Mit Russlands Überfall auf die Ukraine ist ein Phänomen in die soziale Wirklichkeit Europas zurückgekehrt, das lange Zeit überwunden schien: das Leben unter militärischer Besatzung. Der Blick auf die Gegenwart weckt zugleich Erinnerungen an die Vergangenheit, insbesondere an die Zeit des Zweiten Weltkriegs, als deutsche Truppen halb Europa besetzt hielten. Während die Erfahrung der Besatzung in den seinerzeit betroffenen Ländern Teil des kollektiven Gedächtnisses ist, steht die historische und sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen hierzulande noch weitgehend am Anfang. Worin besteht die eigentümliche Realität von Besatzungsgesellschaften, in denen weder Krieg noch Frieden herrscht, Gewalt aber immer gegenwärtig ist? Mit welchen Strategien arbeiten die Besatzer? Und wie gestaltet sich das alltägliche Zusammenleben von Soldaten und Zivilisten, in dem beide Gruppen gezwungen sind, beständig miteinander zu interagieren?
Eröffnet wird das Heft von Tatjana Tönsmeyer, die in das Thema einführt und erklärt, warum "Nach dem Ende der Kämpfe" keine Zeit des Friedens beginnt, sondern "Asymmetrien, entmündigte Staatlichkeit und der Schein von Normalität" das Leben der Menschen bestimmen. Um Schilderungen von Überlebenden geht es anschließend bei Gelinada Grinchenko, die mit Zeitzeuginnen über "Das Alltagsleben im besetzten Charkiv" zur Zeit des Zweiten Weltkriegs gesprochen hat: "Sehr schwer ist es gewesen, und doch haben wir irgendwie überlebt". Vom repressiven Vorgehen des russischen Militärs in den besetzten Gebieten der heutigen Ukraine und den einschneidenden Folgen für die Zivilbevölkerung berichtet Katerina Sergatskova in "Die Besatzung verändert das Leben für immer". Eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart spannt Sibel Koç, die in ihrem Beitrag "Die alliierte Besatzung Istanbuls und ihre Nachwirkungen auf Europa-Bilder in der heutigen Türkei" untersucht. Unter dem Titel "Afghanistan und die Rolle militärischen Zwangs – zwischen Besatzung und Intervention thematisiert" Florian P. Kühn Unterschiede zwischen den Regimeformen und erörtert die Gründe für das Scheitern der westlichen Afghanistan-Mission. Abgeschlossen wird der Schwerpunkt durch ein Gespräch mit Thijs Bouwknegt, der mit einer Gruppe von Forschenden die niederländische Beteiligung am Afghanistan-Einsatz untersucht und dabei vor allem einer Frage nachgeht: "Haben wir das Richtige getan?"
Zum Ortstermin treffen wir diesmal Martin Bauer, der uns bei einem Spaziergang über den "Dreifaltigkeitsfriedhof II" in Berlin-Kreuzberg nicht nur die Geschichte des Ortes näherbringt, sondern uns neben den kulturellen und architektonischen Besonderheiten des deutschen Friedhofswesens auch dessen bürokratische Eigentümlichkeiten vor Augen führt.