„Geschichtsbilder“ und „Propagandafilme“ – die beiden Begriffe bezeichnen die doppelte und vielfältig aufeinander bezogene Schwerpunktsetzung des vorliegenden Heftes. Dass der Film wie kein zweites Medium die Geschichtswahrnehmung des 20. Jahrhunderts geprägt hat, ist eine Feststellung, die in der Literatur häufig anzutreffen ist. Ebenso häufig ist der Hinweis darauf, dass nicht wenige der zu visuellen Ikonen von Geschichtsereignissen geronnenen Filmbilder historischen Propagandafilmen entstammen und damit ursprünglich in einen konkreten politischen Wirkungszusammenhang eingebunden waren, der zumeist geflissentlich vernachlässigt wird, oft sogar vollständig verschüttet und vergessen ist. Die vermeintlichen Frontszenen aus THE BATTLE OF THE SOMME (GB 1916), Sergej Eisensteins Re-Inszenierung der Erstürmung des Winterpalasts in OKTOBER (OKTJABR, UdSSR 1927) oder Leni Riefenstahls Parteitagsfilme sind hier nur die prominentesten Beispiele.
Wie aber, so die in diesem Heft grundsätzlich aufgeworfenen Fragen, lässt sich im Einzelfall das Geschichtsbild beschreiben und bewerten, das ihrerseits historisch gewordene populäre Genrefilme jenseits der -kanonisierten Werke zu unterschiedlichen Zeiten der deutschen Filmgeschichte entworfen haben? Und: In welchen ideologischen und situativen Kontexten haben sich bestimmte Propagandapraktiken und -rhetoriken filmisch ausgeformt, um das gesellschaftliche Selbstverständnis und historische Bewusstsein ihrer Zuschauer auf je gewünschte Weise politisch auszurichten?
Roel Vande Winkel, soeben für seinen gemeinsam mit David Welsh herausgegebenen Sammelband Cinema and the Swastika. The International Expansion of Third Reich Cinema (2007) mit dem Willy-Haas-Preis ausgezeichnet, stellt in seinem Beitrag zur deutschen Kulturfilmproduktion im besetzten Belgien Facetten einer Filmpolitik und dokumentarischen Rhetorik in den Mittelpunkt, mit denen der flämische Kulturkreis an den nationalsozialistischen Kulturbegriff einer „Volksgemeinschaft“ angeschlossen werden sollte. Nicht nur Volkskultur, Architektur und Bildhauerei, auch die Literatur diente hier als Folie für die „Erfindung einer Tradition“ der Landschafts- und Heimatideologie, wie Vande Winkel und Ine Van linthout am Beispiel von Boleslaw Barlogs in Flandern spielenden und nach dem Roman eines flämischen Autors entstandenen Spielfilms WENN DIE SONNE WIEDER SCHEINT (1943) aufzeigen. Hans-Peter Fuhrmanns Diskussion von Städtebildern in der DEUTSCHEN WOCHENSCHAU der Jahre 1941-1943 kann nicht nur als komplementäre Fallstudie zur Vande Winkels Untersuchung gelten, in ihren grundsätzlichen Anmerkungen zur ästhetischen Formel eines spezifischen Realismus-Begriffes kann sie auch als theoretische Grundierung der von Vande Winkel angeführten Beispiele aus der Kulturfilmproduktion gelesen werden.
Die Beiträge von Vande Winkel und Fuhrmann verdeutlichen einmal mehr die zentrale Bedeutung, die der Berücksichtigung der konkreten Produktions- und Rezeptionskontexte bei der filmanalytischen Herausarbeitung und filmhistorischen Deutung propagandistischer Inhalte zukommt. Beispielhaft führt dies auch Jutta Schäfers Rekonstruktion von Lichtspielvorführungen vor Kriegsgefangenen während des Ersten Weltkriegs vor, die sich auf bisher vernachlässigte Schriftquellen aus dem Hauptstaatsarchiv in Stuttgart stützen kann. Patrick Vonderaus Studie zu dem von der Forschung bisher weitgehend vernachlässigten antisemitischen Spielfilm PETTERSSON & BENDEL – eine schwedische Produktion von 1933 – betont die Notwendigkeit, Prozesse der ideologischen Ausrichtung auch auf transnationaler Ebene zu reflektieren. Er untersucht sowohl die Produktionshintergründe des Films in Schweden als auch seine Rezeption in Nazi-Deutschland vor dem Hintergrund des als Markenzeichen etablierten Begriffs des „Schwedenfilms“ und ergänzt so die Produktions- und Rezeptionsanalyse durch einen länderübergreifenden Ansatz. Vonderau ergänzt damit die bereits 1971 von Dorothea Hollstein in Antisemitische Filmpropaganda beschriebene Rolle von PETTERSSON & BENDEL als „antisemitischer Lückenbüßer“. Und er geht über die von Gerhard Stahr in Volksgemeinschaft vor der Leinwand? Der nationalsozialistische Film und sein Publikum (2001) als „angekündigtes Pogrom“ und „herrschaftsinternen Konflikt“ analysierten antisemitischen Ausschreitungen nach der Berliner Erstaufführung im Juli 1935 hinaus. Dass Filmpropaganda stets von der Seite der Wirkungsmechanismen gedacht werden muss, die Texte sich im Zuge von Vertrieb und Vermarktung, Aufführungspraxis und Rezeptionsakten erst entfalten, ist an PETTERSSON & BENDEL exemplarisch zu studieren.
Liegt das Hauptaugenmerk der Beiträge von Roel Vande Winkel und Ine Van linthout zu WENN DIE SONNE WIEDER SCHEINT sowie Patrick Vonderaus zu PETTERSSON & BENDEL auf der transnationalen Dimension von NS-Ideologie, so nimmt Ralf Schenk in seinem Text zu Karl Antons antibolschewistischem Melodram WEISSE SKLAVEN (1936) die historisch veränderliche Wirkungsgeschichte über den „Epochenumbruch“ vom „Dritten Reich“ zur Bundesrepublik in den Blick – mit durchaus verblüffenden Ergebnissen.
Jeanpaul Goergen schließlich beschreibt an zwei Beispielen aus dem insbesondere in der ersten Hälfte der 1920er Jahre populären Genre des Historienfilms, wie Bilder von vergangenen Zeiten – sei es die des Barock in DER GALANTE KÖNIG (1920), sei es die des deutschen Kolonialismus in ICH HATT’ EINEN KAMERADEN... (1926) – immer auch als Projektionen und Anverwandlungen der historischen Gegenwart zu deuten sind. Dies gilt natürlich auch für die aktuelle Gegenwart, aus der heraus die filmhistorischen Erkundungen unternommen werden. Berlin, den 27. März 2008
INHALTSVERZEICHNIS
Editorial [3]
Roel Vande Winkel: Flanderns germanisches Gesicht. Deutsche Kulturfilme über das besetzte Belgien [5]
Hans-Peter Fuhrmann: „Ein Gruß der Heimat an die Front ...“ Die Städtebilder in der DEUTSCHEN WOCHENSCHAU von 1941 bis 1943. Zum „Realismus-Begriff“ der DEUTSCHEN WOCHENSCHAU [23]
Jutta Schäfer: „Größere Arbeitslust und erhöhte Leistungen“. Ein Dokument über Lichtspielvorführungen vor Kriegsgefangenen während des Ersten Weltkriegs [33]
Jeanpaul Goergen: Sittenfilm ohne Erotik. Ein Prunkfilm von 1920 über die Liebesabenteuer August des Starken. DER GALANTE KÖNIG (Regie: Alfred Halm) [37]
Jeanpaul Goergen: Heimat Afrika. Conrad Wiene inszeniert 1926 ein vaterländisches Melodrama aus Deutschlands Kolonien. ICH HATT’ EINEN KAMERADEN... [41]
Patrick Vonderau: Zeitnaher Antisemitismus. Wie ein schwedischer Spielfilm von 1933 im nationalsozialistischen Deutschland vereinnahmt wurde. PETTERSSON & BENDEL (R: Per-Axel Branner) [51]
Roel Vande Winkel, Ine Van linthout: „Für den dämlichen Titel kann ich nichts“. WENN DIE SONNE WIEDER SCHEINT (D 1943) nach Stijn Streuvels’ Roman „Der Flachsacker“ im Rahmen der nationalsozialistischen Flandernpolitik [61]
Ralf Schenk: Rote und andere Bestien. Die Karriere eines antibolschewistischen Spielfilms im „Dritten Reich“ und in der Bundesrepublik. WEISSE SKLAVEN (D 1936, R: Karl Anton) [73]
Karin Kühn: Genauere Zeichnung, verbesserte Gradation. Über die neue Restaurierung von Berlin. DIE SINFONIE DER GROSSSTADT [81]
Kay Hoffmann: Der NS-Propaganda auf der Spur. Zur Stuttgarter Ausstellung „Jud Süss. Propagandafilm im NS-Staat“ [83]
Rezensionen:
Jo Fox: Film Propaganda in Britain and Nazi Germany. World War II Cinema. Oxford, New York 2007 (rezensiert von Horst Claus) [88]
Roel Vande Winkel, Ine Van linthout: De Vlaschaard 1943. Een Vlaams boek in nazi-Duitsland en en Duitse film in bezet België. Kortrijk, Brüssel 2007 / WENN DIE SONNE WIEDER SCHEINT. DE VLASCHAARD (D 1943, R: Boleslaw Barlog). DVD. Brüssel 2007 (rezensiert von Michael Wedel) [90]
Endstation Ost. Dokumentarfilme über die andere deutsche Republik. DVD. Berlin (rezensiert von Jeanpaul Goergen) [91]
Rundschau – Aufsätze zur deutsch(sprachig)en Filmgeschichte [92]
Mitarbeiter dieser Ausgabe [95]
Impressum [97]