Zu diesem Heft – Wenn aus einer Annahme ein Axiom wird
In der Frage des Freihandels gibt es seit dem Aufkommen der Ökonomie als Wissenschaft zwei Lager – das normativ-liberale und das Gegenlager, nennen wir es das historisch-pragmatische. Abbé Galiani etwa betrachtete den Freihandel als ein Instrument der Regierung, das in manchen Situationen Sinn macht, in anderen dagegen weniger. Dabei betonte er, dass bei jeder Regelung die Rolle von einzelnen Faktoren zu beachten ist, die die jeweils spezifisch-historische Situation eines Landes bestimmen. In seinen Dialogen heißt es daher, »dass der größte Fehler der Menschen der ist, sich an Beispiele zu halten und durch Gründe bewegen zu lassen, welche gar nicht auf die Umstände passen«. Auch Adam Smith sah in der englischen Regierung beziehungsweise im König einen Hausvater, der für die Fragen des Handels zuständig ist: »Für jeden klugen Hausvater ist es eine Maxime, niemals etwas im Haus machen zu lassen, was ihn weniger kosten würde, wenn er es kauft. [...] Was aber im Haushalt einer einzelnen Familie klug ist, kann schwerlich in dem eines großen Königreichs töricht sein.« Sein Standpunkt ist der Standpunkt der Grundbesitzer, also einer Konsumentenschicht, die ungern auf bestimmte Importwaren verzichtet – an mehreren Stellen wird sein Ärger über Restriktionen im Handel mit Frankreich deutlich, der dazu führte, dass der von ihm geliebte Claret-Wein nicht mehr geliefert wurde. Der Außenhandel biete also in bestimmten Fällen Vorteile und sollte nicht beschränkt werden. Die Nachteile aber sah er gleichwohl auch: »Obgleich bei einer solchen Wiederherstellung der Handelsfreiheit eine große Menge Menschen auf einmal aus ihrer gewöhnlichen Beschäftigung und ihrem bisherigen Broterwerb gestoßen würde, so folgt daraus doch keineswegs, dass sie nun überhaupt aller Beschäftigung und alles Broterwerbes beraubt wäre [...] [weil] ein Arbeiter seinen Fleiß leicht von der einen auf die andere übertragen kann.« Die Voraussetzung für die Zulassung von ausländischen Waren beziehungsweise ausländischen Investitionen ist also das Vorhandensein eines adsorptionsfähigen inländischen Arbeitsmarktes. Bei den jüngeren Physiokraten dagegen und schließlich bei Ricardo wird aus einem Instrument ein normatives Prinzip, das unabhängig von der konkreten Lage einer Volkswirtschaft gelten soll. Smith, die jüngeren Physiokraten, Ricardo und die liberale Schule sahen hinter dem Freihandel die Verwirklichung einer universalistischen Utopie der Aufklärung, in der eine friedliche Welt des Handels – »le doux commerce« − die kriegerischen Verwicklungen der Staaten überwindet. Doch dass der Handel von selbst nur Wohlfahrt für alle brächte, hat sich seither nicht bewahrheitet. Marx wandte sich in seiner Rede über den Freihandel scharf gegen die Harmonievorstellungen der Klassiker. »Man sagt uns zum Beispiel, dass der Freihandel eine internationale Arbeitsteilung ins Leben rufen und damit jedem Land eine mit seinen natürlichen Vorteilen harmonisierende Produktion zuweisen würde.« Nach einigen Beispielen, die dies widerlegen, fährt er fort: »Wenn die Freihändler nicht begreifen können, wie ein Land sich auf Kosten des anderen bereichern kann, so brauchen wir uns darüber nicht zu wundern, da dieselben Herren noch weniger begreifen wollen, wie innerhalb eines Landes eine Klasse sich auf Kosten einer anderen bereichern kann.« Solange also die Regierungen die wirtschaftlichen Kräfte zügeln und lenken können, solange sie, wie nach dem Zweiten Weltkrieg, die Wechselkurse festlegen und den Kapitalverkehr regulieren können, solange bleibt der kapitalistische Tiger im Käfig und solange lässt sich tatsächlich eine Steigerung der Wohlfahrt und der Gleichheit feststellen. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, als im Westen die Bereitschaft zur Aufrechterhaltung eines Sozialstaats schwand, drängten die liberalen Kräfte zur Deregulierung. Sowohl auf internationaler als auch besonders auf der europäischen Ebene wurde freie Kapitalmobilität erleichtert und so Spekulationen und Überakkumulationskrisen der Weg bereitet. Das Minsky-Schema der Entstehung und des Ablaufs von Krisen lässt sich seit den 1990er Jahren von der Asienkrise über die dot.com-Krise bis hin zur letzten, gewaltigen subprime-Krise und ihrem EU-Pendant im Immobiliensektor der Länder der Peripherie verfolgen. Die Basler Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) hat daraus inzwischen auch ihre Schlüsse gezogen. Unter dem Titel »Understanding globalisation« heißt es dementsprechend im Jahresbericht: »Financial openness exposes economies to destabilising external influences« (18. Juni 2017). Den Schutz von wirtschaftlich bedrohten Gruppen in der Gesellschaft als »reaktionär« zu beschreiben, eine auf den Protektionismus zurückgreifende Politik als »anti-modern« zu betrachten treffen die Sache nicht, aber diese Äußerungen, ebenso wie die Vorstellung, »vom Freihandel würden alle Handelspartner profitieren, geben das Klischee vom linearen Fortschritt wieder, das geradezu zur deutschen Ideologie geworden ist. Aber: Es ist schwer, jemanden von einer Wahrheit zu überzeugen, wenn dessen Existenz davon abhängt, sie zu leugnen. Tatsächlich sind die großen deutschen Konzerne vom Freihandel abhängig wie »Junkies«, wie es Friedhelm Hengsbach einmal formuliert hat − die deutsche Wirtschaft produziert etwa die Hälfte für das Ausland und ist deshalb mehr als alle anderen Staaten auf die Rechtssicherheit, also die Durchsetzbarkeit von Ansprüchen und Währungsstabilität in den belieferten Ländern angewiesen. »Moderne Handelsketten kennen keine Grenzen«, meint Denis Snower, Präsident des Instituts für Weltwirtschaft, aber für die herrschende Strömung in der Ökonomie zählt auch keine Handelsbilanz. Wenn die Ökonomen den Handel als grenzenlos und als Nullsummenspiel betrachten, blenden sie die Machtkämpfe zwischen den Nationalstaaten aus. Das Handelsbilanzdefizit der USA lässt sich jedoch nicht leugnen und beginnt den US-Präsidenten Sorge zu machen. Die schon unter Präsident Obama begonnenen vorsichtigen Schritte, die teils offen gegen Stahldumping, teils als Sicherheitsmaßnahmen gegen den Ausverkauf verteidigungsrelevanter Infrastruktur, teils aus Sanktionen gegen Menschenrechts- oder Völkerrechtsverletzungen sich ergaben, markierten bereits den Beginn einer Neuausrichtung. Im US Council on Foreign Relations mehren sich die Stimmen, die den Verlust an ökonomischer Macht beklagen und den Nutzen geoökonomischer Instrumente zur Erlangung geopolitischer Ziele betonen: Zwar hätten die USA als führender Lieferant globaler öffentlicher Güter ein höheres Interesse daran, den geopolitisch motivierten Gebrauch bestimmter ökonomischer Instrumente (insbesondere Zwangsanwendung) auf einem Minimum zu halten, als andere Länder, aber die geoökonomischen Ziele erwiesen sich in der Außenpolitik als zu wenig entwickelt, nicht allein im Verhältnis zu Ländern wie China, welches eine streng an eigenen Interessen orientierte Außenpolitik betreibe, sondern auch im Verhältnis zu den Veränderungen auf den globalen Märkte selbst, die tiefer, schneller stärker, integriert und gehebelt seien als je zuvor. Das hätte inzwischen dazu geführt, dass die Politik der EU, einer der engsten internationalen Partner der USA, sich in den letzten Jahren zumindest ebenso sehr in der Hand der Anleihemärkte befunden habe wie in den Händen der europäischen Kapitalen. Wer beklagt, dass die von den USA geforderte Neuaufstellung eines internationalen Vertrags wie das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) ein »Zurückdrehen« der »Zeit der Berechenbarkeit, Offenheit und Zusammenarbeit um 23 Jahre« bedeute, übersieht geflissentlich die Tatsache, dass das Handelsbilanzdefizit der USA gegenüber Kanada und Mexiko seit Beginn um 556 Prozent angestiegen ist: Hatten die USA vor NAFTA noch ein geringes Handelsbilanzplus gegenüber Mexiko (2,5 Mrd. US-$) und gegenüber Kanada ein kleines Minus von 29 Mrd. US-$, so summiert sich das Defizit inzwischen auf zusammen 177 Mrd. US-$ (2013). Geld, das freilich nicht alles in Mexiko oder Kanada hängenbleibt, sondern auch auf den Auslandskonten der eigenen US-Unternehmen, die zum Beispiel in Mexiko zu günstigeren Kosten fertigen lassen und ihre Produkte in den USA auf den Markt bringen – ein Modell, das auch die deutschen Autokonzerne verfolgen, die 80 Prozent ihrer in Mexiko gebauten Fahrzeuge zollfrei in die USA verkaufen. So, wie das Welttextilabkommen den Chinesen den europäischen Markt öffnete und der kleinteiligen europäischen Textilindustrie den Todesstoß versetzte – nur wenige Betriebe für Textilmaschinen oder Spezialtextilien überstanden diesen Tiefschlag, andere ließen seither in China fertigen −, so wirkte sich auch die Öffnung der Grenzen durch Reagan und Clinton auf die amerikanische Industrie aus – nur dass die Konkurrenz zum Teil sogar von den eigenen Konzernen kam, die jetzt im Ausland produzieren ließen. Robert Wade beschreibt diese Lage und plädiert in diesem Heft für ein vorsichtiges Zurückrudern hin zum Einsatz protektionistischer Maßnahmen, die dem Staat einen Teil seiner Handlungsmöglichkeiten zurückgeben. Auf die negativen Seiten der Globalisierung hatte schon Paul Samuelson hingewiesen, dessen Aufsatz aber so sehr der herrschenden Meinung unter den Ökonomen widersprach, dass er, kaum beachtet, bald in Vergessenheit geriet: Protektionismus – eines von vielen sinnvollen Instrumenten der Wirtschaftspolitik – war längst ein Schimpfwort geworden. Nun hat eine Reihe von ökonomischen Untersuchungen am Beispiel des »China-Schocks« noch einmal deutlich gemacht, dass Globalisierung auch Verlierer schafft (Wade), die nicht »leicht«, wie Adam Smith es beschrieben hatte, »ihren Fleiß übertragen und in eine andere Beschäftigung überwechseln« können. Sie haben begonnen, sich politisch zu äußern – wenn sie auch ungeschlacht sind im Formulieren und sich ihnen vor allem »extrem« positionierte Parteien als Katalysator anbieten. Über den Zusammenhang von Globalisierung, Postkolonialismus und Vertreibung haben Saskia Sassen oder auch Sandro Mezzadra geschrieben. Mezzadra spricht vom Extraktivismus, von Logistik und Finanzen, die Landschaften und Lebensgrundlagen zerstören, Geografien und Lebensräume verändern und Menschen vertreiben. Statt aber Flüchtlinge als Vertriebene zu betrachten, interpretiert unser Autor Daniel Loick Hannah Arendts Formulierung von den Flüchtlingen als »Avantgarde ihrer Völker« als eine grundsätzliche Infragestellung moderner Nationalstaatlichkeit. Das macht es nötig, ihre Forderung nach dem »Recht, Rechte zu haben« anders als ein Recht auf Mitgliedschaft in einem Nationalstaat zu verstehen. Mit Arendt lasse sich stattdessen ein diasporisches Verständnis menschlicher Sozialität entwickeln. Was auf der Weltebene Globalisierung genannt wurde, wurde in Europa mit einem sehr viel radikaleren Schritt als Einführung des gemeinsamen Marktes gefeiert, der ein ganzes liberales Programm ohne weitere soziale Absicherung auf der europäischen Ebene mit sich brachte. Inwieweit hinter diesem Programm, dessen Betreiber in der Folge der Krise sich entgegen aller historischer Erfahrung nicht scheuten, auf ein paläoliberales Mittel wie die Austerität zurückzugreifen, was zu einer enormen Rezession in diesen Ländern führte, letztlich der deutsche Ordoliberalismus aufscheint, das untersuchen unsere beiden Autoren Josef Hien und Christian Joerges. Die freie Mobilität der Arbeitskräfte musste angesichts der Lohnunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten zur Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt führen und wurde im Falle des Beitritts der osteuropäischen Länder erst nach einem zeitlichen Moratorium zugelassen. Heute wird sie abgeschwächt durch Entsenderichtlinien, die jedoch einen größeren Ausnahmekatalog enthalten. Die Kämpfe, etwa um Mindestlöhne und Entsenderichtlinien, spiegeln sich in den Debatten der europäischen Gewerkschaften wider. Die Vorstellung, die europäischen Gewerkschaften könnten die fehlende soziale Komponente in die EU einbringen, wie es Wulf Loh und Stefan Skupien in Heft 4/2016 des Leviathan dargestellt hatten, befragt Martin Seeliger in seiner Replik auf die beiden Autoren aus der Praxiserfahrung einer eigenen Studie heraus. Können Gewerkschaften im Prozess der europäischen Integration eine gemeinsame politische Linie entwickeln? Die Verlierer sehen freilich überall anders aus und werden unterschiedlich behandelt. Die Folgen sind auch nicht einfach wirtschaftlicher Art, sondern vielfach verbunden mit dem Verlust von strategischen gesellschaftlichen Positionen – sei es der Verlust der privilegierten Stellung der Weißen in den amerikanischen Südstaaten gegenüber der schwarzen und der mexikanischen Bevölkerung oder der weißen Arbeiter in den Industriegebieten Europas. In Frankreich sind es vor allem die Jugendlichen der Vorstädte, deren Eltern oder Großeltern aus dem Maghreb stammen. Ihre Frustration über die Tatsache, dass sie in Frankreich kaum eine Arbeit und wenig Anerkennung finden, entlädt sich in Unruhen in den Banlieues und im Extremfall sogar in Terroranschlägen. Der französische Staat antwortet mit der Verhängung des Ausnahmezustands und zusätzlicher technischer Überwachungsausstattung, von der durchaus fraglich ist, ob sie tatsächlich zu mehr Sicherheit führen (Fabien Jobard in diesem Heft). Auch in Deutschland gibt es mittlerweile Untersuchungen über Verliererregionen als Folge der Grenzöffnungen. Doch überwiegen in der Gesamtbilanz noch die Stärken der Gewinnerregionen (insbesondere Baden-Württemberg und Bayern). So hat laut Südekum et al. speziell das verarbeitende Gewerbe in Deutschland durch den intensivierten Handel mit Osteuropa und China − trotz der dauerhaft negativen Handelsbilanz Deutschlands gegenüber China − gewonnen. Das, so vermuten die Autoren, »könnte ein Grund dafür sein, dass Handelsprotektionismus in der politischen Diskussion hierzulande eine weniger wichtige Rolle spielt als anderswo«. Denn auffällig ist, dass auf die vom deutschen Wirtschaftsminister benannte »Moderne«, also auf die Vorstellung von einer sich über den freien Markt integrierenden globalen Weltwirtschaft, heute nur noch die Exportnationen Deutschland und Japan zu setzen scheinen. Auch die Basler Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, die Zentrale der Notenbanken der Welt, spricht inzwischen von »Deglobalisierung«, da der Bankenverkehr zwischen Nationen seit um 20 Prozent zurückgegangen ist. Europa ist in einer politischen und sozialen Krise, und in solchen Zeiten gäbe es stets die Möglichkeit, umzusteuern und neue Ziele zu setzen – nicht nur soziale, sondern auch Umweltziele. Könnten nicht bestimmte Postwachstumskonzepte und die mit ihnen verbundenen sozialen Innovationen dazu beitragen, ein »Europa der Nachhaltigkeit« zu schaffen? Unser Autor Reinhard Loske beantwortet diese Frage positiv und beschreibt politische Handlungsstrategien, die verfolgt werden müssten, um eine Abkehr von der Wachstumsfixierung in Europa zu erreichen. Abseits von all diesen Entwicklungen, welche das Gesicht der deutschen Wirtschaft verändert haben – sei es aus einem tatsächlichen oder aus einem gefühlten Zwang heraus −, gab es stets auch Familienunternehmen, lokales Gewerbe und Handwerk, die dem allgemeinen Trend nicht unterlagen und sowohl in der Eigentümerstruktur als auch in der Personalpolitik andere Wege gingen (vgl. Caroline Janz in diesem Heft): Die Subjektivierungsprozesse in der Erwerbsarbeit folgen also keineswegs einer unilinearen Entwicklung.
Inhaltsübersicht
Zu diesem Heft – Wenn aus einer Annahme ein Axiom wird.......431
Positionen, Begriffe, Debatten
Martin Seeliger Warum die EU aus gewerkschaftlicher Sicht keine Solidargemeinschaft darstellt................................................438
Aufsätze
Josef Hien und Christian Joerges Das aktuelle europäische Interesse an der ordoliberalen Tradition ........................................................................................459
Caroline Janz Was wir vom Handwerk lernen können: Zwei Subjektivierungsfiguren als empirische Irritationen für den etablierten Subjektivierungsdiskurs.......................................494
Robert H. Wade Ist Trumps Handelspolitik falsch? Nicht ganz − schaut man auf Produktion und Beschäftigung..............................................524
Reinhard Loske Postwachstumskonzepte als Ressource für eine Europäische Union der Nachhaltigkeit Ein Beitrag zur sozial-ökologischen Neuausrichtung Europas......................................................553
Daniel Loick Wir Flüchtlinge Überlegungen zu einer Bürgerschaft jenseits des Nationalstaats.....................................................................574
Essay
Fabien Jobard Terrorismus – nicht nur ein Problem der inneren Sicherheit.......592 429