Thema
Christine von OertzenFräulein auf Lebenszeit? Gesellschaft, Berufung und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert
Annette BrauerhochSpurensuche: Das Deutsche »Fräulein« in Nachkriegs-Filmen A Foreign Affair (USA 1948) und Hallo Fräulein! (Deutschland 1949)
Sybille Buske»Fräulein Mutter« vor dem Richterstuhl Der Wandel der öffentlichen Wahrnehmung und rechtlichen Stellung lediger Mütter in der Bundesrepublik 1948 bis 1970
Special
Irene StoehrOh Fräulein! Ein Nach-Ruf
Debatte
Yfaat WeissDeutsche, Juden und die Weder-Nochs: Neuerscheinungen zum Thema deutsch-jüdische Mischehen
Bericht
Kay Kufeke»Östliche« Massaker in Westeuropa?
Thomas Potthast»Verstrickungen« und darüber hinaus. Das Forschungsprogramm zur Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus
Film-Kritik
Christina WhiteDie Stille nach dem Schuss - Melodram oder Komödie?
Expo-Kritik
»Ihr fünf spielt jetzt vier gegen drei« Der Ball ist rund. Die Fußballausstellung (Stefan Sfregola)
Rezensionen
Michaela HohkampHerrschaft in der Herrschaft (Stephan Ehrenpreis)
Rebekka Habermas/Tanja Hommen (Hg.)Das Frankfurter Gretchen (Markus Meumann)
Andreas SchmidtZur kulturellen Vermittlung von Naturkatastrophen (Christiane Eifert)
Ian KershawHitler (Michael Wildt)
Jens BanachHeydrichs Elite (Christoph Dieckmann)
Wolf GrunerZwangsarbeit als Element der Verfolgung (Christian Gerlach)
Elizabeth HeinemanWas ändert ein Ehemann? (Christine von Oertzen)
Antonia Maria HummAuf dem Weg zum sozialistischen Dorf? (Jens Murken)
Alf Lüdtke / Peter Becker (Hg)Die DDR und ihre Texte (Dietrich Mühlberg)
Editorial
FAUST: Mein schönes Fräulein, darf ich wagen, Meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen?
MARGARETE: Bin weder Fräulein, weder schön, Kann ungeleitet nach Hause gehn.
[...]
MARTHE (laut): Denk, Kind, um alles in der Welt! Der Herr dich für ein Fräulein hält.
Johann Wolfgang von Goethe Faust. Eine Tragödie (1808) [GW I, 14, S. 128 u. 143]
Erst durften nur Adelige, dann mussten alle Ledigen, heute kann niemand mehr: Fräulein sein. Nicht nur die Anrede hat sich verflüchtigt, sondern auch die Kenntnis entsprechender Konventionen und die Existenz einer dem "Fräulein" gemäßen Lebensform. Kein anderer Zivilstand, so lautet die These dieses Heftes, hat seit der Mitte des 19. Jahrhunderts einen ähnlichen Deutungswandel erfahren wie der lediger Frauen. Die mit der Industrialisierung einhergehende Veränderung von Moralvorstellungen, sozialen Praxen und persönlichen Lebensentwürfen ist dabei mit großem diskursiven und emotionalen Aufwand betrieben, beständig neu ausgehandelt und rechtlich umgeschrieben worden. Fräuleingeschichte, so zeigt sich, ist Gesellschaftsgeschichte im klassischen Sinn. Die Themenbeiträge dieses Heftes gehen dem Verschwinden des "Fräulein" in der bundesdeutschen Nachkriegszeit nach. Sie verfolgen und erklären Dynamik, Muster und Formen gesellschaftlichen Wandels aus unterschiedlichen Perspektiven und Disziplinen und nehmen dabei drei neuralgische Punkte der Veränderung in den Blick. Christine von Oertzen geht dem Zusammenhang von Gesellschaft, Berufung und Weiblichkeit nach und weist am Beispiel des Abschieds vom "Fräulein Schwester" nach, dass die Abschaffung des weiblichen Berufszölibats in den frühen 1960er Jahren eng mit einer tiefgreifenden Umdeutung des Leitbildes für Ehefrauen zusammenging. Der weibliche "Liebesdienst" am Krankenbett, vormals Inbegriff weiblicher Berufung und zölibatärer Lebensweise wurde dabei in einen qualifizierten Job umgeformt, den zunächst verheiratete Frauen, wenig später auch Männer ausführen konnten und sollten. Die Filmwissenschaftlerin Annette Brauerhoch lenkt die Aufmerksamkeit auf die unmittelbare Nachkriegszeit, während der das Klischee des fraternisierenden "Amiliebchens" die Vorstellungen vom alt-ehrwürdigen "Fräulein" nachhaltig verdrängte. Anhand der Filme "A Foreign Affair" von Billy Wilder und "Hallo Fräulein" von Rudolf Jugerts analysiert Brauerhoch, wie die Figur des sexuell bedrohlichen und despektierlichen "neuen" Fräuleins im amerikanischen und deutschen Kino der späten vierziger Jahre zum Einsatz kam. Sie kommt zu dem Schluss, dass beide Filme jenseits ihrer Haupterzaehlstraenge und ungeachtet filmischer Intentionen dem hedonistischen "Fräulein" Raum schufen, der zur Aneignung einlud und der offiziell verurteilten Lebensform ihr Recht gewährte. Sybille Buske führt in ihrem politik- und rechtsgeschichtlichen Beitrag vor, wie die lang tradierte moralische und soziale Ausgrenzung des "Fräulein Mutter" zwischen 1950 und 1970 aufbrach. Sie konzentriert sich auf die Kontroversen über die Verleihung des elterlichen Sorgerechts an unverheiratete Mütter und die sogenannte "Einrede des Mehrverkehrs". Buske macht öffentlichen Protest, weitreichende Veränderungen von Autoritätskonzepten und Umdeutungen weiblicher "Unzucht" als Hauptfaktoren dafür aus, dass die Frage, ob Mütter ledig waren oder nicht, um 1970 für Staat und Gesellschaft an Relevanz verlor. Inwiefern Fräuleingeschichte Verlustgeschichte sein kann, ist in Irene Stoehrs Nach-Ruf auf ihre Tante Lolo, die Heroinnen der alten Frauenbewegung und andere Fräuleins nachzulesen. Ansonsten widmet sich der Mittelteil dieses Heftes wie gewohnt anderen aktuellen Themen: So stellt Kai Kufeke die neueste Literatur zu den Verbrechen der Wehrmacht in Italien vor, und Thomas Potthast informiert über erste Zwischenergebnisse der MPI-Forschungsgruppe zur Politik der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft während der NS-Zeit. Yfaat Weiss gibt einen Überblick über jüngste Forschungen zu deutsch-jüdischen "Mischehen" und konfrontiert diese mit einem pointierten Plädoyer, die grundsätzlich positive und emanzipatorische Deutung des Phänomens zu hinterfragen. Christina White schließlich erklärt, warum die Schauspielerin Bibiana Beglau in Volker Schlöndorffs deutsch-deutschem Terror-Melodram "Die Stille nach dem Schuss" die eigentliche Heldin ist. Und damit auch "richtige Jungs" in diesem Heft vor- und auf ihre Kosten kommen, haben wir Stefan Sfregola gebeten, sich die Fußball-Ausstellung im Gasometer Oberhausen anzusehen. Die Redaktion