WerkstattGeschichte 17 (2008), 48

Titel der Ausgabe 
WerkstattGeschichte 17 (2008), 48
Zeitschriftentitel 
Weiterer Titel 
Über-Setzen

Erschienen
Essen 2008: Klartext Verlag
Erscheint 
erscheint dreimal im Jahr
Preis
Abo 37,00 Euro (10,25 Euro je Heft zzgl. Versandkosten, 14,00 € je Einzelheft)

 

Kontakt

Institution
WerkstattGeschichte
Land
Deutschland
c/o
transcript Verlag, Hermannstraße 26, 33602 Bielefeld, Tel. +49 521 393797 0, Fax: (0521) 39 37 97 - 34
Von
Rürup, Miriam

Werte Kolleginnen und Kollegen,
liebe Leserinnen und Leser,
einige von Ihnen werden in der vergangenen Woche zur Eröffnung des Historikertages in der Semperoper in Dresden zugegen gewesen sein und Bundespräsident Horst Köhlers Rede gehört haben, in der er von der Aufgabe des Historikers als Übersetzer sprach. Wie passend, so mag man denken, dass wir Ihnen heute die kürzlich erschienene Ausgabe von WerkstattGeschichte mit dem Titel „über-setzen“ ans Herz legen wollen.

Wir wünschen Ihnen hierbei und bei den anderen Artikeln der Ausgabe angenehme und interessierte Lektüre. Und wie bereits auf der – ebenfalls in Dresden – von WerkstattGeschichte veranstalteten Podiumsdiskussion angekündigt, möchten wir Ihnen einen regelmäßigen Blick auf die Homepage der Zeitschrift empfehlen (www.werkstattgeschichte.de), auf der hoffentlich bald auch alte Ausgaben online abrufbar und als pdf zu erwerben sein werden.
Mit besten Wünschen
Ihre Redaktion

EDITORIAL
Über-Setzen

Die Beiträge in diesem Heft verbinden zwei aus unterschiedlichen Forschungskontexten stammende Konzepte, nämlich »Reform« und »Übersetzung«. Beide Begriffe bezeichnen intentionale Transformationen, der eine gehört jedoch eher in den Kontext von politik- und sozialgeschichtlichen Fragestellungen, der andere in den von kulturwissenschaftlichen. Gerade deshalb ist es reizvoll, Reformen als Übersetzungen zu analysieren und im Sinne einer reziproken Kritik das aus einer solchen Kombination resultierende Potenzial gegen kulturalistische wie sozialgeschichtliche Engführungen zu nutzen.
Vor allem für politik- und sozialgeschichtliche Arbeiten stellen Reformen und Reformbewegungen einen zentralen Gegenstand dar, gelten sie doch als wesentlich für historische Veränderungen, sei es als Motor, sei es als Reaktion auf strukturellen Wandel. Dennoch ist Reform ein ubiquitärer Begriff, dessen Bestimmungen relativ vage bleiben. Die Geschichtlichen Grundbegriffe heben seine doppelte Bedeutung hervor, zum einen den Rückbezug auf vergangene Zustände, zum anderen eine intendierte Veränderung ohne Rückbezug, in jedem Fall aber verbunden mit Verbesserungserwartungen. Seit der Französischen Revolution fungiert Reform als zeitgenössischer Gegenbegriff zu Revolution, im Laufe des 19. Jahrhunderts wird er mit immer mehr Bereichen in Verbindung gebracht und verliert an Präzision. Im Fischer Lexikon Geschichte taucht der Begriff im Unterschied zu Revolution gar nicht erst auf. Aufgrund seiner teleologischen Implikationen – mit Reformen verbindet man ein intentional miteinander verknüpftes Vorher und Nachher – gehören Reformen zu den im Zuge einer kulturalistischen Wende in der historischen Forschung inzwischen eher vernachlässigten Themen.
Übertragen aus dem sprachwissenschaftlichen Kontext wird der Begriff Übersetzung zur Beschreibung von Kulturbegegnungen benutzt. Dabei changiert er – auch im wissenschaftlichen Gebrauch – zwischen einer metaphorischen Übertragung des Über-Setzens über den Fluss / die Grenze / den Atlantik auf Reisen, durch Migration etc. und einer metonymischen Beziehung zwischen Sprachübertragung und Kulturübertragung. Die Vielfältigkeit im Gebrauch reflektiert die Komplexität der Übersetzungen. In der Rezeption des Begriffs werden Vorstellungen von einem unvermittelten, zielgerichteten Übertragungsprozess von kulturellen Phänomenen problematisiert. Damit wird die in den Übersetzungswissenschaften diskutierte These aufgegriffen, dass es im Übersetzen keine Originalgetreue zum Ursprungstext geben kann, und entsprechend übertragen, auch keine Authentizität im Übersetzen der einen Kultur in eine andere. Betont wird statt dessen die Wechselseitigkeit des Übersetzens, das wechselseitige Aushandeln von Bedeutungen.

Übersetzen kann keine deckungsgleiche Wiedergabe erzeugen, keine semantische Kongruenz zwischen Ausgangstext und übersetztem Text resp. zwischen Ausgangs- und Zielkultur, sondern nur vermitteln, darstellen, übertragen, wobei der Übersetzende die Akzente setzt, also gestaltender, gleichzeitig aber durch den Prozess der Über-Setzung selbst auch gestalteter Part ist. Im Über-Setzen werden Modelle, Regeln gesetzt und festgesetzt. In diesem Zusammenhang gilt es, so Bachmann-Medick, Übersetzungshindernisse zu akzentuieren, wie etwa Missverstehen, Kommunikationsbarrieren, Differenzen, »cultural dyslexia«. Sie fokussiert insbesondere auf die kolonialen Hegemonie- und Machtbeziehungen, die den Prozess der Kulturbegegnungen bestimmen. In der Geschichtswissenschaft ist mit der Transferforschung ein dem kulturellen Übersetzen ähnliches Konzept entwickelt worden, das »raum- und gesellschaftsübergreifenden Austausch und die wechselseitige Durchdringung von Kulturen« untersucht. Christiane Eisenberg betont ähnlich wie Bachmann-Medick die Offenheit des Transferprozesses – die Hindernisse, das Scheitern, die Wiederholung – sowie die reziproken Wirkungsweisen.

Ein für die historische Forschung relevantes Feld, das Übersetzen notwendig macht – sowohl im Sinne von Bewegung als auch im Sinne von Übertragung – ist Reformpolitik. Gemeint ist mit Reformpolitik (der Anspruch auf) Gesellschaftsgestaltung mit dem Ziel der Verbesserung. Reformen und Reformkonzepte bedürfen der Vermittlung, der Annahme, der Übertragung. Sie sind konflikthaft, sie können scheitern, missverstanden, neu gedeutet werden, haben nicht intendierte Folgen etc. Reformen verändern nicht nur die Gesellschaften, für die sie entworfen werden, sie verändern durch das Über-Setzen auch ihren Ausgangspunkt und ihre eigene Bedeutung.
Wenn Prozesse einer intentionalen Transformation offen analysiert werden, kommen sowohl das potenzielle Scheitern als auch die Aushandlung von Bedeutungen, die Veränderung von Zielen und Ergebnissen im Übertragungsprozess, das Steckenbleiben, die Wiederholungen, die Konflikte in den Blick. Statt die Beziehungen zwischen Ausgangs- und Zielort in den Vordergrund der Argumentation zu stellen, wird in diesem Heft der Übersetzungsvorgang selbst analysiert und dessen mehrfache Bedeutungen ins Zentrum gerückt.
Ulrike Gleixner untersucht am Beispiel der Fruchtbringenden Gesellschaft Sprachreform in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Die Fruchtbringende Gesellschaft betrachtete sprachliche Übersetzungen als innovative Möglichkeit zur Verbesserung der deutschen Sprache. Nicht die Abgrenzung von anderen Sprachen, sondern gerade die Integration von fremdsprachigen Texten sollte das Ausdruckspotenzial des Deutschen erhöhen. Übersetzung analysiert sie demnach als einen durchlässigen, offenen Prozess. Ebenfalls als »eine Art Spracherwerb« versteht Mathias Mesenhöller die Übersetzung der Aufklärung ins Kurländische. Er analysiert die Programmschriften der Ständekämpfe um 1790, um zu zeigen, dass Aneignungen und Anwendungen permanent und kontextgebunden sind. Jörn Leonhard fragt, inwiefern sprachlich artikuliertes Deutungswissen von einer Gesellschaft, einem Staat, auf andere Kontexte übertragen wird, und was genau in diesen Übertragungs- und Übersetzungsvorgängen geschieht. Er analysiert das Aufkommen von liberal und Liberalismus im Politikvokabular Europas seit dem Ende des 18. Jahrhunderts im Hinblick darauf, wie Wortimitationen semantisch integriert werden. Bettina Dennerlein beschäftigt sich mit Reformdokumenten im vorkolonialen Marokko zwischen 1900 und 1908. Sie versteht Reformen als Ausdruck mehrdimensionaler Transferprozesse und zeigt auf, wie politische Ordnungsvorstellungen zirkulieren und auf unterschiedliche Weise angeeignet werden.
Im Mittelteil des Heftes skizzieren Richard Hölzl und Dominik Hünniger in einem Forschungsbericht aktuelle Diskussionen und Konzepte der Umweltgeschichte, die sich globalhistorischen Aspekten öffnet und unter dem Vorzeichen der jüngeren Kultur- und Wissenschaftsgeschichte neue Wege geht. Die Expokritik hat Annette Leo der Ausstellung »Babylon – Mythos und Wahrheit« im Berliner Pergamonmuseum gewidmet. Sie geht vor allem der Frage nach, wie Mythen von Babylon mit der historischen Überlieferung in Beziehung gesetzt werden.

Dietlind Hüchtker und die Redaktion

WerkstattGeschichte 48 (2008)
17. Jg., Juni 2008

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Editorial S. 3

THEMA
»über-setzen«

Ulrike Gleixner
Sprachreform durch Übersetzen.
Die Fruchtbringende Gesellschaft und ihre »Verdeutschungsleistung« in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts S. 7

Mathias Mesenhöller
Übersetzungen der Aufklärung ins Kurländische. Ein Versuch zur Aktualisierung modischer Codes S. 25

Jörn Leonhard
Von der Wortimitation zur semantischen Integration. Übersetzung als Kulturtransfer S. 45

Bettina Dennerlei n
Reform im vorkolonialen Marokko Zur Zirkulation und Aneignung politischer Ordnungsvorstellungen (1900 –1908) S. 65

DEBATTE

Richard Hölzl und Dominik Hünniger
Global denken – lokal forschen. Auf der Suche nach dem »kulturellen Dreh« in der Umweltgeschichte.
Ein Literaturbericht S. 83

EXPOKRITIK
Annette Leo
Babylon – Mythos und Wahrheit. Eine Ausstellung der Staatlichen Museen zu Berlin, des Musée du Louvre und der Réunion des Musées Nationaux, Paris und des British Museum, London, Pergamonmuseum Berlin 26. Juni bis 5. Oktober 2008 S. 99

REZENSIONEN

Gender im Geschichtsunterricht
(Martin Lücke) 103

Mischa Meier / Simona Slanička (Hg.)
Antike und Mittelalter im Film
(Gregor Rohmann) 105

Yvonne Kleinmann
Neue Orte – neue Menschen
(Monica Rüthers) 106

Rainer Liedtke
Kommunikationswege im europäischen
Bankenwesen (Klaus Weber) 108

Natascha Vittorelli
Frauenbewegung um 1900
(Angelika Schaser) 110

Ulrike von Hirschhausen
Deutsche, Letten, Russen und Juden in Riga
(Jörg Hackmann) 112

Kirsten Heinsohn /
Stefanie Schüler-Springorum (Hg.)
Deutsch-jüdische Geschichte als
Geschlechtergeschichte
(Uffa Jensen) 115

Oliver Trevisiol
Einbürgerungspraxis im Deutschen Reich
(Frauke Miera) 117

Johanna Gehmacher / Elizabeth Harvey /
Sophia Kemlein (Hg.)
Zwischen Kriegen (Sarah Lemmen) 119

Jörg Osterloh
Nationalsozialistische Judenverfolgung
(Ines Koeltzsch) 122

Sabine Kittel
Places for the Displaced
(Sandra Konrad) 123

Fritz Stern
Fünf Deutschland und ein Leben
(Franka Maubach) 125

Abstracts 129
Autoren und Autorinnen 131

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