L. Dreidemy u.a. (Hrsg.): Bananen, Cola, Zeitgeschichte

Cover
Titel
Bananen, Cola, Zeitgeschichte. Oliver Rathkolb und das lange 20. Jahrhundert


Herausgeber
Dreidemy, Lucille; Hufschmied, Richard; Meisinger, Agnes; Molden, Berthold; Pfister, Eugen; Prager, Katharina; Röhrlich, Elisabeth; Wenninger, Florian; Wirth, Maria
Erschienen
Anzahl Seiten
2 Bde., 1208 S.
Preis
€ 99,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gabriele-Maria Schorn-Stein, Rüsselsheim

Anlässlich des 60. Geburtstages des renommierten österreichischen Zeithistorikers und Juristen Oliver Rathkolb haben neun seiner Schüler/innen eine Festschrift mit dem Titel „Bananen, Cola, Zeitgeschichte: Oliver Rathkolb und das lange 20. Jahrhundert“, veröffentlicht. Dieser Titel, so die Herausgeber in ihrem Vorwort, beziehe sich „auf das enorme Arbeitspensum des engagierten und leidenschaftlichen Wissenschaftlers, denn nach einem langen Tag müssen Bananen und Cola oft neue Kräfte mobilisieren“ (S. 19).

Mit dieser Festschrift verbinden die Herausgeber ein wichtiges Anliegen, gilt es doch aufzuzeigen, welch zentraler Stellenwert dem Jubilar in der österreichischen Zeitgeschichtsforschung zukommt und gleichzeitig „einen klaren Blick in das kollektive Gedächtnis der Österreicherinnen und Österreicher zu eröffnen, der vor allem zum Nachdenken über Identität und Demokratiebewusstsein anregen soll.“1 Den Herausgebern ist es gelungen, namhafte österreichische und internationale Wissenschaftler zu gewinnen, die in insgesamt 90 Beiträgen auf 1208 Seiten ihre persönlichen Reflexionen über Oliver Rathkolb festgehalten haben und dabei einen großen Bogen spannen: Von der Geschichte der „paradoxen Republik“ Österreichs über den Kalten Krieg, den Nationalsozialismus und seine Rezeption sowie andere Aspekte der historischen Diktatur-und Transformationsgeschichte bis hin zur Reflexion über Kunst, Kultur, Geschichtspolitik und das Fach Zeitgeschichte im Allgemeinen. Dem Leser bietet sich somit zeitlich wie räumlich eine breite Palette an Themen. Ein beeindruckender Anhang, der Oliver Rathkolbs Tätigkeit als Zeitgeschichtsexperte in den Medien darstellt und die im Laufe seiner wissenschaftlichen Tätigkeit entstandenen Schriften auflistet, runden das zweibändige Werk ab.

Eine wissenschaftliche Karriere als Historiker war dem aus einer Ärztefamilie stammenden Oliver Rathkolb nicht vorgezeichnet (S. 25–28). Auslöser für sein fachliches Engagement war die persönliche Begegnung mit Bruno Kreisky und sein Einsatz für das Bruno-Kreisky Archiv, die sein Leben tief geprägt haben (S. 26). Im Vordergrund der Festschrift steht Oliver Rathkolbs Engagement für die jüngere Wissenschaftlergeneration. Dieses wird in den einzelnen Beiträgen immer wieder hervorgehoben und von seinen Kolleg/innen neidlos anerkannt. Rathkolb gehe es nicht um seinen persönlichen Nutzen, vielmehr sei er daran interessiert, seine Forschungsergebnisse mit den anderen Zeithistorikern zu teilen, ihnen diese für ihre eigenen Forschungen zur Verfügung zu stellen: Keine Selbstverständlichkeit.

Alle 90 Beiträge sind für die Zeitgeschichtsforschung von Bedeutung, an dieser Stelle können jedoch hier nur einzelne hervorgehoben und analysiert werden, womit die wissenschaftliche Bedeutung der anderen aber nicht geschmälert werden soll. Der erste Band der Festschrift beschäftigt sich mit „Österreich am Vorabend der Ersten Republik, von der Ersten Republik zur Kanzlerdiktatur, dem Nationalsozialismus und seiner Rezeptionsgeschichte, der internationalen Diktaturforschung und Österreich in der Zweiten Republik“ (S. 25–633).

Auffallend ist die Beschäftigung einzelner Autor/innen, wie beispielweise Gabriella Hauch, mit sogenannten „Randgebieten“ zeitgeschichtlicher Forschung. Sie gehen damit das Wagnis ein, auf deren Bedeutung hinzuweisen, hätten diese Themen doch sonst nicht die Aufmerksamkeit erfahren, die ihnen eigentlich gebührt und wo durchaus noch erhebliche Forschungsdefizite bestehen. Hauch begibt sich auf „Spurensuche nach Isa Strasser“, einer der wenigen Kommunistinnen, die Anfang der 1920er-Jahre in Wien in Erscheinung traten (S. 137–149). Sie stellt sich dabei die Frage, ob mit Strasser eine weitere frauenbewegte intellektuelle Parteiaktivistin in der männerdominanten KPÖ zu entdecken wäre.

Auch der Blick auf das Schicksal von Josef Hupka, der in der Zwischenkriegszeit als Professor für Handels- und Wechselrecht an der Universität Wien lehrte und am 24. April 1944 an den Folgen seiner Inhaftierung in Theresienstadt starb, schärft, so Linda Erker in ihrem Beitrag, das Verständnis für die hohe Präsenz der Nationalsozialisten und deren Gewaltbereitschaft lange vor 1938. Erst im Jahre 2015 wurde an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät ein Sitzungszimmer nach dem lange vergessenen Josef Hupka benannt (S. 190).

Ein immer wieder auftauchender Diskussionspunkt österreichischer Zeitgeschichte ist die Beurteilung des „Christlichen Ständestaates“ (1934–1938). Gerhard Botz bringt diesbezüglich neue Ansätze ein: Er stimmt Helmut Wohnout zu, wenn dieser statt „Regierungsdiktatur“ die Bezeichnung „Kanzlerdiktatur“ für das österreichische Regime vorzieht (S. 214). Ein weiteres in der Zeitgeschichtsforschung bislang wenig behandeltes Feld ist die „Jugend im Elsass unter dem Nationalsozialismus“, womit sich Geneviéve Humbert-Knitel eingehen befasst (S. 318–329). Ihr Beitrag wirft Licht auf die spezifischen organisatorischen und institutionellen Eigenheiten der deutschen Jugendpolitik im Elsass und deren Auswirkungen auf die beteiligten Menschen.

Im zweiten Band sind vor allem die Beiträge von Dirk Rupnow, Barbara Tóth, Michael Gehler und Hubert Christian Ehalt hervorzuheben (S. 647–1115). Rupnow setzt sich in seinem Artikel kritisch mit dem Verhältnis von historischer Forschung, Medien und Öffentlichkeit auseinander (S. 901–913). Dieses Verhältnis ist seiner Auffassung nach Fluch und Segen zugleich, da es einerseits der Logik wissenschaftlicher Forschung zuwider laufe, andererseits aber die Chance biete, bestimmte Themen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen und zu diskutieren (S. 901).

Der sogenannte „History-Journalismus“ steht auch im Mittelpunkt des Beitrags von Barbara Tóth (S. 1027–1035). Zwar hält die Autorin das mediale Interesse an historischen Themen prinzipiell für erfreulich, hat aber Bedenken, dass es bei der medialen Vermittlung häufig zu Vereinfachungen kommt. Auch stellt sich die Frage, wie historische Themenkonjunkturen entstehen und wer Einfluss darauf hat, welche Jubiläen sich massenmedial durchsetzen und welche nicht. Es geht also um den Wissenstransfer zwischen historischer Forschung und der Öffentlichkeit, der nach Tóths Auffassung häufig nicht funktioniere (S. 1033).

Michael Gehler thematisiert das Verhältnis zwischen Europäisierungen und europäischer Integrationsgeschichte: Er stellt sich die Frage, welche Konsequenzen sich daraus für die europäische Integrationshistoriografie ergeben (S. 1070–1089). Integrationsgeschichte ist nach Gehlers Worten noch ein junger Wissenschaftszweig, daher verwundern Defizite und Mängel nicht (S. 1075). Gehler zieht das Fazit, dass Europäisierungen sowohl als Bedingungen wie auch als Folgen von Bedeutung für das Verständnis der Entstehung und Entwicklung der europäischen Integration sein können (S. 1089).

Hubert Christian Ehalt befasst sich eingehend mit dem Terminus Zeit-Geschichte (S. 1106–1115), wobei er Geschichte als die wissenschaftliche Erforschung von und Reflexion über Vergangenheit auffasst. Der Mensch ist ein historisches Wesen, menschliches Handeln hat per se eine historische Komponente. Historiker/innen befänden sich heute in der schwierigen Situation breiteres Interesse für ihre Forschung erwecken zu sollen, aber nicht mehr klassisch „erzählen“ zu dürfen (S. 1114). Zeit-Geschichte werde aber, so Ehalt, unter dem Aspekt einer dialogischen Erinnerungskultur immer wichtiger, weil in einem gemeinsamen Europa und in einer sich globalisierenden und zusammenwachsenden Welt Geschichte multiperspektivisch und multifunktional neu erforscht und vermittelt werden müsse (S. 1115).

Die vorliegende Festschrift, die mit ihren zahlreichen Beiträgen ein großes Spektrum wichtiger, teilweise bislang marginalisierter zeitgeschichtlicher Themen abdeckt, wäre es zu wünschen, dass sie einer breiten Öffentlichkeit eben diese Bedeutung der Zeitgeschichtsforschung vermitteln könnte. Dies entspräche Oliver Rathkolbs Rolle als Mentor und Förderer des akademischen Nachwuchses, der sich gegenüber der Gesellschaft verpflichtet fühlt, ihr Zeitgeschichte näher zu bringen.

Anmerkung:
1 Zitiert nach: Oliver Rathkolb, Die paradoxe Republik 1945 bis 2005, Innsbruck 2005, S. 14.

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