Werte Kolleginnen und Kollegen, liebe Leserinnen und Leser, am 16. Januar diesen Jahres erschien auf dieser Liste ein Tagungsbericht über "Tanten, Nichten, Schwestern und Cousinen / Onkel, Neffen, Brüder und Cousins: Beiträge zu politischen, ökonomischen und kulturellen Dimensionen von Verwandtschaft im frühneuzeitlichen Europa betrachtet aus transkultureller Perspektive". Zehn Monate später nun liegt ein neues Heft von WerkstattGeschichte vor, das in seinem Themenschwerpunkt Beiträge aus jener Tagung vereint. Wir wünschen Ihnen hierbei und bei den anderen Artikeln der Ausgabe angenehme und interessierte Lektüre, mit besten Wünschen, Ihre Redaktion
WerkstattGeschichte 46: Tanten, 16. Jg., Oktober 2007
Editorial "Tanten"
Die theoretischen Gesellschaftsentwürfe des 19. Jahrhunderts haben Verwandtschaft als biologische oder rechtliche Struktur betrachtet, Verwandtschaft und verwandtschaftliche Bindungen zu einem Konzept traditioneller Gesellschaften erklärt und »von der rationalen Zweckgerichtetheit moderner Vergesellschaftung unterschieden«. Wenn die politische Bedeutung von Verwandtschaft in diesen gesellschafts- und sozialpolitischen Entwürfen negiert wurde, so hat die neuere Forschung gerade die strukturbildende Funktion von historischen Verwandtschaftsgefügen für politisches und ökonomisches Handeln sichtbar gemacht. In diesem Heft zum Thema »Tanten« greifen wir kulturwissenschaftliche Diskussionen auf, in denen Verwandtschaft – nicht nur in frühneuzeitlichen Gesellschaften – als ein soziales Gefüge verstanden wird, das in ökonomischen, politischen und sozialen Zusammenhängen, nicht zuletzt bei der Übertragung von Herrschaft und Besitz, wirkungsmächtig, erfahrbar und beschreibbar wird. Michaela Hohkamp – die Herausgeberin des Thementeils dieses Hefts – stellt in ihrem einleitenden Beitrag dar, welche Potenziale eine Verwandtschaftsforschung hat, die ihre Perspektive wechselt vom Fürst, Vater und erstgeborenen Sohn auf das Gefüge um Tanten, Onkel, Nichten und Neffen. Sylvia Schraut, Stefanie Walther und Margareth Lanzinger erproben diesen Blick anhand konkreter Akteure und Akteurinnen in verschiedenen Verwandtschaftskonstellationen und Epochen. Sylvia Schraut fragt nach der Rolle der Onkel und Tanten, Brüder und Schwestern im Familienverband des Hauses Schönborn, einem stiftsfähigen, katholischen Adelsgeschlecht im 17. und 18. Jahrhundert. Stefanie Walther untersucht die Beziehung zwischen Elisabeth Ernestine von Sachsen-Meiningen und ihrem Bruder Anton Ulrich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts und diskutiert die verwandtschaftlichen Beziehungen und die damit verbundenen Praktiken mit dem Blick auf Elisabeth Ernestine als Tante, Schwester und Schwägerin. Margareth Lanzinger schließlich analysiert Ehen in der Schwägerschaft und nahen Blutsverwandtschaft als »Reparaturehen« im Kontext der Übertragung von Besitz und Vermögen in Tirol und Vorarlberg im 19. Jahrhundert. Im Mittelteil des Hefts arbeitet Rüdiger Ritter in seiner Fallstudie zu Bremerhaven in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten alltägliche Interaktionen zwischen der Bremerhavener Bevölkerung und den in Bremerhaven stationierten amerikanischen Truppen heraus. Anhand konkreter Orte – Kneipen und Vergnügungslokale – zeichnet Ritter eine bis heute im kulturellen Gedächtnis Bremerhavens verankerte positive und nachhaltige Erfahrung der Präsenz der amerikanischen Streitkräfte nach. Der Vergleich als historische Methode gilt in der Geschichtswissenschaft seit geraumer Zeit als Erfolg versprechendes Verfahren zur Rekonstruktion historischer Gesellschaften. Ulrich Wyrwa diskutiert in seinem Debattenbeitrag konzeptionelle Fragen des vergleichenden Arbeitens anhand seiner eigenen Untersuchungen zu Emanzipation und Antisemitismus in Deutschland und Italien. In der Filmkritik beschäftigt sich Johannes von Moltke mit dem Propagandafilm Heimkehr (Gustav Ucicky) aus dem Jahr 1941, der von Joseph Goebbels selbst lanciert wurde. Der Film arbeitet mit Bildern und Motiven, die an die gleichzeitige Verfolgung von Juden und Polen durch die Deutschen selbst erinnern. Mit einer kleinen Wanderausstellung befasst sich die Expo-Kritik. Diese wandert gegenwärtig durch die neuen Bundesländer und will Fragen zum Antisemitismus in der DDR provozieren. Das Besondere daran ist, dass Schülerinnen und Schüler die Texte geschrieben, die Dokumente und Fotos zusammen getragen haben.
Michaela Hohkamp und die Redaktion
Inhalt
WerkstattGeschichte 46 (2007)
Editorial 3
Thema Michaela Hohkamp Tanten: vom Nutzen einer verwandtschaftlichen Figur für die Erforschung familiärer Ökonomien in der Frühen Neuzeit 5
Sylvia Schraut Eine Familie ist mehr als die Summe ihrer Mitglieder – Verwandtschaftsbeziehungen im katholischen stiftsfähigen Reichsadel 13
Stefanie Walther Zwischen Emotionen und Interessen – Elisabeth Ernestine Antonie von Sachsen-Meiningen als Schwester, Schwägerin und Tante 25
Margareth Lanzinger Tanten, Schwägerinnen und Nichten – Beziehungsgefüge, Vermögenskonflikte und ›Reparaturehen‹ oder: Linie und Paar in Konkurrenz 41
WERKSTATT Rüdiger Ritter Kulturaustausch am Kneipentresen. Zu Prozessen der Amerikanisierung in Bremerhaven in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten 55
DEBATTE Ulrich Wyrwa Aus der Werkstatt des Vergleichs: Emanzipation und Antisemitismus in Deutschland und Italien 65
FILMKRITIK Johannes von Moltke Projektionen der Gewalt: Heimkehr (Gustav Ucicky, 1941) 74
EXPOKRITIK Annette Leo »Das hat’s bei uns nicht gegeben« Antisemitismus in der DDR 87
REZENSIONEN + ANNOTATIONEN Sheilagh Ogilvie A Bitter Living. Women, Markets, and Social Capital (Silke Törpsch) 91
Ulrich Rosseaux Freiräume. Unterhaltung, Vergnügen und Erholung in Dresden (B. Ann Tlusty) 93
Michel Grunewald/Uwe Puschner (Hg.) Das konservative Intellektuellenmilieu (Morten Reitmayer) 94
Britta Konz Bertha Pappenheim: Jüdische Tradition und weibliche Emanzipation (Corinna Oesch) 97
Uta Hinz Gefangenschaft im Großen Krieg Jochen Oltmer (Hg.) Kriegsgefangene im Europa des Ersten Weltkriegs (Frank Biess) 98
Moritz Föllmer/Rüdiger Graf (Hg.) Die »Krise« der Weimarer Republik. (Kirsten Heinsohn) 101
Thomas Kühne Kameradschaft (Matthias Schöning) 103
Susanne Ramm-Weber Mit der Sichel in der Hand (Carmen Scheide) 105
Wolf Gruner Widerstand in der Rosenstraße (Akim Jah) 107
Susanne Kreutzer Vom »Liebesdienst« zum modernen Frauenberuf (Gisela Notz) 108
Karin Hunn Die Geschichte der türkischen »Gastarbeiter« (Monika Mattes ) 110
Johannes von Moltke Heimat in German Cinema (Natalie Scholz) 112
Christina von Hodenberg Konsens und Krise (Christiane Streubel) 115
Detlef Siegfried Time Is on My Side (Miriam Gebhardt) 116
Roswitha Muttenthaler/Regina Wonisch Gesten des Zeigens (Uschi Bender-Wittmann) 118
Joan W. Scott Parité! Sexual Equality and the Crisis of French Universalism (Dagmar Reese ) 120
ABSTRACTS 123 Autoren und Autorinnen 126