Die Geschichte der Jüdinnen und Juden bzw. deren Nationsverständnis in Ostmitteleuropa ist bereits in unzähligen Einzelstudien nachgezeichnet worden. Ebenso häufig sind das russische Zarenreich, das Habsburgerreich und das Deutsche Kaiserreich und deren Grenzregionen als Transitstätten bzw. Ausgangsräume von Migrationsflüssen behandelt worden. Das vorliegen-de Sonderheft zielt darauf ab, einen nuancierten Blick auf diesen Themenkomplex zu werfen, indem es ausgewählte Studien über jüdische Minderheiten präsentiert, die sowohl ihr politi-sches und kulturelles Verständnis als auch ihre eigene Gestaltung nationaler Zugehörigkeit in den Mittelpunkt stellt. Die Migrationen von Jüdinnen und Juden folgten häufig wiederkehrenden Mustern: vom Rus-sischen Reich in das Königreich Polen oder das Deutsche Reich, vom Königreich Polen in das Deutsche Reich oder direkt nach Nordamerika und vom Deutschen und Habsburgerreich in die Neue Welt. Das Verlassen der Heimat war aber nicht nur ein körperlicher, sondern auch ein seelischer Prozess. In ihrer Erinnerung konstruierten und deformierten Jüdinnen und Juden und andere Migranten kontinuierlich die Vergangenheit, insbesondere im Hinblick auf gegen-wärtige Bedürfnisse und zukünftige Erwartungen. Dabei spielten politische Interventionen und Erinnerungsstrategien eine wichtige Rolle. Jüdinnen und Juden in Mittel- und Osteuropa reagierten jedoch sehr unterschiedlich auf Richtlinien von oben, oft indem sie diese völlig ig-norierten. Migranten brachten ihre Heimat in die Neue Welt und belebten sie dort aufs Neue. Nostalgie mischte sich mit unangenehmen Erinnerungen an erlebte Gewalt (Pogrome), Not und Armut. Dennoch führten die Bemühungen, Antisemitismus und das weit verbreitete Gefühl kulturel-ler Andersartigkeit auszugleichen, nicht zwangsläufig zur Auswanderung. Im Gegenteil, viele suchten Zuflucht in der Literatur, den Künsten im Allgemeinen oder in der intellektuellen Ausformung nationaler Paradigmen in ihren Herkunftsregionen. Erfahrungen des „spirituel-len“ oder „sprachlichen Exils“ fanden unabhängig von der Migration statt – wie die Essays dieses Sonderhefts zeigen. In ihrem Artikel „Unexpected Allies: Russian Officials’ Support of Jewish Emigration at the Time of Its Legal Ban, 1881—1914“ leuchtet Anastasiia Strakhova die „Judenpolitik“ des zaristischen Beamtenapparats aus. Dovilė Troskovaitė untersucht in ihrem Kapitel „Jews, Russians, Karaites: the Birth of Karaite Nationalism in the Russian Empire in the Beginning of the 20th century“ den Aufstieg und die Festigung des Karaismus im zaristischen Russland von der ersten Hälfte des 19. bis zum Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Dana Mihăilescu stellt die Emigration aus Rumänien am Beispiel zweier rumänisch-jüdischer Schriftsteller dar. Susanne Korbel diskutiert die Auswanderung von Künstlern und Musikern aus dem Habsbur-gerreich in die Vereinigten Staaten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Maya Shabbat beschäftigt sich mit dem deutschen Ausdruck „Heimweh“ und zeigt, wie er eine ganze Reihe von Emotionen im Zusammenhang mit der Schaffung eines nationalen Zu-gehörigkeitsgefühls in der Region Galizien auslöste. Francesco Di Palma behandelt im letzten Kapitel dieser Ausgabe den „seltsamen Fall“ der jüdischen Gemeinde der deutsch-jüdisch-polnischen Stadt Posen.
CONTENT
Introduction by Francesco Di Palma and Grzegorz Rossolinski-Liebe
Unexpected Allies: Imperial Russian Support of Jewish Emigration at the Time of Its Legal Ban, 1881-1914 by Anastasiia Strakhova
Jews, Russians, Karaites: The Development of Karaite Nationalism in the Russian Empire at the beginning of the Twentieth Century by Dovile Troskovaite
Struggles between Nationalism and Ethnicity in Eastern Europe and the United States, 1890s-1910s: The Life Writings of M.E. Ravage and Michael Gold by Dana Mihailescu
Understudied Patterns of Jewish Migration between the Habsburg Central Europe and the United States by Susanne Korbel
Heimweh: The Torn Identity of Lemberg-Lwów’s Intellectual Jewry by Maya Shabbat
Prussian Jews: Between Nationalism and Tradition. The “strange case” of Posen/Poznan, 1800-1918 by Francesco Di Palma
Research Paths
Between Corfu and Athens: Moisis Caimis’ Contribution to the Making of Greek Jewry (1885-1916) by Joana Bürger
Reviews
Clémence Boulouque, Another Modernity: Elia Benamozegh’s Jewish Universalism by Cyril Aslanov
Samuel Sami Everett and Rebekah Vince (eds.), Jewish-Muslim Interactions: Performing Cul-tures Between North Africa and France by Dario Miccoli
Ayala Fader, Hidden Heretics: Jewish Doubt in the Digital Age by Florence Heymann
Emanuele D’Antonio: Il sangue di Giuditta. Antisemitismo e voci ebraiche nell’Italia di metà Ottocento by Ulrich Wyrwa
Odette Varon-Vassard: Des Sépharades aux Juifs grecs. Histoire mémoire et identité. Nou-velle édition augmentée by Dimitrios Varvaritis