D. Kaiser u.a. (Hrsg.): Groovy Science

Cover
Titel
Groovy Science. Knowledge, Innovation, and American Counterculture


Herausgeber
Kaiser, David; McCray, W. Patrick
Erschienen
Anzahl Seiten
416 S.
Preis
$ 25.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dana Mahr, Faculté des Sciences, Section de Biologie, Université de Genève

Seit circa 15 Jahren werden von der Wissenschaftspolitik neue Wege der öffentlichen Partizipation an Prozessen der wissenschaftlichen Erkenntnisproduktion gefordert und auch praktisch erprobt. Schillernde Konzepte wie „Citizen Science“, „Open Science“ und „DIY Bio“ versprechen Bürger/innen, unmittelbar an der wissenschaftlichen Forschung teilhaben zu können. Vor diesem Hintergrund wird nicht weniger als ein umfassender Wandel im Verhältnis von Wissenschaft, Märkten, Gesellschaft und politischer Macht prognostiziert. Spiegelbildlich hierzu beginnen nun aber auch immer mehr Wissenschaftsforscher/innen, diesen Trend zu reflektieren, ihn soziologisch, epistemologisch oder auch historisch einzuordnen und dabei einer kritischen Betrachtung zu unterziehen.

Das von den US-amerikanischen Wissenschaftshistorikern David Kaiser und W. Patrick McCray herausgegeben Sammelwerk „Groovy Science“ kann als ein Teil dieses Reflexions- und Einordnungsprozesses gelesen werden, handelt es sich doch um eine Re-Lektüre des Verhältnisses von amerikanischer Counterculture und Wissenschaft während des Kalten Krieges. Als Ausgangspunkt dient dem Werk die These, dass die Vertreter/innen der amerikanischen Gegenkultur der späten 1960er-, 1970er- und frühen 1980er-Jahre nicht per se wissenschaftsfeindlich eingestellt gewesen seien. Denn obgleich sie die von ihnen als militarisiert und entpersonalisiert empfundene Großforschung ihrer Zeit abgelehnt hätten, die von großen staatlichen Programmen, Rüstungsunternehmen und privatwirtschaftlichen Laboren betrieben wurde, sei ihr Glaube an den sozio-epistemischen Kern der Wissenschaft als eine Institution, die zuvorderst der Menschheit helfen soll, ungetrübt geblieben. Der monolithischen und monopolistischen Großforschung ihrer Zeit setzten sie daher, so die These der Herausgeber, kleinformatige, an lokalen Problemen und marginalisierten sozialen Gruppen orientierte Technologien und Formate der Wissensproduktion entgegen. Für Kaiser und McCray wagten die Vertreter/innen der Gegenkultur damit etwas grundlegend „Neues“ und „Anderes“, was sie mit dem Schlagwort „Groovy Science“ beschreiben (S. 2–3).

Um diesem „Neuen“ auf die Spur zu kommen, orientieren sich die zwölf Beiträge an vier thesenhaften Kategorien: „Konversion“ als die Fähigkeit der „Groovy Scientists“, Ressourcen und Wissensformen der eigentlich abgelehnten institutionellen Wissenschaft für die eigenen Themen zu adaptieren; „Seeking“ als die Verbindung wissenschaftlicher Praxis mit einer quasireligiösen individuellen Suche nach sozialer Handlungsfähigkeit, Authentizität und/oder Nachhaltigkeit; „Personae“ als die Tendenz von Vertreter/innen der Gegenkultur, sich um charismatische Einzelpersonen herum zu formieren; und schließlich „Legacies“ im Sinne der lange verschütteten Rezeptionsgeschichte der einstmals als radikal geltenden Ideen der „Groovy Science“, die sich, so eine weitere These der Herausgeber, tief in den Mainstream der Wissensproduktion eingeschrieben hätten.

Die einzelnen Beiträge des Bandes haben den Charakter von Fallstudien und sind durchgehend von sehr hoher Qualität, so beispielsweise Wendy Klines Aufsatz „The Little Manual That Started a Revolution: How Hippie Midwifery Became Mainstream“ (S. 172–206). Kline zeichnet kenntnisreich die bewegte Geschichte des bis heute erhältlichen Selbsthilfeklassikers „Spiritual Midwifery“ nach: Von einem Faltblatt zur Schulung von Hebammen in ländlichen Regionen Chinas, welches im Jahr 1969 im Rahmen einer UNICEF-Aktion von dem Stanford Chirurgen Leo Eloesser entwickelt wurde, über dessen Wiederentdeckung in einem Bioladen in Oregon durch eine Gruppe von Hippies, die das Ziel verfolgte, eine Selbstversorger-Kommune zu gründen und sich daher auch mit dem Thema von Geburten außerhalb von Krankenhäusern auseinandersetzen musste, bis hin zu mit reichlich Erfahrungswissen gesättigter Erweiterung und Neuauflage dieser Schrift durch Hebammen der Hippie-Kommune. Kline zeigt dabei, dass „Spiritual Midwifery“ zunächst Widerstand in der professionellen Geburtshilfe herausforderte, schließlich jedoch auch dort Verwendung finden sollte und sogar dazu beitrug, die von vielen Amerikaner/innen als „entpersonalisiert“ empfundene klinische Praxis der Geburtshilfe zu reformieren.

Klines Fallstudie sowie viele der anderen Beiträge wie etwa D. Graham Burnetts „Adult Swim: How John C. Lilly Got Groovy (and Took the Dolphin with Him), 1958–1968“ (S. 13–50) zeigen eindrucksvoll, wie Technologien, die ursprünglich für militärische oder wirtschaftliche Zwecke gedacht waren, in gegenkulturelle Kontexte eingebettet wurden und wie sich dabei auch hybride Identitäten entwickelten – so etwa die spiritualistische, holistische, aber auch empirizistische Gedankenwelt des Neurophysiologen John C. Lilly, der mithilfe der Adaption von Methoden der militärischen Gedankenkontroll-Experimente der 1960er-Jahre (sowie einer nicht unerheblichen Menge von LSD) seinen eigenen Vorhaben zur Erforschung der Kommunikation zwischen verschiedenen Spezies nachging, oder auch die vielen professionellen Hebammen, die nach der Lektüre und Anwendung von „Spiritual Midwifery“ selbst ein wenig „groovy“ wurden.

Häufig wurde im Kontext des Phänomens der „Groovy Science“ die Autorität der Wissensproduktion von der institutionellen Ebene auf die personelle Ebene übertragen. So entstanden mitunter sektiererische Strukturen, die sich um hybride Identitäten herum formierten (S. 5). Diese verbanden virtuos den überkommenen Status des wissenschaftlichen Experten mit demjenigen des gegenkulturellen Ikonoklasten. Diese Form personal gewendeter Wissensproduktion erzeugte massenmediale Aufmerksamkeit und wirkte schließlich sogar transformativ in die amerikanische Gesellschaft hinein. Michael D. Gordin, W. Patrick McCray und Erika Lorraine Milam zeigen dies eindrucksvoll anhand der Beispiele von Timothy Learys LSD-induzierten Transhumanismus (S. 238–269), Hugh Heffners „praktisch-empirischen Untersuchungen“ zur menschlichen Natur (S. 270–304) oder auch Immanuel Velikovs historisierender kosmischer Katastrophentheorie, welche auf einer Re-Lektüre antiker Quellen sowie einer eigenwilligen Interpretation der Himmelsmechanik fußte (S. 207–237). Letztere wirkte auf viele Zeitgenossen (insbesondere aus der Hippie-Bewegung) ähnlich attraktiv wie Erich von Dänikens Schriften im europäischen Raum – sie boten aber auch ein sinnhaftes Deutungsmuster für die Gegenüberstellung der politischen Machtblöcke des Kalten Krieges.

Bei all den im Band versammelten Beispielen von gegenkultureller Aneignung, kontextueller Modifikation und Reintegration von Wissensbeständen, Praktiken und Technologien in den sogenannten „Mainstream“ bleibt in den Augen der Rezensentin aber eine wichtige Frage offen: Bedeutete „Counterculture“ auch „Counterscience“? Gab es, anders ausgedrückt, nicht nur Anstrengungen, Wissenschaft hinsichtlich ihrer sozialen Formen und ihrer Anwendungskontexte anders zu gestalten (was im Band eindrucksvoll nachgewiesen wurde), sondern wurden auch Bemühungen unternommen, den epistemischen Kern von Wissenschaft neu zu denken, also eine andere, eine alternative Institution der Wissensproduktion herbeizuführen? Dies wird in den Beiträgen nicht deutlich. Vielmehr scheint die von den Autor/innen vorgestellte „Groovy Science“ sogar epistemisch eher konservativ gewesen zu sein. Anscheinend wurden von den gegenkulturellen Akteuren klassische epistemische Werte der Wissenschaft wie etwa „Einfachheit“, „Generalisierbarkeit“, „Genauigkeit“ oder „Zweckmäßigkeit“ kaum hinterfragt oder mit komplementären Ideen der Wissensproduktion wie etwa dem Wunsch nach „ontologischer Heterogenität“, der „Diffusion von Machtstrukturen“ oder der „Komplexität von Interaktionen“ verbunden. Es ging den Vertreter/innen der „Groovy Science“ mehr darum, sich wissenschaftliches Wissen anzueignen und auf die eigenen Bedürfnisse auszurichten, als die Institution Wissenschaft auf der Ebene ihrer inhärenten Werte neu zu denken. Das „Neue“ und „Andere“ der „Groovy Science“, das die Herausgeber in ihrer Einleitung anführen, bezieht sich daher mehr auf die soziale Ausgestaltung von Wissenschaft als auf ihre Grundlagen.

Nichtsdestotrotz eröffnet das hier rezensierte Sammelwerk zweierlei: eine frische Perspektive auf die Geschichte der Wissenschaft in der Ära des Kalten Krieges und eine historische Einordnung gegenwärtiger Trends zu mehr öffentlicher Partizipation an Prozessen der wissenschaftlichen Wissensproduktion.