen unter die 68er-Generation, die die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit als Generationenkonflikt ausgetragen habe. Als Folge sei eine „identifikatorische Opferrolle“ im Sinne starker Empathie mit den ehemaligen KZ-Häftlingen zu konstatieren, was eine einfühlende Haltung gegenüber den Stalinismusopfern deutlich erschwert habe (S. 287). Diese Argumentation mutet durch ihre inhaltliche und methodische Engführung allerdings zu pauschal an. Zwar ist es unbestritten, dass das durch die 68er-Bewegung beeinflusste Geschichtsbild in den westdeutschen Gedenkstätten lange Zeit prägend war und mitunter heute noch ist. Der generationengeschichtliche Ansatz greift ohne konkrete biographiegeschichtliche Fallstudien, in denen Motive, Eigensichten, politische Prägung, tradierte Wertvorstellungen und Sozialisation der jeweiligen Akteure behandelt werden, jedoch zu kurz.4 Bei der zweiten und dritten Generation bestanden und bestehen signifikante inner- bzw. intergenerationelle Unterschiede in der Haltung zur NS-Vergangenheit. Unscharf bleibt zudem das Bild der ostdeutschen Historiker, Pädagogen und Museologen, die mit der Thematik befasst waren.

Ungeachtet dieser Kritik vermag die gut recherchierte und ertragreiche Studie wertvolle Impulse für weiterführende komparatistische Forschungen zu den Erfahrungshintergründen und Einstellungen von Gedenkstättenmitarbeitern zu geben. Im Zusammenhang mit dem veränderten gesellschaftlichen Stellenwert von Gedenkstätten werden sich auch die dort Tätigen früher oder später einer kritischen Historisierung stellen müssen, selbst wenn ihnen dieser Gedanke derzeit vielleicht noch fremd ist. Für die Gedenkstättenpraxis – sowohl im Osten als auch im Westen Deutschlands – zeichnet sich zudem ein Bedarf an Supervision ab, damit die Gedenkstättenmitarbeiter bei ihren fachlich, politisch und psychologisch oft gleichermaßen fordernden Aufgaben nicht auf sich allein gestellt bleiben.

Anmerkungen:
1 Siehe etwa: Reif-Spirek, Peter; Ritscher, Bodo (Hrsg.), Speziallager in der SBZ. Gedenkstätten mit „doppelter Vergangenheit“, Berlin 1999.
2 Mironenko, Sergej u.a. (Hrsg.), Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950, 2 Bde., Berlin 1998. Siehe auch: Morré, Jörg, Speziallager des NKWD. Sowjetische Internierungslager in Brandenburg 1945–1950, Potsdam 1997.
3 Hilger, Andreas; Schmeitzner, Mike; Schmidt, Ute (Hrsg.), Sowjetische Militärtribunale, Bd. 2: Die Verurteilung deutscher Zivilisten 1945–1955/57, Köln 2003; Leo, Annette, Das Speziallager Nr. 7 Sachsenhausen 1945–1950, in: Dachauer Hefte 19 (2003), S. 251-262; Morsch, Günter; Reich, Ines (Hrsg.), Sowjetisches Speziallager Nr. 7/Nr. 1 in Sachsenhausen (1945–1950), Berlin 2005.
4 Vgl. auch Schneider, Christian, Deckerinnerung: Ein Lager, zwei Bilder. Generationengeschichtliche Anmerkungen zur psychologischen Binnenkonstruktion deutscher Erinnerungspolitik, in: Haustein, Petra; Kaminsky, Annette; Knigge, Volkhard (Hrsg.), Instrumentalisierung, Verdrängung, Aufarbeitung. Die sowjetischen Speziallager in der gesellschaftlichen Wahrnehmung. 1945 bis heute, Göttingen 2006, S. 79-99.

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