K. Oschema: Freundschaft und Nähe im spätmittelalterlichen Burgund

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Titel
Freundschaft und Nähe im spätmittelalterlichen Burgund. Studien zum Spannungsfeld von Emotion und Institution


Autor(en)
Oschema, Klaus
Reihe
Norm und Struktur 26
Erschienen
Köln 2006: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
696 S.
Preis
€ 64,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Petra Schulte, Historisches Seminar, Universität Köln

Es wurde geküsst im Burgund des 15. Jahrhunderts, und nicht nur das: Man reichte sich die Hände, umarmte sich, schlief in einem Bett und ritt gemeinsam auf einem Pferd. Unter welchen Personen dies wie und warum geschah, ist der Dissertation zu entnehmen, die Klaus Oschema an der Philosophischen Fakultät der TU Dresden und der École Pratique des Hautes Études in Paris eingereicht und in Paris verteidigt hat. Seine Protagonisten entstammen dem Adel bzw. dem direkten Umfeld des Herzogs. Ihre Handlungen überliefert die burgundische Chronistik, die die genannten Akte im politischen Kontext und, wie Oschema hervorhebt (S. 607f.), ohne erotische Konnotationen beschreibt. Der Verweis auf die Körpersprache und die körperliche Nähe habe vielmehr die Authentizität einer freundschaftlichen Beziehung zum Ausdruck gebracht und neben deren Dauerhaftigkeit auch die des Gemeinwesens insgesamt suggeriert. Im burgundischen Spätmittelalter – einer Zeit, in der der Wandel „vom personal orientierten ‚Feudalstaat’ hin zu einem modern institutionalisierten Staatswesen [...] verunsichert beobachtet“ worden sei (S. 611) – habe das Freundschaftsideal trotz oder gerade aufgrund seiner zunehmenden Verinnerlichung und Emotionalisierung ein Bindeglied zwischen der privaten und der öffentlichen Sphäre geschaffen.

Oschema entwickelt die zu dieser These führende Argumentation auf rund 600 Seiten. Einleitend problematisiert er den Freundschaftsdiskurs im Bereich des Politischen und fragt nach der daraus folgenden Wahrnehmung der politischen Strukturen, der Relevanz des Emotionalen und Persönlichen, der Verortung der Körperlichkeit in der Dichotomie privat – öffentlich, dem Zusammenhang zwischen den verwendeten Gesten und dem emotionalen Befinden sowie dem Anteil der Emotionen in „hochgradig“ personalisierten „Entscheidungs- und Herrschaftsmechanismen“ (S. 25). Die entsprechende Quellengrundlage sieht er weniger in den idealisierenden Traktaten als vielmehr in den historiografischen Texten, die stärker als jene das Kommunizieren der Freundschaft schilderten und einen Eindruck der „Pragmatik“ des Phänomens (S. 27) vermittelten. Das Burgund der Valois-Herzöge erscheint Oschema „als besonders geeignetes Objekt“, da sich in ihm „ein starkes Zusammenwirken zwischen Literatur und Lebenspraxis“ ebenso beobachten lasse wie der „Umbruch zur Moderne“ und die ihn begleitenden „individualisierenden Tendenzen“ (S. 27).

Auf die kurze, konzise Einführung folgen Kapitel, in denen Oschema nicht nur einen Überblick über die Grundzüge der burgundischen Geschichte (S. 28-43), (Hof-)Kultur (S. 43-53) und Historiografie (S. 169-232) gibt, sondern auch über die aktuellen Forschungen zu „Repräsentation, Institution, Ritual und Herrschaft“ (S. 53-61) sowie zu „Geste und Symbol“ (S. 61-71). Hier führt er den Begriff des imaginaire ein, den er für das Verständnis des Freundschaftsdiskurses als entscheidend ansieht und der seine Arbeit durchzieht. „Deutlicher als das abstraktere ‚Symbol’„ verknüpfe er „die materiellen und geistig vorgestellten Aspekte jener Bilderwelten, welche die Selbstwahrnehmung der zutiefst visuell und körperlich geprägten spätmittelalterlichen Gesellschaften“ (S. 60) bestimmten. Um sich diesen angemessen zu nähern, skizziert Oschema zunächst moderne philosophische, soziologische, philologisch-philosophische und geschichtswissenschaftliche Ansätze (S. 73-107), die Wortgeschichte von amitié/Freundschaft (S. 109-116) sowie die Inhalte antiker, christlicher und französisch-burgundischer Abhandlungen (S. 117-167). Ein für ihn wichtiger Text ist der ‚traité d’amitié’, den er als eine Kopie aus dem zweiten ‚Buch vom Goldenen Vlies’ (1472/73) des Guillaume Fillastre identifiziert und dessen gesonderte Edition er angekündigt hat. Auf dem derart errichteten Fundament aufbauend, unterteilt Oschema die anschließende Analyse in zwei Bereiche: zum einen die systematische Interpretation der Freundschaft in Burgund (Wortgebrauch, Konzept, Inhalte, Beginn, Dauer, Metier der Waffen/Rittergedanke, Freunde/Favoriten des Herrschers) vornehmlich im Spiegel der Chronistik (S. 249-385) sowie ferner die Erfassung der in ihr erwähnten Gesten der Nähe (S. 387-608).

Oschemas Arbeit ist sehr anschaulich geschrieben und besitzt in Teilen Handbuchcharakter. Dass das Buch nicht nur eine Bereicherung für die Burgund-Forschung darstellt, sondern darüber hinaus von all denjenigen zur Hand genommen werden sollte, die sich mit dem Thema „Freundschaft“ beschäftigen, steht außer Frage. Gleichzeitig reizt es zum weiteren Nachdenken, das seinen Ausgang von dem Begriff der Emotion und dessen Bedeutung in der Politik des 15. Jahrhunderts nehmen muss. Denn das Konzept der Freundschaft erfuhr in dieser Zeit nicht primär, zumindest nicht allein eine neue Betonung des Gefühls. Auch markiert es nicht das letzte Aufbäumen des Mittelalters, eine Zuflucht der Menschen vor der Maschine „Staat“. Es zeigt vielmehr deutlich in Richtung Moderne.

In der politischen Theorie des Spätmittelalters begann die hinter der Freundschaft stehende Liebe zur Richtlinie sozialen Verhaltens zu werden, die als eine Pflicht des Einzelnen gegenüber jedermann zum Wohle des Gemeinwesens galt und sich in der Gesinnung und in der Tat manifestieren sollte. Guillaume Fillastre beschrieb im zweiten ‚Buch vom Goldenen Vlies’ die Liebe als ein Gebot Gottes und ein Naturgesetz (loy naturelle).1 Die Glieder des mystischen, politischen Körpers hätten sich ebenso wie die des natürlichen zu lieben und sich zum gemeinsamen Glück und Wohlergehen wechselseitig zu erfreuen.2 Den ‚traité d’amitié’ leitete Guillaume Fillastre mit den Worten ein, dass jeder dem anderen zur Liebe verpflichtet sei. Da es die Gerechtigkeit gebiete, jedem das Seine zu gewähren und das, was man ihm schulde, handelten wir dann gerecht, wenn wir den anderen liebten und ihm das Schuldige zahlten. So scheine es, dass die Liebe von der Gerechtigkeit komme. Und weil sich die Freundschaft von der Liebe und diese von der Gerechtigkeit ableite, folge daraus, dass die Freundschaft als Tochter der Gerechtigkeit angesehen werden müsse.3 Dies ist die eine und von Oschema unberücksichtigte Ebene. Die sie prägenden Gedanken, die für die Beziehung zwischen Herzog und Untertanen andere Konsequenzen besaßen als für die zwischen Personen gleichen Ranges, dienten jeder Form der politischen Institutionalisierung im 15. Jahrhundert als Leitidee.

Eine weitere Ebene stellt die der Praxis dar, die die individualisierte Anrede „Freund“ nur in Verbindungen zwischen Gleichrangigen akzeptierte (S. 233-248). Oschemas grundlegende Beobachtungen zur Freundschaft als sozialem Phänomen ergänzen die ideengeschichtlichen Überlegungen.4 Die Frage der Gewichtung bleibt jedoch offen. Veranschaulicht die inszenierte Nähe tatsächlich die „Spontaneität und Authentizität“ (S. 613) einer Emotion? Oder verweist sie auf die Umsetzung des Versprechens, den ethischen Verpflichtungen einer Freundschaft dauerhaft nachzukommen und damit implizit den Frieden und materiellen Wohlstand einer großen Zahl an betroffenen Menschen zu sichern? Anhand der Gesten und rituellen Handlungen, deren Repertoire beschränkt war, ist dies kaum zu entscheiden. Körperliche Präsenz hätte das äußere Sichtbarmachen von Freundschaft in beiden Fällen erfordert. Mit Recht betont Oschema, die Freundschaft zwischen Adligen dürfe im Burgund des 15. Jahrhunderts nicht ausschließlich unter pragmatischen Gesichtspunkten betrachtet werden (S. 613). Dass die ihr inhärente Treue stattdessen auf einer „nur vage greifbaren Affinität“ basierte, die nicht mit „Gründen zu untermauern“ gewesen sei und selbst „Sinn stiften“ sollte (S. 383), erscheint mit Blick auf die politischen Konsequenzen allerdings ebenfalls nicht völlig überzeugend. Der Florentiner Brunetto Latini nannte in seinem ‚Tresor’, den er um 1268 im französischen Exil verfasste, die Liebe nicht eine Gemütsbewegung (passïon), sondern einen Habitus (abit).5 Oschema thematisiert das Spannungsverhältnis von Gefühl und Tugend unter Bezugnahme auf die zeitgleich entstandene ‚Summa theologiae’ des Thomas von Aquin (S. 147-149), macht es aber nicht fruchtbar. Eine genaue Analyse könnte über den imaginaire der Freundschaft im spätmittelalterlichen Burgund vertiefende Aufschlüsse bieten. Doch, und dies lässt sich als Fazit festhalten, ist die Studie von Oschema auch so derart anregend, dass man vor ihr den Hut ziehen muss.

Anmerkungen:
1 Guillaume Fillastre, Le second livre de la thoison d’or, Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Archiv des Ordens vom Goldenen Vlies, Hs. 2, fol. 357vb.
2 Ebd., fol. 357va.
3 Ebd., fol. 25rb.
4 Vgl. auch Sère, Bénédicte, Penser l’amitié au Moyen Âge. Étude historique des commentaires sur les livres VIII et IX de l’Éthique à Nicomaque (XIIIe-XVe siècle), Turnhout 2007.
5 Brunetto Latini, Li Livres dou Tresor, ed. F. J. Carmody, Berkeley 1948, II.43.7.

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