Themenschwerpunkt (hg. von Michael Prinz):
Aus der Hand in den Mund – Selbstversorgung als Praxis und Vision der modernen Gesellschaft
Die Erwerbsverhältnisse und Lebensgrundlagen der modernen Industriegesellschaft im 20. Jahrhundert veränderten sich bei weitem nicht so eindimensional, wie es sich Geschichtstheoretiker und Sozialwissenschaftler um 1900 vorstellten. Zwar ging die Zahl selbständiger Bauern langfristig zurück, doch parallel zur Verstädterung und zur Ausbreitung der Konsumgesellschaft bebauten immer mehr Arbeitnehmer ein Stück Land, um sich selbst mit Lebensmitteln zu versorgen. Diese Form der Subsistenzwirtschaft entwickelte sich im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts zu einem Massenphänomen. In vielen Regionen – dem Saarland, Südwestdeutschland, dem Ruhrgebiet, Ostwestfalen verdichtete sich die Verbindung von Lohnarbeit und Selbstversorgung zu markanten, langfristig stabilen Konstellationen. Dabei blieb die Selbstversorgung keine Privatsache. Vertretern der Kirchen, konservativen Sozialreformern, selbst Vertretern der Arbeiterbewegung galt sie als Voraussetzung erstrebenswerter wirtschaftlicher und sozialer Krisenfestigkeit.
Die Beiträge des Themenschwerpunktes beschreiben den Umfang des beschriebenen Phänomens, seine Wurzeln und langfristige Entwicklung. Sie gehen diesem Prozess in verschiedenen Regionen nach, vor allem dort, wo diese Kombination zu einem „Markenzeichen“ regionaler Wirtschafts- und Sozialstruktur wurde. Der Band beschäftigt sich darüber hinaus mit der Politisierung des Phänomens, mit dem Versuch, eine Alternative zum Aufstieg der modernen Massenkonsumgesellschaft zu entwickeln, den Widersprüchen, aber auch den eigentümlichen Verbindungen, die sich zwischen den Visionen der Knappheit und des Überflusses ergaben.
Weitere Beiträge des Jahresbandes behandeln – ebenfalls an regionalen Beispielen − das Verhältnis von Wissenschaft und staatlichem Einfluss, untersuchen anhand neuer Quellen den Blick der Verwaltung auf ihre Klientel und berichten über verschiedene vom LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte veranstaltete Tagungen. Die Westfälischen Forschungen beinhalten darüber hinaus – wie in jedem Jahr − eine landeskundliche Zeitschriftenschau und einen umfangreichen Rezensionsteil.
INHALTSVERZEICHNIS
AUS DER HAND IN DEN MUND – SELBSTVERSORGUNG ALS PRAXIS UND VISION DER MODERNEN GESELLSCHAFT
Michael Prinz: Von der Hand in den Mund. Geschichte und Aktualität der Selbstversorgung
Helene Albers: Selbstversorgung und Geschlechterrollen in der bäuerlichen Landwirtschaft Westfalens von 1920 bis 1960
Vera Steinborn: Arbeitergärten im Ruhrgebiet
Sabine Verk-Lindner: Kleingärten und Selbstversorgung – Westfalen und das Ruhrgebiet im Kontext der Gesamtentwicklung des deutschen Kleingartenwesens
Isolde Dietrich: Kleingärten in der DDR. Die Legende von der Selbstversorgung der Ostdeutschen
Rita Gudermann: „Selbstversorgung auf kleinster Fläche“ – Überlegungen zu den Angaben zum Nutzflächenbedarf einer Familie im 19. und 20. Jahrhundert
Thomas Küster: Landwirtschaft und Nebenberuf um 1900. Eine Auswertung statistischer Quellen am Beispiel Westfalens
Clemens Zimmermann: Vom Nutzen und Schaden der Subsistenz. Fachdiskurse über „Arbeiterbauern“ vom Kaiserreich zur Bundesrepublik
Klaus Fehn: Arbeiterbauern im Saarland – Entstehung, Entwicklung und Auflösung einer sozialstrukturellen Konstellation
Andreas Eichmüller: Arbeiterbauern und Nebenerwerbslandwirte in Bayern nach 1945
Heinz Wilhelm Hoffacker: Das Ruhrgebiet als Selbstversorgerlandschaft – Pläne zur partiellen Reagrarisierung der Region in der Zwischenkriegszeit
Daniela Rüther: Vom Kriseninstrument zum Mittel der Familienpolitik – Der Gedanke der Siedlung und Selbstversorgung in der Widerstandsbewegung des 20. Juli 1944
Frank Lohrberg: Debatten über die Funktion von städtischem Grün und Freiflächen in der Stadt- und Raumplanung seit dem Kaiserreich
Michael Prinz: Selbstversorgung – ein Gegenprinzip zur Moderne? Bemerkungen aus historischer Perspektive
WISSENSCHAFT UND STAATLICHER EINFLUSS
Bernd Mütter: Georg Hüffer (1851-1922) – Ein katholischer Historiker zwischen Kirche und Staat, Ultramontanismus und Historismus
Sabine Happ: „Streng vertraulich“. Das Verfahren zur Aberkennung des Ehrendoktortitels von Karl Barth an der Universität Münster (1936-1939)
DIE VERWALTUNG DES INDIVIDUUMS
Martin Dröge/Matthias Frölich: Die Verwaltung des Individuums. Menschen und öffentliche Verwaltung im 20. Jahrhundert
Lydia Kramm: Ein neuer Blick auf psychisch Kranke? Sprachlicher Wandel in Patientenakten der Heilanstalt Hadamar zwischen 1940 und 1960
Matthias Frölich: „Bürokratenterror“? Fürsorgeerziehung zwischen 1945 und 1980 im Spiegel der Einzelfallakten des westfälischen Landesjugendamtes
Alexandra Jaeger: Der Hamburger Beamtenernennungsausschuss. Ein Gremium zwischen Sachorientierung und Politisierung zur Zeit des ‚Radikalenerlasses‘ 1972-1982
Mischa Gallati: Vormundschaft als Interaktionsraum. Überlegungen zum Vormundschaftssystem der Stadt Bern 1920-1950
WEITERE BEITRÄGE
Gerhard E. Sollbach: Markrecht und landesherrlicher Hoheitsanspruch – Die Ordnungen von 1557 und 1575 der Reher Mark in der Grafschaft Limburg
Claus Bernet: Die Geschichte der Quäkergemeinde Minden, Teil 2: Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu ihrer Selbstauflösung 1898
Kurt Schilde: Der Strafprozess zum Pogrom in Siegen vom 10. November 1938 und das Aussageverhalten des Hauptangeklagten im Oktober 1948
KARL-ZUHORN-PREIS
Rita Gudermann: Wasser, Boden und der Strukturwandel der westfälischen Landwirtschaft im 19. Jahrhundert
TAGUNGSBERICHTE
Pablo Holwitt/ Marina Kramm: Kultur und Kulturpolitik in den Städten der Bundesrepublik 1945-2010
Julia Rinser: Medien des begrenzten Raumes: Landes- und Regionalgeschichtliche Zeitschriften im 19. und 20. Jahrhundert
Katharina Stütz: Fragwürdige Ehrungen!? Straßennamen als Instrument von Geschichtspolitik und Erinnerungskultur
JAHRESBERICHTE 2010
Karl Ditt/Bernd Walter: LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte
Anna-Th. Grabkowsky: Historische Kommission für Westfalen
Vera Brieske: Altertumskommission für Westfalen
Christiane Cantauw: Volkskundliche Kommission für Westfalen
Rudolf Grothues: Geographische Kommission für Westfalen
Markus Denkler: Kommission für Mundart- und Namenforschung Westfalens
Walter Gödden: LWL-Literaturkommission für Westfalen
ZEITSCHRIFTENSCHAU
Klaus Schultze/Volker Dinkels: Ausgewählte Beiträge zur geschichtlichen Landeskunde Westfalens in Periodika des Jahres 2010
BUCHBESPRECHUNGEN
Politische Geschichte, Verwaltungs- und Rechtsgeschichte
Henning Albrecht: Antiliberalismus und Antisemitismus. Hermann Wagener und die preußischen Sozialkonservativen 1855-1873 (E. Trox)
Anselm Faust: Politik im Bild. Fotos aus dem Landesarchiv Nordrhein-Westfalen Abteilung Rheinland (M. Köster)
Ingeborg Höting/Ludger Kremer/Timothy Sodmann (Hg.): Das Westmünsterland in der Weimarer Republik und der NS-Zeit. Eine Aufsatzsammlung (H. Lensing)
Harm Klueting: Das Herzogtum Westfalen, Bd. 1: Das kurkölnische Herzogtum Westfalen von den Anfängen der kölnischen Herrschaft im südlichen Westfalen bis zur Säkularisation 1803 (U. Olschewski)
Stefan Leenen u.a.: AufRuhr 1225! Ritter, Burgen und Intrigen – Das Mittelalter an Rhein und Ruhr (W. Ribhegge)
Sabine Mecking/Janbernd Oebbecke (Hg.): Zwischen Effizienz und Legitimität. Kommunale Gebiets- und Funktionalreformen in der Bundesrepublik Deutschland in historischer und aktueller Perspektive (L. Schütte)
Martin Schlemmer (Bearb.): Die Kabinettsprotokolle der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen 1970 bis 1975 (A. Weißer)
Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
Henning Borggräfe: Schützenvereine im Nationalsozialismus. Pflege der „Volksgemeinschaft“ und Vorbereitung auf den Krieg (1933-1945) (R. Blank)
Gaby Flemnitz: „Verschleppt, entrechtet, ausgebeutet“ – Zwangsarbeit und Kriegsgefangenschaft im Kreis Warendorf im Zweiten Weltkrieg (H. Lensing)
Eduard Füller: „Kriegsheimat“. Die Kinderlandverschickung aus dem nördlichen Westfalen im Zweiten Weltkrieg (R. Blank)
Ulrike Gilhaus: Kumpel auf vier Beinen. Grubenpferde im Ruhrbergbau (R. Pöppinghege)
Heinrich Hauser: Schwarzes Revier (O. Schmidt-Rutsch)
Michael Hecht: Patriziatsbildung als kommunikativer Prozess. Die Salzstädte Lüneburg, Halle und Werl in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (St. Pätzold)
Meinolf Nitsch/Rita Gudermann (Hg.): Agrarstatistik der Provinz Westfalen 1750-1880 (L. Schütte)
Wilfried Reininghaus/Reinhard Köhne: Berg-, Hütten- und Hammerwerke im Herzogtum Westfalen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (Chr. Bartels)
Joachim Rüffer: Vererbungsstrategien im frühneuzeitlichen Westfalen. Bäuerliche Familien und Mentalitäten in den Anerbengebieten der Hellwegregion (L. Schütte)
Stephan Selzer: Blau: Ökonomie einer Farbe im spätmittelalterlichen Reich (W. Reininghaus)
Religion und Kirche
Gerhard Best/Michael Feldmann/Ralf Preker (Hg.): 350 Jahre Marienwallfahrt Werl 1661-2011 (L. Krull)
Werner Freitag/Christian Helbich (Hg.): Bekenntnis, soziale Ordnung und rituelle Praxis. Neue Forschungen zu Reformation und Konfessionalisierung in Westfalen (U. Olschewski)
Adel in der Neuzeit
Maarten van Driel/Meinhard Pohl/Bernd Walter (Hg.): Adel verbindet – Adel verbindt. Elitenbildung und Standeskultur in Nordwestdeutschland und den Niederlanden vom 15. bis 20. Jahrhundert/Elitevorming en standscultur in Noordwest-Duitsland en de Nederlanden van de 15e tot de 20e eeuw (H. Conrad)
Bastian Gillner: Freie Herren –- Freie Religion. Der Adel des Oberstifts Münster zwischen konfessionellem Konflikt und staatlicher Verdichtung 1500 bis 1700 (A. Diener-Staeckling)
Katja Schlecking: Adelige Unternehmer im geistlichen Staat. Die Hütten- und Hammerwerke der Freiherren von Dücker zu Menden-Rödinghausen im 18. Jahrhundert (H. Conrad)
Jüdische Geschichte
Stephan Laux: Gravamen und Geleit. Die Juden im Ständestaat der Frühen Neuzeit (15.-18. Jahrhundert) (W. Reininghaus)
Elfi Pracht-Jörns (Bearb.): Jüdische Lebenswelten im Rheinland. Kommentierte Quellen von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart (W. Reininghaus)
Tobias Schenk: Wegbereiter der Emanzipation? Studien zur Judenpolitik des „Aufgeklärten Absolutismus“ in Preußen (1763-1812) (P. Burg)
Hans-Jürgen Zacher: Die Synagogengemeinde Werl von 1847 bis 1941 (U. Olschewski)
Schule und Universität
Stephanie Hellekamps/Hans-Ulrich Musolff (Hg.): Zwischen Schulhumanismus und Frühaufklärung. Zum Unterricht an westfälischen Gymnasien 1600-1750 (U. Olschewski)
Bettina Hitzer/Thomas Welskopp (Hg.): Die Bielefelder Sozialgeschichte. Klassische Texte zu einem geschichtswissenschaftlichen Programm und seinen Kontroversen (Th. Küster)
Jörg Niemer: Vom Domplatz zum Schloss. Die Baugeschichte der Universität Münster von der Gründung bis zum Abschluss des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg (M. Weidner)
Literatur und Publizistik
Gertrude Cepl-Kaufmann/Georg Mölich (Hg.): Konstruktionsprozesse der Region in europäischer Perspektive. Kulturelle Raumprägungen der Moderne (Th. Küster)
Bertram Haller: Die Sammlung Nordkirchen der Universitäts- und Landesbibliothek Münster. Handschriften, Autographen und Drucke der Familien Fürstenberg und Plettenberg aus Schloss Nordkirchen (F.H. Roolfs)
Cornelia Ilbrig (Bearb.): „Im Allgemeinen und denkwürdig in historischer Beziehung“. Georg Arnold Jacobis Lebenszeugnisse, fortgesetzt und um eigene Erinnerungen ergänzt von Victor Friedrich Leopold Jacobi (P. Heßelmann)
Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Hermanns Schlachten. Zur Literaturgeschichte eines nationalen Mythos (K. Netzer)
Biographien und Tagebücher
Hans-Joachim Behr (Bearb.): Die Tagebücher des Ludwig Freiherrn Vincke 1789-1844, Bd. 5: 1804-1810 (M. Dröge)
Helge Bei der Wieden (Hg.): Elisabeth von der Pfalz – Äbtissin von Herford, 1618-1680. Eine Biographie in Einzeldarstellungen (K. Andermann)
Gerd Heinrich: Friedrich II. von Preußen. Leistung und Leben eines großen Königs (T. Schenk)
Helmut Lensing: Ludwig Windthorst – Neue Facetten seines politischen Wirkens (R. Morsey)
Barbara Stambolis: Leben mit und in der Geschichte. Deutsche Historiker Jahrgang 1943 (P. Burg)
Maria Anna Zumholz/Michael Hirschfeld/Klaus Deux (Hg.): Biographien und Bilder aus 575 Jahren Cloppenburger Stadtgeschichte (K. Schultze)
Stadt- und Ortsgeschichte
Claudia Becker u.a./AK Frauengeschichte (Hg.): Frauenleben in Lippstadt. Ein Lesebuch (B. Stambolis)
Wilfried Ehbrecht (Hg.): Soest. Geschichte der Stadt, Bd. 1: Der Weg ins städtische Mittelalter. Topographie, Herrschaft, Gesellschaft (M. Balzer)
Klaus Goehrke: Burgmannen, Bürger, Bergleute. Eine Geschichte der Stadt Kamen (W. Reininghaus)
Ralf Klötzer: Alter Steinweg mit Lambertikirchplatz, Kirchherrngasse, Bolandsgasse, Asche, Julius-Voos-Gasse, Arztkarrengasse, Winkelstraße (M. Weidner)
Markus Naser: Digitale Karten zur Geschichte der Städte in Franken (M. Weidner)
Christoph Nübel: Die Mobilisierung der Kriegsgesellschaft. Propaganda und Alltag im Ersten Weltkrieg in Münster (B. Brunner)
Daniel Peters: Das frühmittelalterliche Gräberfeld von Soest. Studien zur Gesellschaft in Grenzraum und Epochenumbruch (A. Pesch)
Georg Spormecker: Cronica Lunensis civitatis Markanae. Aufzeichnungen eines westfälischen Geistlichen aus dem 16. Jahrhundert (H. Conrad)
Bärbel Sunderbrink (Hg.): Frauen in der Bielefelder Geschichte (B. Stambolis)