Leviathan 41 (2013), 1

Titel der Ausgabe 
Leviathan 41 (2013), 1
Weiterer Titel 
Mündigkeit

Erschienen
Baden Baden 2013: Nomos Verlag
Erscheint 
vierteljährlich
Preis
Jahrespreis 98,00 € (Druckausgabe und elektronische Ausgabe)

 

Kontakt

Institution
LEVIATHAN. Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft
Land
Deutschland
c/o
Leviathan, Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Redaktion Dr. Claudia Czingon, Wissenschaftszentrum Berlin, Reichpietschufer 50, D-10785 Berlin; Tel. +49 30 25491 536; E-Mail: claudia.czingon@wzb.eu
Von
Blomert, Reinhard

Das Schlagwort der Mündigkeit hat Konjunktur, auch in Bereichen, in denen es eigentlich nichts zu suchen hat. Denn wie mündig kann etwa ein medizinischer Laie gegenüber seinem Arzt sein? Trägt also der professionelle Entscheidungsunterricht, der als medizinische Beratung angeboten wird, tatsächlich dazu bei, den Klienten tiefere medizinische Einsichten zu liefern? In der Regel dient er doch wohl eher der Vereinnahmung der Patienten, wie Silja Samerski in ihrem Beitrag zu diesem Heft meint.

Oder wie steht es um die Mündigkeit der Bürger in der Geldpolitik? Warum kann man nicht das Volk befragen, wie viel Zinsen Griechenland für seine Staatsanleihen zahlen soll? Diese Fragen entziehen sich zwar – wie so viele andere Fragen – der direkten demokratischen Abstimmung, allerdings nicht der Politik. So haben Belgien oder Japan zwar hohe Staatsschulden, aber da die Staatsanleihen direkt und im eigenen Lande vermarktet werden, sind die Zinsen niedrig: Die Bürger haben durchaus Vertrauen in das eigene Land. Staaten, die zum Verkauf ihrer Staatsanleihen Auktionen mit Investmentbanken veranstalten, müssen bekanntlich sogenannte »Marktpreise« bezahlen, die mal in Richtung zu viel Misstrauen und mal in Richtung zu viel Vertrauen übertreiben. Vielleicht sollten Politiker, die behaupten, es gehe darum, das Vertrauen der Finanzmärkte wiederzugewinnen, ihren eigenen Bürgern mehr Vertrauen entgegenbringen.

Wenn, wie in der Eurozone, die Geldpolitik mit der Fiskalpolitik nicht abgestimmt ist, muss man mit politischen Spannungen und ökonomischen Unvereinbarkeiten rechnen, die nach allen historischen Erfahrungen zum Ende einer Währungsunion führen: Alle Währungsunionen, die sich nicht über kurz oder lang zu einem Staat zusammengeschlossen haben, sind wieder zerfallen. Die Überwindung des Abstimmungsmangels in der Eurozone durch ein Austeritätsregime, durch Schuldenbremsen und willkürlich festgelegte Haushaltsrichtlinien kann jedenfalls kein Ersatz sein für makroökonomische Steuerung. Darauf weist Hubert Gabrisch in seinem Beitrag hin und plädiert daher dafür, dass der Euroraum auch zu einem politischen Raum wird, um die Spaltung in Gläubiger und Schuldnerländer zu überwinden und die notwendige Koordination zwischen Geld- und Fiskalpolitik durch eine einzige Finanzbehörde zu erreichen.

In einer nicht ganz logischen Umkehrung von Begriffen erinnert Bill Bonner, der Herausgeber des US-amerikanischen Börsenbriefs „Daily Reckoning“, angesichts der Hypothekenblase daran, was und wie im gegenwärtigen Zeitalter geteilt wird: „Denkt immer daran, dass das gegenwärtige ökonomische System kein Kapitalismus ist, sondern eine Art Marxismus für reiche Leute, in dem die Elite die Profite macht, während die Verluste in der ganzen Bevölkerung umverteilt werden wie Maojacken oder Grippeviren. Das Genialische am gegenwärtigen System ist, dass es den Massen vorgaukelt, sie seien Kapitalisten, und dass es den Spekulanten und Schwindlern damit ermöglicht, ihnen ihre Risiken aufzubürden“.
Das von ihm beschriebene „gegenwärtige System“ ist durchaus etwas Neues, denn die beiden von einer starken Mittelschicht geprägten Gesellschaften der USA und Deutschlands waren in der Nachkriegszeit relativ egalitär. Kaum jemand hätte erwartet, dass die Eliten sich wieder so stark abzugrenzen vermögen von den übrigen Schichten, vieles deutet auf erneute Klassenbildung hin. Sighard Neckel spricht in diesem Heft sogar von Refeudalisierung, einem regelrechten Bruch mit der modernen Sozialordnung durch den Finanzmarktkapitalismus, der zur Zementierung sozialer Ungleichheit geführt habe, was er an vier Entwicklungen festmacht: Verfestigung wirtschaftlicher Macht im Finanzmarktkapitalismus, ständische Verfestigung sozialer Ungleichheit, Wandel ihrer Rechtfertigung in Bezug auf das Leistungsprinzip sowie Privatisierung von Sozialpolitik durch Spenden und Stiftungen.

Nationale Eliten, so sehr sie sich nach unten absichern mögen, haben doch ihre eigenen Sorgen in einer Welt, in der die Staatsgrenzen nicht mehr halten, wofür sie einst errichtet waren: Sie müssen sich gegen die Konkurrenz anderer Eliten wehren die in ihr Terrain eindringen. Insbesondere muss sich die deutsche Wirtschaftselite gegen die angelsächsischen Finanzaristokratien wehren, die seit Jahrhunderten das Geschehen an den Weltbörsen bestimmen und seit der Ausrufung der Globalisierung durch Bill Clinton und den Deregulierungsanstrengungen der EU auch in Kontinentaleuropa frei investieren können. Als Reaktion auf diese politische Öffnung der Märkte für Kapital haben deutsche Konzerne sich im Gegenzug an der New Yorker Börse listen lassen und begonnen, sich nolens volens vom rheinischen Kapitalismus des Hausbankensystems zu verabschieden. Beide Prozesse führten dazu, dass das Shareholder-Value-System auch in Deutschland Mode geworden ist. Die deutschen Wirtschaftseliten mussten sich umstellen und neue Kompetenzen erwerben. Dabei haben sie jedoch, und das ist das überraschende Ergebnis aus den Untersuchungen unserer Autorin Saskia Freye, ihre Kompetenzen, die zuvor hauptsächlich in ihrer industriell-fachlichen Kenntnis bestanden, nicht einfach aufgegeben zugunsten eines rein finanzwirtschaftlichen Denkens nach angelsächsischem Vorbild. Vielmehr sind die Vorstände deutscher Konzerne weiterhin mehrheitlich von Ingenieuren und Technikern besetzt, die sich nun jedoch auch noch finanztechnische Kenntnisse angeeignet haben. Zugleich ging freilich etwas verloren, was für die Deutschland AG wichtig war: Im Zuge des Liberalisierungsprozesses lockerte sich in Deutschland der gesellschaftliche Konsens hinsichtlich des sozialen Zusammenhalts. Mit der Distanzierung der Unternehmerschaft von gesellschaftlicher Verantwortung veränderte sich auch die Art und Weise, wie Konflikte politisch und gesellschaftlich ausgetragen werden. Nicht zufällig haben in diesem Prozess die Juristen, die für eine intime Verbindung zum Staat und zu den gesellschaftlichen Sozialnormen sorgten, einen Bedeutungsverlust erlitten.

Wie es Eliten geht, die sich zu stark auf ausländische Vorbilder beziehen, diese nur kopieren und übernehmen, ohne sie an die Bedingungen der eigenen Situation anzupassen, zeigt das Beispiel Japan: In einem Land, das von Erdbeben gefährdet ist, lassen sich Atomkraftwerke nicht sicher betreiben. Doch die Vorstellung, dass es nun keine Klassen mehr gebe und alle Japaner gleiche Mitglieder einer Risikogesellschaft sind, wie sie Ulrich Beck einst beschrieben hatte, ist nicht haltbar. An den Folgen der Atomkatastrophe von Fukushima zeigt Carmen Schmidt in ihrem Aufsatz, dass auch in der Risikogesellschaft die Schadensverteilung nach Klassen erfolgt: Die Reichen können sich die teureren, unbelasteten Lebensmittel kaufen und damit die Folgen für sich eher eindämmen als die Armen. Bringen Volksbegehren, wie sie neuerlich in vielen Kommunalverfassungen eingeführt wurden, wirklich mehr Demokratie? Armin Schäfer und Harald Schoen zeigen, dass die Wahlbeteiligung nachlässt, die Stimme weniger Formulierungskräftiger also stärker gefördert wird, insbesondere wenn die Beteiligungsverfahren aufwändige und komplizierte Formen annehmen. Als Vertreter der Unmündigen galten lange Zeit Intellektuelle, die den Ausgeschlossenen und Formulierungsschwachen ihre Stimme liehen, darunter Voltaire, Zola oder Frantz Fanon. Zwar sollte man die Intellektuellen nicht idealisieren, aber ob die Fernseh-Intellektuellen von heute noch etwas mit diesen Vorbildern zu tun haben, ist die Frage, die Jan Suntrup stellt.

Inhaltsverzeichnis

INHALTSVERZEICHNIS & ABSTRACTS

Zusammenfassungen Heft 1 2013

Carmen Schmidt
Japan nach Fukushima: Eine ‚Restrisikogesellschaft‘ im Aufbruch?

Seit der Atomkatastrophe von Fukushima rückt die Interpretation fortgeschrittener Gesellschaften als „Risikogesellschaften“ wieder ins Bewußtsein. Lassen sich die Thesen und Prognosen zur Risikogesellschaft nach der Atomkatastrophe in Japan bestätigen und hat die Katastrophe einen Bewusstwerdungsprozess befördert, der politische Lösungen einfordert? Viele der angenommenen Zusammenhänge treffen auf den japanischen Fall zu, doch bedurfte es der sinnlichen Wahrnehmung, um einen Bewußtwerdungsprozess in Gang zu setzen, und die Risikofolgen ließen sich örtlich wie sozial eingrenzen. In fortgeschrittenen Industriegesellschaften werden klassenspezifische Verteilungskonflikte somit nicht ersetzt durch klassenunspezifische Gefährdungslagen. Im Gegenteil scheinen diese als Teil der Konfliktstruktur entwickelter Gesellschaften soziale Ungleichheiten eher zu verschärfen.
S. 6–38

Sighard Neckel
‚Refeudalisierung‘ – Systematik und Aktualität eines Begriffs der Habermas’schen Gesellschaftsanalyse

Der Begriff der „Refeudalisierung“, wie er von Jürgen Habermas in seiner Studie über den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ entwickelt wurde, wird hier rekonstruiert und die Habermas‘sche Analyse mit der aktuellen sozialwissenschaftlichen Diagnose einer „Postdemokratie“ von Colin Crouch verglichen. Dadurch wird das analytische Muster einer Refeudalisierung moderner Gesellschaftsstrukturen sichtbar, und die Modernisierung des gegenwärtigen Kapitalismus wird als Kontinuitätsbruch gegenüber den Maximen der modernen Sozialordnung erkennbar. Der paradoxe Prozess eines gesellschaftlichen Wandels, der im Ergebnis kapitalistischer Modernisierung vormoderne Sozialformen entstehen lässt, wird anhand von Entwicklungen in vier gesellschaftlichen Feldern nachvollzogen: der Organisation wirtschaftlicher Macht im Finanzmarktkapitalismus, der ständischen Verfestigung sozialer Ungleichheit, des Wandels ihrer Rechtfertigung in Bezug auf das Leistungsprinzip sowie anhand der Privatisierung von Sozialpolitik in Gestalt von Spende und Stiftung.
S. 39–56

Saskia Freye
Neue Managerkarrieren im deutschen Kapitalismus? Ein akteursorientierter Beitrag zur Analyse institutionellen Wandels

Umfangreich ist die Literatur, in der die einstmals spezifischen Merkmale und die aktuellen Entwicklungen des deutschen Kapitalismus herausgearbeitet wurden. Über die an zentraler Stelle handelnden Akteure, die Unternehmensleiter, gibt es allerdings nur wenig gesicherte Erkenntnisse. Dieser Umstand ist auch dem geringen Stellenwert geschuldet, den selbst die jüngeren interpretativen institutionentheoretischen Ansätze den Akteuren einräumen. Der Beitrag zeigt, dass die stärkere Einbeziehung der Akteursebene nicht zulasten einer systematischen und institutionentheoretisch verankerten Analyse gehen muss. Empirisch untersucht wird darin der Wandel der Karriereverläufe deutscher Unternehmensleiter zwischen 1960 und 2010 und verknüpft diesen mit den Veränderungen des deutschen Kapitalismus.
S. 57–93

Armin Schäfer/Harald Schoen
Mehr Demokratie, aber nur für wenige? Der Zielkonflikt zwischen mehr Beteiligung und politischer Gleichheit

Die Demokratie erscheint vielen Beobachtern als reformbedürftig, weil traditionelle Beteiligungsformen weniger als in der Vergangenheit genutzt werden. Als vielversprechender Ansatzpunkt, die Demokratie zu erneuern, gilt es, Beteiligungsmöglichkeiten auszuweiten. Mehr Mitsprache der Bürger soll mehr Begeisterung für die Demokratie entfachen. Um dies zu erreichen, wird einerseits das Wahlrecht reformiert und andererseits die direkte Demokratie ausgeweitet. Beide Reformen, so zeigt dieser Aufsatz, können aber dazu führen, dass sich bereits bestehende Beteiligungsunterschiede zwischen sozialen Schichten weiter vergrößern. Anhand von drei Fallbeispielen wird gezeigt, dass nicht alle Bürger an diesen aufwändigeren Beteiligungsformen teilnehmen können und wollen. Im Ergebnis kann mehr Beteiligung das demokratische Ideal politischer Gleichheit gefährden.
S. 94–120

Hubert Gabrisch
Währung ohne Souverän: Zur Ursache und Überwindung der Euro-Krise

Eine Währung benötigt einen Souverän, um Stabilität auf den Finanzmärkten und in der Realwirtschaft zu sichern. Andernfalls würde eine Währungsunion auf kurz oder lang zerfallen. Die aktuelle Krise des Euroraums läßt sich insofern auf das Fehlen eines Souveräns zurückzuführen. Die gängige Theorie des optimalen Währungsraums liefert keine Erkenntnisse zur Überwindung der Krise, weil sie von der Separierung von Geld und Staat ausgeht. Auch deshalb liefert sie eher eine Begründung für Reformen wie den Fiskalpakt, der das wichtigste Vorhaben der EU sein soll, um die Krise zu überwinden. In diesem Beitrag wird gezeigt, dass der Fiskalpakt im Gegenteil zu einer tiefen Rezession und zu einer dauerhaften Kluft zwischen Gläubiger- und Schuldnerländern führen muss. Statt eines Fiskalpakts ist vielmehr eine Transformation der Währungsunion in einen souveränen Währungsraum notwendig, in dem eine effektive Koordination von Geld- und Fiskalpolitik zwischen einer EU-Finanzbehörde mit der Zentralbank im Sinne einer funktionalen Fiskalpolitik möglich wird.
S. 121–143

Silja Samerski
Professioneller Entscheidungsunterricht. Vom Klienten zum mündigen Entscheider

Insbesondere im Medizinbereich hat sich professioneller Entscheidungsunterricht etabliert, durch den Patienten in mündige Bürger verwandelt werden sollen, die informierte Entscheidungen treffen. Das Entscheiden wird dadurch jedoch professionell vereinnahmt. Mitte des 20. Jahrhunderts deuteten neue Management- und Steuerungswissenschaften „Entscheidung“ in einen formalisierbaren Wahlakt um, der gelenkt und optimiert werden kann. Am Beispiel einer medizinischen Beratungssitzung wird gezeigt, wie Patienten zu solchen kalkulierten Wahlakten aufgefordert werden und wie professioneller Entscheidungsunterricht als neue Sozialtechnologie funktioniert.
S. 144–163

Essay

Jan Christoph Suntrup
Zur Rolle des ‚Medienintellektuellen‘ – eine kritische Phänomenologie

Die Sozialfigur des „Medienintellektuellen“ bedarf sowohl einer analytischen Betrachtung als auch einer konzeptuellen Klärung. Bei aller Plausibilität wird gerade das reale Auftreten der klassischen Intellektuellen zumeist idealisiert, während bestimmte Eigenschaften, die vor allem dem „Medienintellektuellen“ zugeschrieben werden, in Wahrheit als konstitutiv für das öffentliche Wirken der modernen Intellektuellen generell angesehen werden müssen. Die Entwicklung der intellectuels médiatiques in der politischen Kultur Frankreichs verdeutlicht entscheidende Züge, die diesem Intellektuellentypus generell eigen sind und sagt zugleich über den Zustand des akademischen Felds und die Qualität demokratischer Öffentlichkeiten viel aus.
S. 164–187

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