Den Einstieg in die »Studien« von Heft 1.2015 gibt Robert Brandom. In seinem Aufsatz Den Abgrund reflektieren bringt er Hegel gegen Nietzsche, die Genealogie und das Narrativ der Desillusionierung in Stellung. Die Literaturwissenschaftlerin Anne Fuchs schaut skeptisch auf die Thesen einer »culture of immediacy«, der »Punkt-Zeit« oder des »rasenden Stillstands« im Gefolge einer vermeintlich unaufhaltsamen sozialen Beschleunigung und argumentiert mittels einer Relektüre Freuds für ein zeitpolitisch komplexeres Bild der Moderne, das durch vielfältige und rivalisierende Zeiterfahrungen geprägt ist. Der Soziologe Christoph Deutschmann folgt der Krisendiagnose von Thomas Piketty, empfiehlt eine intensive Auseinandersetzung mit dessen Kapital im 21. Jahrhundert und schlägt eine Zuspitzung vor, indem er den von Piketty vernachlässigten Zusammenhang von Wachstumsdynamik und sozialer Mobilität in die Analyse miteinbezieht.
Das »Stichwort« stellt die Frage nach der Ethik im Finanzsystem. Es fragt nach der Berufsmoral von Bankern, untersucht eine Reihe von »ethischen« Banken, die, aus bestimmten weltanschaulichen Nischen kommend, das Selbstbild einer moralischen Avantgarde pflegen, und beleuchtet kritisch Anspruch und Wirklichkeit der »Äquatorprinzipien«, eines selbstgesetzten ethischen Rahmenwerks zum Schutz von Menschenrechten in internationalen Finanzkonsortien. Die Beiträge von Claudia Czingon und Sighard Neckel, Lisa Herzog, Edgar Hirschmann und Sarah Lenz, Manuel Wörsdörfer sowie Alexander Lorch wollen zeigen, welche Möglichkeiten des Widerstands gegen die »Systemlogik« des Finanzsystems bestehen, aber auch, welche Hindernisse seiner weitergehenden moralischen Einbettung auf der Basis individueller Ansätze entgegenstehen.
In der Rubrik »Eingriffe« betont der Soziologe Berthold Vogel, dass die heutige Erwerbsarbeit nicht auf ihre prekarisierende oder proletarisierende Seite reduziert, sondern im Anschluss an ältere Debatten um die Demokratisierung der Arbeitswelt auch ihre freiheitsgewährende Kraft wieder in den Blick genommen werden sollte. Der Historiker Martin Jay geht zurück in die Entstehungszeit seiner 1973 veröffentlichten Dissertation über die »Frankfurter Schule« und erinnert sich anhand von Briefen und Telegrammen an Begegnungen und Gespräche mit Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Friedrich Pollock und Felix Weil.
Im »Archiv« findet sich ein bislang unveröffentlichter Text von Theodor W. Adorno: die Einleitung in das von ihm im Wintersemester 1960/61 durchgeführte soziologische Hauptseminar über »Probleme der Bildungssoziologie«.
Inhalt
StudienRobert BrandomDen Abgrund reflektieren. Vernunft, Genealogie und die Hermeneutik des Edelmuts 3
Anne Fuchs»Der Zauderrhythmus des Lebens«. Freuds Jenseits des Lustprinzips und der Zeitdiskurs der Gegenwart 27
Christoph DeutschmannPiketty und die Zukunft des Kapitalismus 45
Stichwort: Ethik im Finanzsystem?Hg. von Lisa Herzog und Sighard Neckel 65
Claudia Czingon und Sighard NeckelBanking in gesellschaftlicher Verantwortung? Zur Berufsmoral im Finanzwesen 71
Lisa Herzog, Edgar Hirschmann und Sarah Lenz»Ethische Banken« – Nische oder Avantgarde? 85
Manuel WörsdörferHuman Rights Due Diligence und die Äquatorprinzipien 95
Alexander Lorch: KommentarDie (Re-)Integration der Finanzmärkte als gesellschaftliche Herausforderung 111
Eingriffe
Berthold VogelDie Dynamik der Unverbindlichkeit. Was wir von der Erwerbsarbeit erwarten können 121
Martin Jay»Die Hoffnung, irdisches Grauen möge nicht das letzte Wort haben«.Max Horkheimer und die Dialektische Phantasie133
Archiv
Dirk BraunsteinTheodor W. Adornos Einleitung in das soziologische Hauptseminar »Probleme der Bildungssoziologie« 147
Theodor W. AdornoEinleitung in das soziologische Hauptseminar »Probleme der Bildungssoziologie«, 8. November 1960 153
Mitteilungen
Neues Forschungsprojekt: Verhandlungsformen normativer Paradoxien 169
Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2015 171