Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 71 (2020), 5–6

Titel der Ausgabe 
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 71 (2020), 5–6
Weiterer Titel 
Parlamentarismusforschung

Erschienen
Erscheint 
monatlich
ISBN
0016-9056

 

Kontakt

Institution
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
Land
Deutschland
c/o
Prof. Dr. Michael Sauer Universität Göttingen Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte Didaktik der Geschichte Waldweg 26 37073 Göttingen Tel. 0551/39-13388 Fax 0551/39-13385
Von
Sauer, Michael

Die Revolutionen der Jahre 1989–90 haben weltweit die Hoffnung auf einen unaufhaltsamen Siegeszug der parlamentarischen Demokratie keimen lassen. Rund drei Jahrzehnte danach ergibt die Bilanz ein eher ernüchterndes Bild. So sieht sich die repräsentative Demokratie in Europa und in anderen Weltregionen der scharfen Kritik verschiedener politischer Strömungen ausgesetzt, die oft als Populismus von rechts oder links bezeichnet werden. Die Krise der repräsentativen Demokratie reicht jedoch weit über dieses Phänomen hinaus. Denn inzwischen ist in vielen Ländern ein Verfassungswandel von oben in Gang gesetzt worden, der die Rechte des Parlaments erheblich beschneidet. Darüber hinaus waren schon vorher im Hinblick auf das Macht- beziehungsweise Kontrolldreieck von Legislative, Exekutive und Jurisdiktion entscheidende Verschiebungen zu Ungunsten der Parlamente zu beobachten.

Die Beiträge dieses Themenhefts beleuchten anhand ausgewählter historischer Fallstudien grundlegende Fragen zur Geschichte des modernen Parlamentarismus. In seinem einleitenden Aufsatz bietet Dominik Geppert einerseits eine kritische Einführung in die aktuellen Debatten, andererseits skizziert er den Gang der historischen Parlamentarismusforschung. Hierüber tritt die in Berlin ansässige „Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien“ in den Mittelpunkt. Richtete sich ihr Interesse zunächst vor allem auf die Ideen- und Institutionengeschichte, hat sich ihre Gegenstandsbereich inzwischen sowohl thematisch als auch methodisch in Richtung einer Kulturgeschichte des Politischen erweitert. Die nachfolgenden Aufsätze zeigen das Potenzial der neuen Forschungsrichtung eindrucksvoll auf. So verdeutlicht Andreas Biefang in seiner Abhandlung über den Journalistenstreik von 1908, wie sehr sich bereits damals ein professionelles Selbstbewusstsein der Medienakteure ausgebildet hatte. Der Streik sei letztlich das wirksamste Mittel gewesen, um dem Reichstag zu Bewusstsein zu bringen, „daß er ohne Mitwirkung der Presse nichts ist“. Eine Außenwahrnehmung anderen Typs behandelt Tobias Kaiser in seinem Beitrag über die Einrichtung einer Bannmeile, mit dem er die bis heute schwierige Gratwanderung zwischen den Sicherheitsinteressen des Parlaments auf der einen Seite sowie Ansprüchen auf politische Transparenz auf der anderen Seite beleuchtet. Der nachfolgende Aufsatz von Benedikt Wintgens weist einen Zuschnitt ganz anderer Art auf. Auf der Basis einer Auswertung von meist nur wenig bekannten deutschsprachigen „Parlamentsromanen“ unternimmt er eine Spurensuche von der 1848er Revolution bis in die Gegenwart. Hierüber bietet er zahlreiche Einblicke in Erwartungen und Enttäuschungen, die im jeweiligen historischen Kontext mit den Volksvertretungen verbunden waren. Auch der nachfolgende Aufsatz von Bettina Tüffers zeigt eindrucksvoll die Möglichkeiten einer Parlamentarismusforschung auf, die sich nicht nur inhaltlich auf neue Felder einlässt, sondern die mit der systematischen Analyse der Fernsehberichterstattung über die 10. Volkskammer der DDR im Jahr 1990 ebenso methodisch Neuland betritt. Der abschließende Beitrag von Silke Mende über den Zusammenhang von Demokratisierung, Parlamentarisierung und Europäisierung erweitert die hier diskutierten Ansätze sowohl in einer geographischen als auch in einer transnationalen Perspektive. In ersten Ansätzen werden darüber die Umrisse einer europäische Zeitgeschichte der Demokratie sichtbar. In der Summe demonstrieren die hier vorgelegten Beiträge, dass Demokratie und Parlamentarismus nicht allein in den Inhalten der politischen Auseinandersetzung aufgehen, sondern wesentlich von deren Formen, Kontexten sowie Symbolhaushalten mitbestimmt werden. Zudem geben sie Einblicke in die Vielschichtigkeit der heute existierenden Parlamentarismen, die allein über eine vertiefte historische Auseinandersetzung verständlich werden können.

Christoph Cornelißen

Inhaltsverzeichnis

INHALT

Abstracts (S. 234)
Editorial (S. 236)

BEITRÄGE

Dominik Geppert
Die ungeschriebenen Regeln der repräsentativen Demokratie
Neuere Ansätze in der historischen Parlamentarismusforschung (S. 237)

Andreas Biefang
Parlament ohne Publikum
Der „Journalistenstreik“ von 1908 (S. 245)

Tobias Kaiser
Die Erfindung der „Bannmeile“ in der Weimarer Republik
Polizeilicher und symbolischer Schutzraum mit widersprüchlicher Geschichte (S. 262)

Benedikt Wintgens
Das Parlament im Roman
Eine literarische Spurensuche seit 1848 (S. 280)

Bettina Tüffers
Fernsehaufnahmen als historische Quelle
Die Live-Übertragungen der Sitzungen der 10. Volkskammer der DDR (S. 298)

Silke Mende
Das „demokratische Europa“ seit 1970
Zeithistorische Perspektiven auf den Zusammenhang von Demokratisierung, Parlamentarisierung und Europäisierung als Forschungsfeld (S. 315)

INFORMATIONEN NEUE MEDIEN

Christian Plath
Parlamentarismusforschung (S. 330)

LITERATURBERICHT

Josef Memminger / Dietmar von Reeken
Geschichtsdidaktik, Teil I (S. 333)

Nachrichten (S. 349)

Autorinnen und Autoren (S. 352)

ABSTRACTS

Dominik Geppert
Die ungeschriebenen Regeln der repräsentativen Demokratie
Neuere Ansätze in der historischen Parlamentarismusforschung
GWU 71, 2020, H. 5/6, S. 237–244
Die historische Erforschung des Parlamentarismus erlebt angesichts einer breit diskutierten Krise der repräsentativen Demokratie gegenwärtig einen erheblichen Aufschwung. Kulturgeschichtlich sensibilisierte neuere Ansätze dehnen die Parlamentarismusforschung über Deutschland hinaus bis in die jüngste Vergangenheit aus. Sie bieten keine Revision klassischer Untersuchungsgegenstände der Parlamentsgeschichte, sondern eröffnen neue Sichtachsen, indem sie ehemals als randständig erachtete Begebenheiten in ein neues Licht rücken, bislang selbstverständlich Erscheinendes kritisch hinterfragen, vernachlässigte Quellen erschließen und den Blick über den nationalen Bezugsrahmen hinaus weiten.

Andreas Biefang
Parlament ohne Publikum
Der „Journalistenstreik“ von 1908
GWU 71, 2020, H. 5/6, S. 245–261
Moderne Parlamente sind auf die massenmediale Öffentlichkeit angewiesen, um als „Volksvertretungen“ anerkannt zu werden. Am Beispiel des Reichstags wird gezeigt, was geschieht, wenn die Parlamentsjournalisten nicht mehr berichten und „streiken“: Der Parlamentsbetrieb bricht zusammen. Der Beitrag handelt davon, wie ein scheinbar harmloser Streit zwischen Abgeordneten und Presse zum „Streik“ eskalieren kann, sowie von den politischen Gründen, die seine Beilegung erzwangen. Zudem geht es um das Selbstverständnis der Journalisten, die sich zunehmend als „vierte Gewalt“ dem Parlament gleichrangig fühlten.

Tobias Kaiser
Die Erfindung der „Bannmeile“ in der Weimarer Republik
Polizeilicher und symbolischer Schutzraum mit widersprüchlicher Geschichte
GWU 71, 2020, H. 5/6, S. 262–279
Am 8. Mai 1920 beschloss die Verfassunggebende Nationalversammlung der Weimarer Republik das „Gesetz über die Befriedung der Gebäude des Reichstags und der Landtage“. Darin wurden Versammlungen unter freiem Himmel in einem bestimmten Umkreis um das Parlamentsgebäude bei Strafe verboten. Keineswegs wurde die Bannmeile bei ihrer Einführung einer alten Tradition gemäß errichtet. Auch folgte ihre Errichtung nicht internationalen Vorbildern, obwohl beides behauptet wurde. Frappierend erscheint im Rückblick die Dominanz der Exekutive in der Ausgestaltung des Bannmeilengesetzes und der Praxis in der Weimarer Republik. Allzu gern schränkte die Regierung das Demonstrationsrecht ein, verbot Versammlungen, auch wenn es überhaupt nicht um das Funktionieren des parlamentarischen Alltags ging. Die Ausnahmen vom Versammlungsverbot waren selten und wurden zum wichtigen Symbol. Den Nationalsozialisten erschienen die entsprechenden Orte deshalb als Ziele ihrer eigenen Agitation. Es gelang eine Umdeutung und letztlich verlor die Bannmeile ihre Funktion als Schutz einer demokratischen Institution.

Benedikt Wintgens
Das Parlament im Roman
Eine literarische Spurensuche seit 1848
GWU 71, 2020, H. 5/6, S. 280–297
In der deutschsprachigen Literatur gibt es Romane, die von Abgeordneten und Wahlen erzählen – mehr, als allgemein bekannt ist. Als kulturhistorische Quellen geben diese Romane (unbeschadet ihres fiktionalen Charakters) Auskunft über Erwartungen und Enttäuschungen, die im jeweiligen historischen Kontext mit den Volksvertretungen verbunden waren. Der Aufsatz unternimmt eine Spurensuche von der 1848er Revolution über das Kaiserreich und die Weimarer Republik bis in die Gegenwart. Sichtbar werden die Muster eines Genres, das – in kritisch-satirischer Form – Parlament und Öffentlichkeit in den Blick nimmt.

Bettina Tüffers
Fernsehaufnahmen als historische Quelle
Die Live-Übertragungen der Sitzungen der 10. Volkskammer der DDR
GWU 71, 2020, H. 5/6, S. 298–314
Das Fernsehen war das Massenmedium des 20. Jahrhunderts. Dennoch wurde Fernsehaufnahmen aus dem Plenarsaal von der Parlamentsgeschichtsschreibung bislang viel zu wenig Beachtung geschenkt. Nach wie vor sind für sie die Stenographischen Berichte bzw. Plenarprotokolle die zentrale Quelle. Der Beitrag zeigt anhand zweier Beispiele aus der 10. Volkskammer der DDR im Jahr 1990, welchen Erkenntniswert solche Fernsehübertragungen bieten, insbesondere wenn es um das Verständnis der politischen Kultur eines Parlaments geht.

Silke Mende
Das „demokratische Europa“ seit 1970
Zeithistorische Perspektiven auf den Zusammenhang von Demokratisierung, Parlamentarisierung und Europäisierung als Forschungsfeld
GWU 71, 2020, H. 5/6, S. 315–329
Der Artikel beschäftigt sich mit dem Zusammenhang von Demokratisierung, Parlamentarisierung und Europäisierung seit den 1970er Jahren anhand der europäischen Süd- sowie der Osterweiterung. Diese hatten, so die These, zentrale Bedeutung für den Entwurf eines „demokratischen Europa“ als gedachter Ordnung. Der Beitrag vermisst damit ein Forschungsfeld, das bisher vor allem von den Politikwissenschaften behandelt worden ist, und sucht weiterführende Fragen und Perspektiven für eine europäische Zeitgeschichte der Demokratie zu entwerfen.

Weitere Hefte ⇓
Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Klassifikation
Weitere Informationen
Sprache
Bestandsnachweise 0016-9056