Titel
Neurohistorie. Ein neuer Wissenschaftszweig?


Autor(en)
Langewiesche, Dieter; Birbaumer, Niels
Reihe
Pamphletliteratur 6
Erschienen
Anzahl Seiten
139 S.
Preis
€ 14,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ute Daniel, Institut für Geschichtswissenschaft, Technische Universität Braunschweig

Mehr Pamphlete! Diesen Wunsch erweckt bei mir das ebenso streitbare wie unaufgeregte „Pamphlet“ des Historikers Dieter Langewiesche und des Neurowissenschaftlers Niels Birbaumer. Sein Thema, das an die – je nach Betrachtung – Grundfesten bzw. Grundillusionen des historischen Arbeitens und Forschens rührt, ist die Beziehung zwischen Geschichts- und Neurowissenschaften. Dieses Thema ist sehr viel mehr Streit wert, als ihm bislang zuteilgeworden ist. Die beiden Tübinger Autoren wollen die überfällige Debatte darüber, was die Hirn- und die Geschichtsforschung voneinander lernen können oder müssen, anstoßen und tun das – was für Grundsatzdebatten eher selten ist – in einem unprätentiösen Stil, der ohne verfeindlichendes Vokabular auskommt.

Worum geht es? Über die Neurowissenschaften und den Anspruch, der von einigen Vertretern dieser Disziplinen in den letzten Jahren publizitätswirksam erhoben wurde, die Forschung über die Funktionsweisen des Gehirns zur einzigen wissenschaftlich legitimen Grundlage des Studiums menschlichen Handelns und Verhaltens zu machen, wurde in den letzten Jahren viel gestritten und publiziert. Aufregervokabel war dabei allem voran die „Willensfreiheit“, die neurowissenschaftlich relativiert bzw. bestritten wurde, was seitens der Humanwissenschaften vor allem die Philosophie und Rechtswissenschaft auf den Plan rief. In der Geschichtswissenschaft war es dann der namhafte Frankfurter Mediävist Johannes Fried, der seit der Jahrhundertwende durch seine Aufforderung zur „neurokulturellen Bekehrung“ (S. 19) und zum Ersetzen des bisherigen Methodenkanons durch neurowissenschaftliche Beweisverfahren den Anspruch der Hirnforschung auf Dominanz in den historisch arbeitenden Disziplinen vertrat.1 Die solcherart wissenschaftlich depossedierten Historikerinnen und Historiker hielten sich mit Entgegnungen auf diese Herausforderung weitgehend zurück. Langewiesche und Birbaumer, die ihrerseits nach fruchtbaren Wegen suchen, Vergangenheits- und Neurowissenschaften ins Gespräch zu bringen, gehörten zu den wenigen, die sich kritisch mit Frieds Positionen auseinandersetzten.2

Der Gestus des vorliegenden Büchleins nun ist nicht der des „Nachhakens“. Vielmehr plädieren die Autoren für ihr Anliegen, die historisch und die neurowissenschaftlich forschende Humanwissenschaft zum wechselseitigen Lernen voneinander zu bringen, indem sie viererlei tun. Einleitend historisieren sie die Konkurrenz wissenschaftlicher Disziplinen um Deutungshoheit, die „eine endlose Geschichte“ und als solches nichts Neues darstellt (Kap. „Streit um Hegemonie auf dem Wissenschaftsmarkt und in der Gesellschaft – eine endlose Geschichte“). Zweitens wird die große Spannbreite verschiedenartiger neurowissenschaftlich inspirierter Geschichtsschreibung am Beispiel Frieds und des Harvard-Historikers Daniel Lord Smail illustriert und Frieds Ansatz einer kritischen Analyse unterzogen (Kap. „Zwei gegensätzliche Ansätze zu einer Neurohistorie“ und „Zur Kritik von Johannes Frieds Theorie einer neurokulturellen Geschichtswissenschaft“). Frieds neurowissenschaftlich inspirierter Zugang zur Geschichte bestehe in einer radikalen Reaktion auf ein altbekanntes Problem: dass die Quellen, die der Forschung zugrunde liegen, oft unzuverlässig oder gänzlich irreführend sein können. Auf der Suche nach einem sicheren Boden für historisches Wissen sei er auf diejenigen Vertreter der Neurowissenschaften gestoßen, die den Menschen als „Opfer unbeeinflussbarer Gedächtnisverzerrungen und der ‚unbewussten’ Kräfte unseres Gehirns“ (S. 41) sehen. Diesen Erklärungsanspruch menschlichen Erinnerns und Verhaltens durch eine dem Menschen nicht verfügbare biologisch-physikalische Gehirnstruktur sieht Fried als Chance, „Verformungstypen“ herausarbeiten zu können, die über die Missweisungen von Quellentypen Auskunft geben. Das also, was bislang Quellenkritik heißt und in der fachlichen Kompetenz von Historikerinnen und Historikern liegt, solle durch neurowissenschaftliche Expertise abgelöst werden. Werde diese angewandt, können „’eine ursprüngliche Wahrnehmung und wirkliche Sachverhalte’“ (S. 46) erkennbar werden. Mit anderen Worten: Eine solche Methodik wäre der Königsweg zum Ideal Leopold von Rankes, zeigen zu können, „wie es eigentlich gewesen ist“. Wie atemberaubend ein solcher Salto mortale in eine Geschichtswissenschaft jenseits der Selbstreflexivität ist, wird von den Autoren nur zart angedeutet (S. 46f.).

Drittens geben Langewiesche und Birbaumer in ihrem „so what?“-Kapitel („Vergangenheit wird immer subjektiv wahrgenommen – ein Problem?“) einen kleinen Überblick darüber, wie mit der Standortgebundenheit historischer Quellen in Vergangenheit und Gegenwart umgegangen wurde bzw. wird. Den zentralen Hinweis darauf, wie historischer Erkenntnisgewinn nicht trotz, sondern wegen dieser Standortgebundenheit vieler Quellen der Geschichtsschreibung möglich ist, hat im 18. Jahrhundert bereits Johann Martin Chladenius3 gegeben: Gerade die Unterschiedlichkeit der Perspektiven auf ein Ereignis erlaubt es, über die Wahrnehmungen der Zeit- und Augenzeugen und auch späterer Berichte hinauszugehen (S. 62).

Zum vierten schließlich nennen Birbaumer und Langewiesche zwei Bereiche, die sich ihres Erachtens für ein tatsächlich kooperatives – also die Spezifika keiner der Disziplinen auslöschendes – Zusammenarbeiten von Neuro- und Vergangenheitswissenschaften eignen („Zum Verhältnis von Neuro- und Vergangenheitswissenschaften“). In den Theoriefragen ergänzen sich ihrer Meinung nach die Positionen beider Disziplinen eher als dass sie sich widersprechen (etwa beim Blick auf die aktive Konstruktion von Erinnerungen und Wahrnehmungen oder die Selektivität von beidem). Und im Bereich der Forschung denken sie u.a. an Experimente, die Vergangenheit laborfähig zu machen, indem etwa antisemitische Texte und Bilder auf ihre Wirkungen auf heutige Probanden getestet werden oder neurowissenschaftliche und historische Forscher und Forscherinnen gemeinsam den partiellen Gedächtnisverlust hinsichtlich der Zeit des Nationalsozialismus in weiten Teilen der österreichischen Bevölkerung untersuchen.

Die Sehnsucht nach einem neurophysiologischen Algorithmus, der den direkten Zugriff auf die irgendwie eigentlichen Realitäten der Vergangenheit erlaubt, wird nicht die letzte Spielart des Wunsches nach historischer Gewissheit sein. Das macht die Debatte, zu der von Birbaumer und Langewiesche eingeladen wird, auch über ihren konkreten Anlass hinaus wichtig. Besonders wichtig wäre, dass die historisch arbeitenden Disziplinen die erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten nicht durch die Kritik an Lösungsvorschlägen phantasiebegabter Fachvertreter wie Johannes Fried erledigt glauben. Ja, wir wissen mit Chladenius, dass die Perspektivenvielfalt und -gebundenheit unserer Quellen das Problem und seine Lösung gleichzeitig ist. Aber wie oft wird denn – auch und gerade in der neueren und neuesten Geschichte, die im Gegensatz zu den älteren Epochen über enorme Quellenmassen verfügt – die Chance tatsächlich genutzt, die Kakophonie und Widersprüchlichkeit der Perspektiven, Wertungen und Wahrnehmungen zu erfassen und aus ihnen heraus eine Geschichte zu konstruieren? Eine Geschichte, die die Wechselwirkungen zwischen den widersprüchlichen und kontingenten Wahrnehmungs- und Deutungsweisen untersucht – und die Dynamiken, die sich aus ihnen ergeben? Statt eine Schneise durch diese synchron wirkenden und oft kontingenten Zusammenhänge zu schlagen, die die Konstruktion von diachronen Abfolgen von Bedingungen und Wirkungen erlaubt, was leichter darzustellen ist? Dem 21. Jahrhundert fehlt es bislang noch an Debatten zu diesen und anderen Grundfragen der Forschung über und der Darstellung von Geschichte.

Also: mehr Pamphlete!

Anmerkungen:
1 Siehe hierzu vor allem Johannes Fried, Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik, München 2004.
2 Niels Birbaumer / Dieter Langewiesche, Neuropsychologie und Historie – Versuch einer empirischen Annäherung. Posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) und Soziopathie in Österreich, in: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006), S. 153–175.
3 Johann Martin Chladenius, Allgemeine Geschichtswissenschaft. Mit einer Einleitung von Christoph Friedrich und einem Nachwort von Reinhart Koselleck, Wien 1985 (Neudruck der Ausgabe Leipzig 1752).

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