Eine Stunde Null hat es in Deutschland nie gegeben. Im Kino gab es Vorläufer, Inspirationsquellen und Einflussnahmen, die Weitergabe oder das Weiterleben von Ideen, Ideologien und ästhetischen Herangehensweisen. Statt Zäsuren zu betonen, ließen sich auch Bögen über längere Zeiträume spannen. Nicht mehr das Vorher und Nachher, sondern die Übergänge zwischen den vermeintlich so klar abgegrenzten Epochen, Stilen oder politischen Systemen geraten so in den Fokus. Dies gilt auch für die Zeit nach dem Kriegsende 1945 und ebenso für die Übergangszeit der beiden deutschen Staatsgründungen 1949, wie Friedemann Beyer und Hans J. Wulff anhand zweier westdeutscher Produktionen darlegen. Während Wulff mithilfe des Heinz-Rühmann-Films Das Geheimnis der Roten Katze (1949) vor allem dem Weiterleben der Ufa nachspürt, beleuchtet Beyer die in Trümmern liegenden Seelenzustände der Nachkriegsgesellschaft anhand der Bewohner eines baulich intakten Mietshauses in Die Treppe (1950) – zwei unterschiedliche Formen des „Trümmerfilms“?
Auf die andere Seite des Eisernen Vorhangs blickt Mirko Wiermann in seiner Analyse von Joachim Haslers DEFA-Film Nebel (1963), der nach dem Mauerbau entstand und in Großbritannien spielt. Hasler gelang eine ebenso spannende Kriminalerzählung wie eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Gegenwart des Kalten Kriegs und den Traumata der ungesühnten Verbrechen der NS-Zeit.
Peter Lilienthal, der als Kind vor den Nationalsozialisten aus Deutschland fliehen musste und später zu einem wichtigen Vertreter des Neuen Deutschen Films wurde, war zu Beginn seiner Karriere in den 1960er Jahren ausschließlich für das Fernsehen tätig. Oftmals basierend auf Vorlagen des Absurden Theaters, erarbeitete er sich mit seinen frühen Filmen den Ruf eines Avantgardisten, wie Johannes Dominik Hardt und Frederik Lang ausführen. Noch bevor er seinen ersten Kinofilm drehte, wurde Lilienthal 1966 Regiedozent an der neu gegründeten Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin, wo er seine Kenntnisse an so unterschiedliche Filmemacher wie Daniel Schmid, Wolfgang Petersen, Hartmut Bitomsky, Gerd Conradt oder Wolf Gremm weitergeben konnte.
2020 ist Beethoven-Jahr: Mehr als 50 Jahre und mehrere politische Systeme liegen zwischen den biografischen Filmen über Ludwig van Beethoven, die Anett Werner-Burgmann in ihrem Beitrag analysiert, und mit der Einführung des Tonfilms auch eine grundlegende technisch-ästhetische Revolution, die die Klänge des Meisters endlich auch auf Film bannen konnte.
Inhalt
Editorial [1] Hans J. Wulff: „Alle großen Verbrecher sehen unbedeutend aus!“ Heinz Rühmanns Nachkriegsfilm Das Geheimnis der Roten Katze (1949) [3]
Friedemann Beyer: Abwärts: Alfred Brauns Die Treppe (1950). Ein Panorama seelischer Trümmerfelder der deutschen Nachkriegsgesellschaft [19]
Frederik Lang: Des Fernsehens liebstes Wunderkind macht Schule. Peter Lilienthal als Dozent an der dffb, 1966–1968 [31]
Johannes Dominik Hardt: Fundstück: Absurdes Frühwerk. Peter Lilienthals Picknick im Felde (1962) [47]
Anett Werner-Burgmann: Einsames Genie und Freigeist. Beethoven, vom Stummfilm bis zur DEFA [51]
Mirko Wiermann: Spannung und Atmosphäre im Kalten Krieg. Nebel (DDR 1963) von Joachim Hasler [69]
Review Essays
Dirk Alt: Aus Schutt geborgen. Die Ausstellung Brandspuren – Filmplakate aus dem Salzstock in der Deutschen Kinemathek [81]
Frederik Lang: Kein Kitsch von gestern. Die filmhistorischen Vorführungen auf der Berlinale 2020 [84]
Editionen
Eduard Schreiber. Essayfilmer der DEFA. DVD. Abhängig (DDR 1983) / Radnóti (DDR 1984) / Wissen Sie nicht, wo Herr Kisch ist? (DDR 1985) / The Time is now (DDR 1987, R: Eduard Schreiber) / Rückfällig (DDR 1988) / Spuren (DDR 1989) / Östliche Landschaften (D 1991). Fridolfing: absolut MEDIEN 2019. (Sinja Gerdes) [89]
Peter Lilienthal Archiv 1. 4 DVD. Dear Mr. Wonderful (BRD 1982), Das Autogramm (BRD 1984), David (BRD 1979), Eine Sprache für Freunde – Leben und Werk von Peter Lilienthal (D 2019, R: Johannes Kagerer). Hamburg: Lighthouse Home Entertainment 2019. (Frederik Lang) [91]
Rezensionen
Karl Sierek: Der lange Arm der Ufa: Filmische Bilderwanderung zwischen Deutschland, Japan und China 1923–1949. Wiesbaden: Springer VS 2018 (Qinna Shen) [94]
Joseph McBride: How Did Lubitsch Do It? New York: Columbia University Press 2018 (Christian Rogowski) [97]
Valerie Weinstein: Antisemitism in Film Comedy in Nazi Germany. Bloomington: Indiana University Press 2019 (Annika Haupts) [100]
Felix Fischl, Filmkollektiv Frankfurt e.V. (Hg.): Wandelbares Frankfurt. Dokumentarische und experimentelle Filme zur Architektur und Stadtentwicklung in Frankfurt a. M. Frankfurt a. M.: Filmkollektiv Frankfurt 2018 (Jeanpaul Goergen) [103]
Karin Moser: Der österreichische Werbefilm. Die Genese eines Genres von seinen Anfängen bis 1938. Berlin, Boston: De Gruyter Oldenbourg 2019 // Joachim Schätz: Ökonomie der Details. Österreichs Industrie- und Werbefilm zwischen Rationalisierung und Kontingenz (1915–1965). München: edition text + kritik 2019 (Johanna Lehnhart) [105]
Hans Jürgen Wulff, Michael Fischer (Hg.): Musik gehört dazu. Der österreichisch-deutsche Schlagerfilm 1950–1965. Münster: Waxmann 2019 (Kaspar Maase) [109]
René Ruppert: Helmut Käutner. Freiheitsträume und Zeitkritik. Berlin: Bertz + Fischer 2019 (Frank Noack) [111]
Volker Pantenburg (Hg.): Gerhard Friedl. Ein Arbeitsbuch. Wien: FilmmuseumSynemaPublikationen 2019 (Britta Hartmann) [114]
Anett Werner-Burgmann, Marcus Becker, Matthias Bruhn, Annette Dorgerloh, Luisa Feiersinger (Hg.): BildFilmRaum. Zwischen den Disziplinen. Weimar: VDG 2019 (Hans J. Wulff ) [116]
Barbara Flückiger, Eva Hielscher, Nadine Wietlisbach (Hg.): Color Mania. Zürich: Lars Müller Publishers 2020 (Gert Koshofer) [119]
Mitarbeiter dieser Ausgabe [122]
Impressum [125]
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