Zu diesem Heft – Ordoliberalismus und Demokratie
Das Interesse am Ordoliberalismus hat sich an der Position Deutschlands in der Euro-Krise entzündet – was steckte hinter der harten Haltung des deutschen Finanzministers, der statt durch staatliche Intervention die Wogen zu glätten noch Öl ins Feuer goss und die Funktion des Staates auf andere Weise deutete? In den Sozialwissenschaften ist darüber eine Debatte ausgebrochen, die weit über Deutschland hinausreicht, was bemerkenswert ist, da ordoliberales Denken in den Wirtschaftswissenschaften durch das Erstarken der normativen, an mathematischen Modellen orientierten Mikroökonomie schon seit langem in ein Nischendasein abgedrängt wurde. In den letzten beiden Ausgaben des Leviathan haben wir zwei Beiträge gelesen, die sich mit der Frage befassten, ob es angemessen sei, angesichts der politischen und ökonomischen Entwicklungen in Europa von einer Renaissance der Ordoliberalisierung zu sprechen, wobei die Autoren gegensätzliche Antworten lieferten (siehe Josef Hien und Christian Joerges in 4/2017 und die Replik darauf von Thomas Biebricher in 1/2018). Im vorliegenden Heft erfahren wir, welche Rolle ordoliberale Ideen im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, der auch als »Rat der Fünf Weisen« bekannt ist, spielen und dass sie auf diese Weise trotz akademischer Marginalisierung weiterhin in wirtschaftspolitische Debatten und Entscheidungsprozesse einfließen können. Sebastian Botzem und Judith Hesselmann rekonstruieren die ordoliberalen Netzwerke der Mitglieder des Sachverständigenrats und fokussieren damit die Interessen- und Machtkonstellationen, die der praktischen Tätigkeit und den inhaltlichen Stellungnahmen des einflussreichen Gremiums zugrunde liegen.
Die Frage nach der Ordoliberalisierung Europas spiegelt sich auch in der durch die austeritätspolitische Bewältigung der Euro-Krise entfachten Debatte um die Folgen der Staatsverschuldung wider. Gefährdet Staatsverschuldung die Demokratie und ist die »schwarze Null« als finanzpolitisches Leitziel, wie es in Deutschland gerne von konservativen Kreisen propagiert wird, gerechtfertigt oder nicht? Wo die öffentliche Diskussion überwiegend einseitig geführt wird, wagt Alexander Thiele einen differenzierten Blick, der zu interessanten Erkenntnissen führt: Während die staatliche Kreditaufnahme unter bestimmten Bedingungen demokratieunverträglich zu sein scheint, kann sie unter anderen Bedingungen das Funktionieren demokratischer Prozesse sogar befördern.
Eine wichtige demokratieerhaltende Funktion wird nicht selten der gesellschaftlichen Mittelschicht zugeschrieben, die politische Stabilität gewährleiste und soziale Spaltungen zwischen Arm und Reich entschärfe. Unser Autor Lukas Pfäffle beschäftigt sich mit der Lebensführung dieser interessanten und beständig im Wandel begriffenen Sozialformation, wobei er den bekannten Forschungsperspektiven eine neue Dimension hinzufügt. In Ergänzung zum Ansatz der investiven Statusarbeit (vgl. Olaf Groh-Samberg, Steffen Mau und Uwe Schimank in Leviathan 2/2014), der von der Annahme ausgeht, dass die Mittelschicht stets danach strebt, ihren bereits erlangten Status zu erhalten beziehungsweise zu verbessern, widmet sich der Autor der kulturellen Fundierung der Lebensführung der Mittelschicht und damit der unmittelbar beobachtbaren Vielfalt von Handlungen und Lebensweisen. Dabei rekonstruiert er den bürgerlichen Wert der Selbstständigkeit als ein wesentliches Kulturmuster der mittelschichtspezifischen Lebensführung, der sich in Abhängigkeit von der beruflichen Position ganz unterschiedlich interpretieren lässt.
Entgegen weit verbreiteter Vorstellungen führen auch demokratische Gesellschaften Kriege, und zwar nicht nur aus Gründen der (unmittelbaren) Verteidigung. Im Organismus des postheroischen Rechtsstaates – dazu zählen im Wesentlichen die westlichen Industrieländer des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts – fühlen sich diese Kriege jedoch wie Fremdkörper an, die eine besondere Kontrolle erfordern, um von den Bürgerinnen und Bürgern als legitim anerkannt zu werden. Insbesondere gefallene Soldaten werden in diesen Staaten zum Problem, weil sie die öffentliche Akzeptanz des Krieges gefährden. Daher bedienen sich ihre Regierungen nekropolitischer Strategien des Sichtbarmachens und Unsichtbarhaltens – auf welche Weise wird der Gefallenen gedacht? Wie wird um sie getrauert? Wie wird ihre mediale Präsenz gesteuert? –, die den Umgang mit den Toten bis ins kleinste Detail reglementieren und die kritiklose Hinnahme des Krieges sicherstellen sollen.
Demokratie, die Herrschaft des Volkes, ist nicht immer gleichbedeutend mit der Herrschaft des Guten, sondern kann sich hin und wieder auch als Herrschaft des Egoismus der Vielen offenbaren. Darin liegt auch eine wesentliche Schwierigkeit bei der Transformation zur klimaneutralen Wirtschaftsgesellschaft. Diese Vielen von einem ressourcenschonenden Umgang mit der Natur zu überzeugen, stellt eine enorme Herausforderung dar, der sich David Löw Beer, Teresa Schlüter, Kira Vinke, Katharine N. Farrell und Hans-Joachim Schellnhuber gerne annehmen. In ihrem Beitrag plädieren sie für einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel, der durch eine grundlegende ökologische Transformation eingeleitet werden solle. Davon, wie eine solche Transformation aussehen und finanziert werden könnte, haben die Autor*innen eine ganz konkrete Vorstellung: durch die Gründung eines Staatsfonds, der die Berücksichtigung ökologischer und sozialer Kriterien in den Vordergrund stellt, und zwar radikaler, als dies von existierenden Staatsfonds, beispielsweise dem norwegischen, bislang praktiziert wird.
Von einer anderen, gerechteren Gesellschaft hat auch der politisch engagierte Intellektuelle Charles Wright Mills geträumt. Björn Wendt, Michael Walter und Marcus B. Klöckner untersuchen die aktuelle Relevanz des soziologischen Klassikers, der im frühen 20. Jahrhundert wichtige Studien zu Arbeiter*innen-, Angestellten- und Elitenmilieus vorgelegt, im europäischen Raum allerdings nur wenig Beachtung erfahren hat. Zu Unrecht, meinen die Autoren, denn Mills’ Suche nach emanzipativen politischen Kräften sei für die Soziologie brisanter denn je.
Das emanzipatorische Potenzial, das Mills im Blick hatte, ist in autokratisch geführten Regimen bekanntlich begrenzt. Andersdenkende und Minderheiten, die demokratische Rechte einfordern, werden daran gehindert, ihre Interessen zu artikulieren und durchzusetzen. Auch politische Oppositionelle haben es schwer, als legitime Gegner von der amtierenden Regierung anerkannt zu werden und am politischen Ideenwettbewerb etwa im Rahmen einer Präsidentschaftskandidatur zu partizipieren, was Evelyn Moser in ihrem Beitrag am Beispiel der Herrschaft Putins in Russland eindrücklich schildert. Einem Konkurrenten von Putin ist es unter diesen widrigen Bedingungen dennoch gelungen, im Vorfeld der Wahlen zu Beginn diesen Jahres eine nicht zu vernachlässigende Anhängerschaft zu mobilisieren: Aleksej Nawalny. Wie ihm das gelang, erläutert die Autorin in ihrer prägnanten Analyse unter Rückgriff auf Niklas Luhmanns Inklusionsbegriff und die Feind-Gegner-Unterscheidung von Chantal Mouffe.
Claudia Czingon
Positionen, Begriffe, Debatten:
David Löw Beer, Teresa Schlüter, Kira Vinke, Katharine N. Farrell und Hans-Joachim SchellnhuberTransformationsfonds für die Nachhaltigkeitswende
Alexander ThieleStaatsverschuldung und Demokratie
Aufsätze:
Evelyn MoserAktivistische Attacke Nawalny, Putin und die Möglichkeit politischer Gegnerschaft in einer modernen Autokratie
Lukas PfäffleDie Bürgerlichkeit der Mittelschicht
Sebastian Botzem und Judith HesselmannGralshüter des Ordoliberalismus? Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung als ordnungspolitischer Fluchtpunkt bundesrepublikanischer Politikberatung
Björn Wendt, Michael Walter und Marcus B. KlöcknerDie soziologische Phantasie des C. Wright Mills Zur Aktualität eines unbequemen Klassikers
Essay:
Ulrich Bröckling»Bloß keine Leichensäcke!« Eine Hantologie postheroischer Kriegführung