Themenschwerpunkt hg. von Michael Hecht
Nahrungsmangel, Teuerung und Hunger stellten kontinuierlich wiederkehrende Bedrohungen für breite Bevölkerungsschichten dar. Bis zum 19. Jahrhundert folgte ein drastischer Anstieg der Lebensmittelpreise oft – etwa in den Jahren 1770/72, 1816/17 und 1846/47 – auf witterungsbedingte Missernten und ließ die Sorge um das „tägliche Brot“ anwachsen. Zudem gehörten Hunger, Entbehrung und Not zu regelmäßigen Begleit- und Folgeerscheinungen von Kriegen.
Während Hungerkrisen in der klassischen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte meist mit quantitativen Methoden und im Hinblick auf Kausalitätsmodelle erforscht wurden, haben jüngere kulturgeschichtliche Ansätze weitere Perspektiven eröffnet: Von Seiten der umweltgeschichtlichen Hungerforschung wird das Wechselverhältnis von naturaler Umwelt und menschlichem Handeln neu beleuchtet. Alltags- und kommunikationshistorische Zugriffe heben die Frage nach Wahrnehmungsmustern und Bewältigungsstrategien sowie nach der räumlichen Dimension und damit der „Regionalität“ des Phänomens hervor.
Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich der Themenschwerpunkt mit Phasen des Nahrungsmangels in Westfalen, aber auch vergleichend mit anderen Regionen. Gefragt wird nach regionalen Spezifika von der frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert, nach den verschiedenen Medien der Verarbeitung von Hunger- und Noterfahrungen. Ein weiterer Schwerpunkt liegt in der Beschäftigung mit Unruhen und Aufständen im Kontext von Teuerungskrisen. Solche Formen von kollektivem Protest, die sich gegen die vermeintlichen Profiteure der Not und gegen die Obrigkeiten richteten, begleiteten viele Krisen. Sie verweisen auf populäre Gerechtigkeitsvorstellungen und Feindbilder, auf Zuschreibungsprozesse hinsichtlich der Ursachen von Hunger und Teuerung sowie auf zusätzliche gesellschaftliche Konfliktbereiche.
Weitere Beiträge behandeln u.a. die grundherrlichen Widerstände gegen die absolutistische Wirtschaftslenkung in der Grafschaft Mark im 18. Jahrhundert, frühe antisemitische Texte des späteren katholischen Sozialpolitikers Franz Hitze und die Initiativen zur Bodenreform, bäuerlichen Neuansiedlung und „inneren Kolonisation“ auf adeligem Großgrundbesitz in Westfalen nach 1947. Wie gewohnt runden Berichte, Zeitschriftenschau und Buchbesprechungen den Jahresband 2021 ab.
Michael Hecht Hunger, Nahrungsmangel und Protest in regionaler Perspektive – zur Einführung
Lars Behrisch Hungerkrise und Statistik im späten 18. Jahrhundert: Lippe und Bayern im Vergleich
Sebastian Schröder Hunger verwalten in Zeiten der Krise. Herrschaftliche Praktiken im Hochstift Osnabrück und in der Grafschaft Ravensberg (1770–1773)
Lena Kaiser-Kulins Von Schleichhandel, Unterschleif und Contrebande – Schmuggel und illegaler Getreidehandel während der Hungerkrise 1770–1773
Jennifer Staar Die Entstehung der Wöchentlichen Osnabrückischen Anzeigen vor dem Hintergrund der Versorgungskrise nach dem Siebenjährigen Krieg
Ansgar Schanbacher Kleine Schritte. Praktiken des Umgangs mit Nahrungskrisen in Osnabrück im 18. und 19. Jahrhundert
Wolfgang Bender „August ohne Feuer, macht das Brot teuer“. Die Hungerkrise in Lippe 1816/17 und ihre Bewältigung
Stefan Kötz Numismatische Zeugnisse für Hunger und Teuerung in Westfalen (spätes 17. bis Mitte 20. Jahrhundert). Mit besonderer Berücksichtigung einer Teuerungsmedaille von 1847
Daniel Schmidt Hunger an der Heimatfront. Das nördliche Ruhrgebiet im Ersten Weltkrieg zwischen Aufbegehren und Resignation
Christina Riese Hunger als Katalysator der Institutionalisierungsprozesse in der Wohlfahrtspflege. Die Kinderunterbringung auf dem Land durch den Diözesancaritasverband Münster 1916–1919
Maximilian Buschmann Die Regierung des Hungerstreiks. Protest, Gefängnis und Psychiatrie in Deutschland, 1913–1934
Nicolai Hannig Protest – Gewalt – Umwelt. Hungerrevolten in der britischen Besatzungszone (1945–1948)
WEITERE BEITRÄGE
Gerhard E. Sollbach Untertanenwiderstand gegen den landesherrlichen Mühlenbann in der Grafschaft Mark während der Regierungszeit König Friedrich Wilhelms I.
Wilfried Reininghaus Hypothekenbücher – eine kaum bekannte Quelle zur westfälischen Geschichte des 18. Jahrhunderts
Olaf Blaschke Franz Hitze − Der Sozialreformer als Repräsentant des katholischen Antisemitismus
Thomas Hacker Rekonstruktion (fast) vergessener Biographien. Borkener Bürgermeister zwischen 1933 und 1945
Thomas Spohn Bodenreform und Bauernsiedlung in Westfalen 1947 bis 1962
TAGUNGSBERICHT
Christian Rau „Varianten des Wandels. Neue Perspektiven auf die Region in der jüngsten Zeitgeschichte 1970-2020“, Münster (digital), 17./18. März 2021
JAHRESBERICHTE 2020des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte und der wissenschaftlichen Kommissionen
ZEITSCHRIFTENSCHAUAusgewählte Beiträge zur geschichtlichen Landeskunde Westfalens in Periodika des Jahres 2020
BUCHBESPRECHUNGEN
Verfassung, Politik und Verwaltung
Johannes Keders (Hg.) 200 Jahre Recht auf Recht. Oberlandesgericht Hamm/das.besondere, Hamm 2020 (S. Felz)
Johannes Keders (Hg.) 200 Jahre Recht auf Recht. Oberlandesgericht Hamm/ins.besondere, Hamm 2020 (S. Felz)
Philipp Lenser/Jan Stalder/Knut Langewand Entscheidungskulturen um 1900. Mit einem Vorwort von Werner Freitag, Bielefeld 2020 (P. Burg)
Anna Rothfuss Korruption im Kaiserreich. Debatten und Skandale zwischen 1871 und 1914, Göttingen 2019 (Th. Küster)
Manfred Josef Thaler Die Domkapitel der Reichskirche vom Wiener Konkordat bis zur Säkularisation (1448–1803). Grundzüge ihrer Verfassung im Vergleich, Frankfurt a.M. 2017 (J. Wunschhofer)
Renate Wieland Protestantischer König im Heiligen Reich. Brandenburg-preußische Reichs- und Konfessionspolitik im frühen 18. Jahrhundert, Berlin 2020 (P. Burg)
Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
Uwe Balder Kleidung zwischen Konjunktur und Krise. Eine Branchengeschichte des deutschen Textileinzelhandels 1914 bis 1961, Stuttgart 2020 (W. Reininghaus)
Frank Becker/Daniel Schmidt (Hg.) Industrielle Arbeitswelt und Nationalsozialismus. Der Betrieb als Laboratorium der „Volksgemeinschaft“ 1920–1960, Essen 2020 (U. Heinemann)
Achim Bednorz (Fotos)/Walter Buschmann (Text) Der Pott. Industriekultur im Ruhrgebiet, Industrial culture in the Ruhr area, Culture industrielle dans la région de la Ruhr, [Köln] 2020 (Th. Parent)
Nancy Bodden Business as usual? Die Dortmunder Brauindustrie, der Flaschenbierboom und die Nachfragemacht des Handels 1950 bis 1980, Dortmund/Münster 2019 (Th. Küster)
Rudolf Holbach/Stephan Selzer (Hg.) Alles im Fluss. Menschen, Waren, Häfen auf den Wasserwegen vom Rhein bis zur Weichsel, Wismar 2020 (W. Reininghaus)
Jonas Hübner Gemein und ungleich. Ländliches Gemeingut und ständische Gesellschaft in einem frühneuzeitlichen Markenverband. Die Essener Mark bei Osnabrück, Göttingen 2020 (St. Schröder)
Wilfried Reininghaus (Bearb.) Der Arbeiteraufstand im Ruhrgebiet 1920. Quellenkritik und Edition der zeitgenössischen Darstellungen von Carl Brenner, Josef Ernst, Arthur Zickler, Gerhard Colm, Willi Cuno und Siegfried Schulz, Münster 2020 (K. Wisotzky)
Thomas Schürmann Anthrazit. Ibbenbürener Bergbaukultur im Spiegel lebensgeschichtlichen Erzählens, Münster/New York 2020 (K. Wisotzky)
Teil- und Nachbarregionen
Heide Barmeyer/Hermann Niebuhr/Michael Zelle (Hg.) Lippische Geschichte, 2 Bde., Petersberg 2019 (B. Sunderbrink)
Kai Bosecker/Christof Spannhoff (Bearb.) Brenninkmeyer, Langemeyer, Tassemeier. Die Hof- und Familien¬namen auf -meier im Tecklenburger Land, Mettingen 2019 (F.H. Roolfs)
Albrecht Brendler Auf dem Weg zum Territorium. Verwaltungsgefüge und Amtsträger der Grafschaft Berg 1225–1380, Bielefeld 2020 (W. Reininghaus)
Ernst A.F. Culemann Die Rittergüter des Fürstentums Minden. Nachrichten von denen sämtlichen Ritter- und Adelichen Gütern, auch freyen Hoefen und Häußern in Städten und auf dem platten Lande des Fürstenthums Minden […] 1748, Bielefeld 2020 (W. Reininghaus)
Manuel Hagemann Herrschaft und Dienst. Territoriale Amtsträger unter Adolf II. von Kleve (1394–1448), Bielefeld 2020 (W. Reininghaus)
Sebastian Schröder Tecklenburg um 1750. „Geographia Tecklenburgensis“ und „Bereisungs-Protocollum“ des preußischen Kriegs- und Domänenrats Ernst Albrecht Friedrich Culemann. Edition und historische Einordnung, Lage 2019 (P. Burg)
Stadt- und Ortsgeschichte
Johannes Altenberend/Burkhard Beyer (Hg.) Akzisestädte im preußischen Westfalen. Die Stadtrechtsverleihungen von 1719 und die Steuerpolitik König Friedrich Wilhelms I. Beiträge der Tagung am 23. März 2019 in Bielefeld, Bielefeld 2020 (P. Puppel)
Detlef Grothmann/Evelyn Richter (Hg.) Geseke. Geschichte einer westfälischen Stadt, 2 Bde. (Bd. 2 in zwei Teilbänden), Münster 2017/20 (H. Conrad)
Jan Matthias Hoffrogge Der „Wiedertäufermythos“. Münsters umstrittener Erinnerungsort, Münster 2018 (A. von Schlachta)
Rudolf Holbach/Henning Steinführer (Hg.) Hansestädte und Landesherrschaft, Wismar 2020 (W. Reininghaus)
Kay Peter Jankrift Im Angesicht der „Pestilenz“. Seuchen in westfälischen und rheinischen Städten (1349–1600), Stuttgart 2020 (W. Reininghaus)
Stefan Pätzold Bochum. Kleine Stadtgeschichte, Regensburg 2017 (Th. Küster)
Jochen Rath Bielefeld. Eine Stadtgeschichte, Regensburg 2019 (Th. Küster)
Rüdiger Robert Unterm Hakenkreuz, Entstehung und Anfänge des Heimathauses Münsterland im katholischen Telgte, Münster/New York 2019 (B. Weber)
Biographien
Randy Fink Auguste Viktoria. Die letzte deutsche Kaiserin, Wiesbaden 2021 (Th. Parent)
Jörn Ipsen Das Reformwerk Johann Carl Bertram Stüves. Bürgermeister und Deputierter der Stadt Osnabrück – Innenminister des Königreichs Hannover, Göttingen 2019 (P. Burg)
Jörg Kirschstein Auguste Victoria. Porträt einer Kaiserin, Berlin 2021 (Th. Parent)
Josef Meyer zu Schlochtern/Johannes W. Vutz (Hg.) Lorenz Jaeger. Ein Erzbischof in der Zeit des Nationalsozialismus, Münster 2020 (B. Weber)
Norbert Ortgies Zwischen Bolschewismus und Bergpredigt. Ludwig Bitter (1908–1942), Hamburg 2020 (K.-H. Ehlers)
Josephine von Weyhe Franz Graf von Galen (1879–1961). Ein „Miles Christianus“ im Spannungsfeld zwischen Katholizismus, Adel und Nation, Münster 2020 (H. Conrad)