„Eurasien“ ist längst ein gängiger Begriff in der öffentlichen Berichterstattung, in politischen Debatten oder in gelehrten Abhandlungen geworden. Er bezieht sich auf die nahezu unüber-schaubaren, vielfältigen Verflechtungen, welche die gemeinsame Landmasse von Europa und Asien in mancher Beziehung als etwas Zusammengehöriges, in gewisser Hinsicht als eine Einheit erscheinen lassen. Ein solcher Begriff neigt jedoch auch dazu, zur vereinfachten For-mulierung allzu komplexer Zusammenhänge genutzt zu werden. Aus einem begrifflichen Dach wird dann schnell eine simplifizierende Pauschalierung, die bald nicht mehr hinterfragt wird. Es entsteht die unausgesprochene Vorstellung, dass wir in einem Eurasien leben, in dem die vermeintlichen Gegensätze zwischen Westen und Osten zumindest reduziert werden kön-nen. Spätestens die jüngsten Konflikte politischer, ideologischer und auch militärischer Natur zwingen allerdings zu näherem Hinsehen. Wie sieht das Verhältnis zwischen (neuem) Westen und altem Osten tatsächlich aus? Was macht dieses „Eurasien“ aus;, wo liegt es überhaupt? Solchen Fragen ist nicht mit einfachen Antworten gedient. Vielmehr bedarf es verschiedener, ausdifferenzierter Perspektiven auf Regionen, Staaten und Themenbereiche, deren Analyse ein aktualisiertes Bild von Geschichte und Gegenwart des Verhältnisses zwischen Asien und Europa ermöglichen. Die neue Ausgabe der Zeitschrift für Weltgeschichte nimmt sich anhand ausgewählter Themen, die sowohl historische als auch aktuelle Zusammenhänge beleuchten und im besten Sinne interdisziplinär zu verorten sind, dieser Aufgabe an. Die Organisation und Herausgeberschaft dieses besonderen Themenhefts hat dankenswerterweise Hans-Heinrich Nolte übernommen, der nicht nur Gründungsvater unserer Zeitschrift ist, sondern sich schon immer als ausgewiesener Osteuropa-Experte ebenso kritisch wie souverän auf Eurasiens Grenzlinien bewegte. Entsprechend übernimmt er es auf den ersten Seiten des Schwerpunktthemas auch selbst, in die Facetten des vorliegenden Heftes einzuführen. Darüber hinaus greift diese Ausgabe ein weiteres Thema auf, das derzeit in aller Munde ist: die Debatte um die Restitution afrikanischer Kulturgüter aus kolonialen Zusammenhängen. Anhand dreier besonders einflussreicher Publikationen aus dem vergangenen Jahr widmet sich Bea Lundt den Herausforderungen der aktuellen Debatte, auf die sie als Kennerin der afrikanisch-europäischen Kulturbeziehungen und aktuelle Gastprofessorin in Ghana einen fachkundigen wie persönlichen Blick hat. Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern der Zeitschrift für Weltgeschichte auch dieses Mal eine interessante und inspirierende Lektüre.
Jürgen G. Nagel
Jürgen G. Nagel: Editorial
Schwerpunkt: Eurasien zwischen neuem Westen und altem Osten
Hans-Heinrich Nolte Der neue westen und der alte Osten: Einleitung
Peter Antes Die neue Rolle des Islam
Andrea Komlosy Die „langen Wellen“ der Konjunktur. Kondratieff-Zyklen gegen den eurozentrischen Strich gelesen
Ralf Roth Die ausgebliebene Verkehrsrevolution zwischen Westeuropa und Südostasien im 19. und 20. Jahrhundert
Klaus Weber Zivilisationskritik als Export-,Import und Re-Exportgut. Antiwestliche Ideologien zwischen dem Kaiserreich und dem spätosmanischen und ostasiatischen Raum
Andrea Komlosy Eurasien in Herrschafts- und Entwicklungs-Konzepten
Yaşar Aydin Wendet sich die Türkei an die Turkvölker.? Ziele, Instrumente und Perspektiven türkischer Zentralasienpolitik
Dariusz Adamczyk Am westlichen Rande Eurasiens. Polen in der post-1989-Welt
Hans-Heinrich Nolte Konfliktfelder zwischen neuem Westen und altem Osten
Review
Bea Lundt Vom Nehmen und Geben afrikanischer Kulturgüter in (post)-kolonialer Perspektive. Rezensionsaufsatz über Neuerscheinungen zur Restitutionsdebatte
Autorinnen- und Autoren