F. Fritzen: Gemüseheilige. Eine Geschichte des veganen Lebens

Cover
Titel
Gemüseheilige. Eine Geschichte des veganen Lebens


Autor(en)
Fritzen, Florentine
Erschienen
Stuttgart 2016: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
183 S., 14 SW-Abb.
Preis
€ 21,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhild Kreis, Historisches Institut, Universität Mannheim

Historiker weisen gern darauf hin, dass es bestimmte Entwicklungen und Phänomene auch schon „früher“ gegeben habe. Was mitunter besserwisserisch daherkommt, erhellt doch manche Tiefendimensionen eines Themas. Florentine Fritzen, Historikerin und Politik-Redakteurin der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, beleuchtet das „Früher“ eines aktuellen Trends, des Veganismus, dessen Entstehungszusammenhänge und Geschichte jenseits eines kleinen Kreises an Ernährungshistorikern weitgehend unbekannt sein dürften. Während zum Vegetarismus als der bewussten Entscheidung für eine fleischlose Ernährung bereits einige historische Studien vorliegen1, ist der radikalere Ansatz, auch auf Eier, Milch, Honig, Leder und andere tierische Produkte zu verzichten, geschichtswissenschaftlich noch kaum erforscht.

Gestützt auf Vorarbeiten aus ihrer 2006 erschienenen Dissertation2, wendet sich Fritzens schlankes Büchlein von nur etwa 160 Textseiten ausdrücklich an ein breites Publikum. Ohne Anmerkungsapparat und in einfacher – manchmal fast zu einfacher – Sprache präsentiert die Autorin einen chronologischen Überblick vom späten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Etwa auf halber Strecke, im Jahr 1944, prägte der Brite Donald Watson den Begriff „vegan“, der sich seit den 1960er-Jahren auch in der Bundesrepublik durchzusetzen begann. Dieses Datum strukturiert den Aufbau des Buches: Es ist unterteilt in die Zeit „bevor es das Wort gab“ und die Jahrzehnte „seit es das Wort gibt“, verbunden durch die „Erfindung des Wortes“ als Scharnier.

Der Titel „Gemüseheilige“ verweist darauf, dass die vegan lebenden Zeitgenossen meist als Sonderlinge galten. Auch viele Vegetarier, die seit dem späten 19. Jahrhundert in Vereinen organisiert waren, zumindest in den Großstädten vegetarische Restaurants besuchen und in Reformhäusern einkaufen konnten, hielten die „strengen Vegetarier“, wie die Veganer zunächst genannt wurden, mindestens für seltsam. Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein blieben die Veganer neben der weitaus größeren Gruppe der Vegetarier zahlenmäßig unbedeutend.

Warum also ein Buch über eine solche Minderheit, die kleine Schwester des Vegetarismus? Die schiere Existenz der Veganer provozierte, denn ihre Lebensweise stellte die vermeintlichen Gewissheiten und liebgewonnenen Gewohnheiten derjenigen in Frage, die weiterhin tierische Produkte zu sich nahmen oder verwendeten. Fritzen benennt diese Auseinandersetzungen, die um medizinische, ethisch-moralische, aber auch politische Fragen kreisten: Welche Ernährungs- und Lebensweisen galten für den Menschen als gesund – und warum? Wie sollte das Verhältnis zwischen Mensch und Natur, insbesondere zwischen Menschen und Tieren aussehen? Wie wirkten sich vegetarische und vegane Lebensweisen auf den menschlichen Sozialcharakter aus – wäre eine Gesellschaft der Pflanzenesser friedlicher und kultivierter als eine, in der Fleisch und andere tierische Produkte aus dem Alltag nicht wegzudenken waren?

Auch die vegetarische Lebensweise warf diese Fragen auf, der Veganismus jedoch in einer Radikalität, die den Verzicht nur auf Fleisch fast inkonsequent erscheinen ließ und dadurch noch einmal eine andere Perspektive eröffnet. Im Verlauf von fast anderthalb Jahrhunderten veränderten sich die Rahmenbedingungen, in denen solche Themen diskutiert wurden, doch als Grundfragen blieben sie im Prinzip unverändert (und bis heute) aktuell, ob nun im alternativen Milieu des späten 20. Jahrhunderts oder bei den militanten Tierschützern im Zeitalter der industriellen Massentierhaltung, den lebensreformerischen Anstalten um die Jahrhundertwende oder im christlich und pazifistisch geprägten, vegan lebenden Nazoräer-Orden, den der evangelische Theologe und Pfarrer Carl Anders Skriver 1952 gründete.

Im Spannungsfeld zwischen Gesundheitserwägungen, Tierschutz und gesellschaftsreformerischen Motiven standen hinter der Entscheidung für ein veganes Leben unterschiedliche Weltanschauungen und Ziele. Fritzen stellt sie ebenso vor wie die Organisationen, in denen sich Veganer zusammenschlossen. Sie schildert den Kampf um die Etablierung veganer Produkte erst im Reformwarensektor, sehr viel später auch im konventionellen Handel. Das ist unterhaltsam, wenn auch manchmal etwas sprunghaft geschrieben und entwirft ein vielgestaltiges Bild des Veganismus gerade in seiner Abgrenzung gegenüber dem Vegetarismus. Dennoch ist der Blick begrenzt, denn Fritzen untersucht nur die organisierten Veganer (und auch Vegetarier) – diejenigen also, die einem Verein angehörten, in den entsprechenden Publikationsorganen schrieben oder vegane Produkte auf den Markt brachten. Nicht beleuchtet werden diejenigen, die ohne Einbindung in eine Gruppe vegan lebten, und somit bleibt auch die Frage nach der Funktion und der Gewichtung solcher Zusammenschlüsse für den Veganismus offen.

Gravierender ist jedoch eine andere Engführung des Bandes. Obwohl der Veganismus fundamentale Fragen danach aufwarf, was eine „gesunde“ Lebensweise ausmache und welche Rolle dem Menschen in seiner Umwelt zukomme, fehlt eine breitere Einbettung in die medizinischen, ethischen und moralischen Diskurse der jeweiligen Zeit. Fritzen gibt die Argumente der verschiedenen veganen Strömungen wieder, ordnet sie aber kaum in größere Kontexte ein, sondern bleibt überwiegend der Perspektive der Veganer verhaftet. Wie sah der wissenschaftliche Erkenntnisstand über die Bedeutung von Eiweiß, Vitaminen und anderen Nährstoffen aus? Woher bezogen die Veganer das Wissen, mit dem sie ihre Lebensweise zu legitimieren suchten? In welchem Verhältnis standen also Ernährungswissenschaft, (Schul-)Medizin und organisierter Vegetarismus – wer produzierte, wer rezipierte Wissen; wer galt als Experte, wer nicht? Auch die Körperbilder von Veganern und Nicht-Veganern kommen kaum zur Sprache. Ebenso wenig erfahren die Leser über rechtliche Fragen, die das Verhältnis von Menschen, (Nutz-)Tieren und Pflanzen betrafen, und über die Bedeutung vegetarischer sowie veganer Gruppierungen für das öffentliche Meinungsbild zu solchen Themen. Eine solche Kontextualisierung könnte auch dazu beitragen, den Sprung des Veganismus vom belächelten Lebensstil einer bestenfalls als verschroben geltenden Minderheit mit quasi-religiösen Zügen zu einem grundsätzlich akzeptierten, wenn auch weiterhin keineswegs dominanten Trend des 21. Jahrhunderts zu erklären.

Es ist wohlfeil, von einem Sachbuch, das sich auch an ein nicht-wissenschaftliches Publikum richtet, mehr Tiefe und Breite zu verlangen. Dennoch scheint es in diesem Fall angebracht zu sein, nicht zuletzt, weil die grundlegenden Fragen nach den Produktionszusammenhängen unserer Nahrung, Kleidung und vieler anderer Konsumprodukte, nach den gesundheitlichen und ökologischen Folgen unseres Lebensstils, der ethischen Verpflichtung von Individuen und Staaten gegenüber Tieren und Pflanzen sowie nach der rechtlichen Regelung der menschlichen Verantwortung gegenüber der Umwelt so hochaktuell und umstritten sind. Die Geschichte des Veganismus bietet eine Sonde in diese komplexen Zusammenhänge, die weiter aufzuschlüsseln sich lohnt.

Anmerkungen:
1 Siehe etwa Judith Baumgartner, Ernährungsreform – Antwort auf Industrialisierung und Ernährungswandel. Ernährungsreform als Teil der Lebensreformbewegung am Beispiel der Siedlung des Unternehmens Eden seit 1893, Frankfurt am Main 1992; Eva Barlösius, Naturgemäße Lebensführung. Zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende, Frankfurt am Main 1997; Manuela Linnemann / Claudia Schorcht (Hrsg.), Vegetarismus. Zur Geschichte und Zukunft einer Lebensweise, Erlangen 2001.
2 Florentine Fritzen, Gesünder leben. Die Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006; siehe dazu die Rezension von Ulrich Linse, in: H-Soz-Kult, 30.03.2007, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-8902 (07.02.2017).