Hegemonie ist weniger als Herrschaft, aber mehr als bloßer Einfluss, eine Form der Dominanz, in der Diskussionen mit ausschließenden Wertungen versehen werden, sodass Meinungen, die aus dem akzeptierten Spektrum herausfallen, als „Abweichungen“ gelten und „marginalisiert“ werden. Mit den Begriffen Gramscis unterzieht der Autor Timmo Krüger das „Hegemonieprojekt der ökologischen Modernisierung“ einer Analyse und entdeckt, dass sich die Umweltdebatte in einem Prozess der strategisch-selektiven Aneignung heute auf inkrementelle technische Lösungen (Green New Deal) konzentriert und damit sozialstrukturverändernde Lösungen aus dem Diskurs ausschließt, „marginalisiert“.
Ein anderes Rezept hegemonialer Führung besteht darin, Widerstand durch periodisch lancierte inkrementelle Änderungen langfristig zu brechen. Nach diesem Prinzip agieren die EU-Organe, wenn Europäische Kommission und Europäischer Gerichtshof Integrationsvertiefungen schleichend durch Anwendung und Auslegung europäischen Rechts eigenmächtig herbeiführen. Das Bundesverfassungsgericht, das sich Schritte vorbehalten hat, wenn es klare Verstöße der EU-Organe gegen die Grundlagen der Verfassung erkennt, hat mit einer solchen Selbstbindung kaum eine Chance, da die Änderungen kumulativ und kaum fassbar sind. Benjamin Werner fragt deshalb: Ist das Bundesverfassungsgericht ein zahnloser Tiger?
In diesem Heft gibt es außerdem einen Aufsatz von dem Historiker Wolf Schäfer, der seinerzeit an Carl Friedrich von Weizsäckers Starnberger Institut gearbeitet hat. Er verfolgt die Spuren CFvWs zurück bis in seine frühe Phase, als er als Atomphysiker den Ehrgeiz hatte, die Bombe zu bauen und mit Hitler, der eine deutsche Hegemonie über Europa anstrebte, über ihren Gebrauch zu diskutieren. Später gehörte er zu den Initiatoren des Göttinger Appells gegen die Bewaffnung der Bundesrepublik mit Atomwaffen. Schäfer lehrt in Stony Brook, und ist derzeit in Berlin mit einem Stipendium der American Academy.
Weitere Beiträge sind von Eva Kocher, die sich gegen die Hegemonie einer bestimmten Normalitätsannahme im Arbeits- und Sozialrecht richtet und eine Anpassung an die Tagesnormalität vorschlägt und von Jens Thoemmes, der sich in einer Untersuchung mit den französischen „cadres“, den hochqualifizierten Angestellten, befasst hat und feststellte, dass sie zwar vielfach Herrschaftsfunktionen ausüben, aber keineswegs alle dem hegemonialen Konsens verfallen sind.
Der Leviathan-Artikel zum Eurobarometer wurde in der FAZ (7. Nov 2012) gewürdigt, was wiederum in Brüssel Staub aufgewirbelt hat. In diesem Heft erscheint daher, einer guten wissenschaftlichen Tradition gemäß, eine Replik des betroffenen Demoskopen, Karl Alois Bläser.
INHALTSVERZEICHNIS
Inhalt Heft 3 2013
Begriffe, Positionen, Debatten
1. Karl-Alois Bläser Europa im Spiegel der öffentlichen Meinung Bilanz und Perspektiven des Eurobarometers seit 40 Jahren S. 351 – 357 Zugleich eine Erwiderung auf die „Kritik des Eurobarometers“ von Höpner/Jurczyk (Leviathan Heft 3/2012)
Aufsätze
2. Benjamin Werner Ein zahnloser Tiger? Das Bundesverfassungsgericht und seine Europa-Rechtsprechung S. 358 – 382
Die Institutionen der Europäischen Union (EU) verfügen in vielen – oft hochpolitischen – Sachbereichen über umfangreiche Kompetenzen, mit denen sie verbindliche Entscheidungen von beträchtlicher Reichweite für die Mitgliedstaaten herbeiführen können. In seiner Europa-Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht den Fortgang der europäischen Integration an Auflagen gebunden: Sollten fundamentale Elemente des Grundgesetzes verletzt werden, wären entsprechende Entscheidungen für Deutschland nicht anwendbar („ultra-vires-Kontrolle“). Diese Position ist unter anderem dafür kritisiert worden, dass sie – jedenfalls wenn es um Integrationsvertiefungen durch die EU-Organe geht – praktisch wirkungslos sei, weil die Bemühungen der EU um Standardisierung und Uniformierung einen schleichenden Prozess darstellen, und daher als klare und eindeutige Überschreitung schwer fassbar sind. Den Anspruch, der Integration Grenzen zu setzen, kann das BVerfG folglich tatsächlich nicht im beabsichtigten Umfang einlösen.
3. Wolf Schäfer Plutoniumbombe und zivile Atomkraft Carl Friedrich von Weizsäckers Beiträge zum Dritten Reich und zur Bundesrepublik S. 383 – 421
Der Philosoph und Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker hat lange Zeit ein Geheimnis über sein Engagement im Dritten Reich mit sich getragen: Er war in seinen jungen Jahren an dem Versuch beteiligt, für Deutschland eine Plutoniumbombe zu bauen. Er, der nach dem Schock von Hiroshima öffentlich gegen die militärische Nutzung der Atomkraft auftrat, und die erfolgreiche Göttinger Erklärung initiierte, hat es nicht vermocht, über diese ‚dunkle Vergangenheit‘ öffentlich zu sprechen, weil er sich einredete, die Nachgeborenen könnten und würden das erste Kapitel der deutschen atomaren Geschichte sowieso nie ‚wirklich‘ verstehen. Und weil er fünfzig Jahre lang darüber schwieg, nennt Wolf Schäfer ihn in seinem Aufsatz einen Bremser des gesellschaftlichen Lernprozesses.
4. Timmo Krüger Das Hegemonieprojekt der ökologischen Modernisierung S. 422 – 456
Die 1970er Jahre waren gekennzeichnet durch Ölkrise und eine wachsende Aufmerksamkeit für ökologische Probleme. Umweltbewegungen, die damals sich bildeten, sahen darin die Zeichen einer allgemeinen gesellschaftlichen Krise. Zeitlich verzögert fand die Umweltproblematik auch ihren Weg in die Debatten der Eliten, machte dort jedoch eine Umwandlung durch: Statt von einer fundamentalen gesellschaftlichen Krise sprach man von der Notwendigkeit einer ökologischen Modernisierung und konnte damit sogar den Wachstumsbegriff nahezu umstandslos übertragen in den hegemonialen Diskurs. Mit dieser Schließung des Diskurshorizonts konnten antagonistische Stimmen, die für strukturverändernde Lösungen plädierten, marginalisiert werden. Als Konsequenz ist in den aktuellen Auseinandersetzungen um die ökologische Krise eine Kluft zwischen dramatisierenden Problemanalysen und inkrementellen Lösungsansätzen zu beobachten.
5. Eva Kocher Das Recht auf eine selbstbestimmte Erwerbsbiographie S. 457 – 478 Der Beitrag geht davon aus, dass eine Lebenslaufperspektive für das Arbeits- und Sozialrecht neue Normalitätsannahmen verlangt und schlägt als Konzept hierfür das „Recht auf eine selbstbestimmte Erwerbsbiographie“ vor. Zur Verwirklichung dieses Rechts seien Ansprüche auf Anpassung des Arbeitsverhältnisses grundsätzlich zu trennen von Finanzierungsansprüchen, und die jeweiligen Ansprüche seien prozedural auszugestalten, also mit reflexiv wirkenden Verfahren zu verbinden.
6. Jens Thoemmes Hochqualifizierte Angestellte in Frankreich: Gelassenheit und Widerstand S. 479 – 504
Die Veränderungen der Arbeit von hochqualifizierten Angestellten („cadres“) in Frankreich wurden in einem Forschungsprojekts untersucht, das auf Gesprächen beruht, die in sieben privaten und öffentlichen Unternehmen unter Verwendung einer Diskurs- und Korrespondenzanalyse durchgeführt wurden. Es zeigt sich, dass der französische Begriff „cadre“ keine Einheit darstellt, sondern drei Gruppen umfasst, die einer horizontale Teilung der Welt der Hochqualifizierten entspricht. In der Krise erweisen sich die horizontalen Grenzlinien dieser Gruppen als Bruchlinien für den Gruppenzusammenhang.