Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 70 (2022), 1

Titel der Ausgabe 
Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 70 (2022), 1

Erschienen
München 2022: De Gruyter Oldenbourg
Erscheint 
vierteljährlich
Preis
Jahresabo: € 59,80; Stud.abo: € 34,80; Mitgl.abo. hist. u. pol. Fachverbände: € 49,80; Online-Zugang: € 49,00; Print+Online-Abo € 72,00

 

Kontakt

Institution
Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Land
Deutschland
c/o
Redaktion Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Institut für Zeitgeschichte, Leonrodstraße 46b, 80636 München, vfz@ifz-muenchen.de
Von
Florian Hoppe, Geisteswissenschaften, De Gruyter Oldenbourg

Das neue Heft der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte ist erschienen, wir wünschen anregende Lektüre!

Inhaltsverzeichnis

Aufsätze

David Jünger
Historische Erfahrung und politisches Handeln. Rabbiner Joachim Prinz, die Lehren aus dem Nationalsozialismus und das Engagement für die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung

David Jünger untersucht in seinem Aufsatz die intellektuelle und politische Auseinandersetzung des deutsch-amerikanischen Rabbiners Joachim Prinz (1902–1988) mit der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung und dem amerikanischen Rassismus der ersten beiden Nachkriegsdekaden. Diese Auseinandersetzung, so die These, ist nur vor dem Hintergrund seiner persönlichen Erfahrungen mit Nationalsozialismus und antisemitischer Ausgrenzung zu verstehen. Die von Prinz in den frühen 1930er-Jahren diskutierten Motive von Ghettoisierung, Isolation und Nachbarlosigkeit wurden zur Richtschnur seines späteren intellektuellen Denkens und politischen Handelns sowohl im Hinblick auf die rassistische Segregation in Amerika als auch auf die Konstitution der globalen Judenheiten nach dem Holocaust und der Gründung des Staats Israel.

David Jünger
Historical Experience and Political Action. Rabbi Joachim Prinz, Lessons Drawn from National Socialism and Support for the African American Civil Rights Movement

In his article, David Jünger investigates the intellectual and political engagement of German-American rabbi Joachim Prinz (1902–1988) with the African American Civil Rights Movement and American racism during the first two post-war decades. His thesis is that these interactions can only be understood against the background of his personal experience of National Socialism and antisemitic ostracism. In the early 1930s Prinz discussed motives of ghettoization, isolation and exclusion. These became the yardstick of his later intellectual thinking and political actions regarding both racist segregation in America as well as the constitution of global Jewry after the Holocaust and the foundation of the state of Israel.

Manuel Mork
Arbeiterwiderstand, faschistische Repression und internationale Solidarität. Eine italienische Provinzstadt im europäischen Fokus 1922 bis 1927

Die italienische Kleinstadt Molinella rückte nach der Machtübernahme Mussolinis im Oktober 1922 wiederholt in den Fokus der nationalen und europäischen Öffentlichkeit, da sich die dortigen Landarbeiter besonders resolut gegen den Gleichschaltungsdruck des faschistischen Regimes zur Wehr setzten. Auf diese Weise erlangte Molinella einen doppelten Symbolcharakter: aus Sicht des Regimes als roter Schandfleck, aus der Perspektive der Sozialisten als Lichtblick. Den Arbeiterfamilien sollte die geballte Aufmerksamkeit letztlich zum Verhängnis werden, führte sie doch dazu, dass die Faschisten Ende 1926 zur Deportation der verbliebenen Sozialisten übergingen. Die Sozialistische Arbeiterinternationale bemühte sich darum, diese Repressionsmaßnahmen bekannt zu machen, die, wie Manuel Mork darlegt, Aufschluss über die Natur des italienischen Faschismus geben.

Manuel Mork
Workers’ Resistance, Fascist Repression and International Solidarity. An Italian Provincial Town in the European Spotlight, 1922 to 1927

The Italian town of Molinella was repeatedly in the European and international spotlight after Mussolini’s coming into power in October 1922, as the local farm workers defied the pressure of the Fascist regime to conform to an exceptional degree. In this manner Molinella acquired a symbolic character for both sides: for the regime, it was a red stain, while from the Socialist perspective, it was a ray of hope. This high degree of attention would ultimately lead to the ruin of these working-class families, since the Fascists ultimately deported the remaining Socialists in late 1926. The Labour and Socialist International tried to publicise these repressive measures, which, as Manuel Mork sets out, provide insight into the nature of Italian Fascism.

Ansbert Baumann
Mehr Integration? Fußball und Arbeitsmigranten in der Bundesrepublik Deutschland 1955 bis 1973

Entgegen dem Narrativ, Sport – und insbesondere Fußball – wirke integrierend, hatte der Fußball für die erste Generation der „Gastarbeiter“ zunächst eher separierende Effekte: Die Migranten gründeten eigene Vereine, die teilweise sogar in eigenständigen „Ausländerligen“ gegeneinander antraten, und verharrten somit in ihrem vertrauten soziokulturellen Milieu. Verschiedene Integrationsbemühungen des Deutschen Fußball-Bunds scheiterten häufig nicht zuletzt am Engagement der Entsendestaaten, die über den Fußball die Heimatbindung der Arbeitsmigranten stärken wollten. Längerfristig leisteten die fußballerischen Aktivitäten der „Gastarbeiter“ jedoch, wie Ansbert Baumann aufzeigt, vor allem aufgrund ihrer indirekten Effekte einen wichtigen Beitrag zum Beheimatungsprozess der Migranten.

Ansbert Baumann
More Integration? Football and Migrant Workers in the Federal Republic of Germany, 1955 to 1973

In contrast to the narrative that sport, and especially football, has an integrating effect, the first generation of “guest workers” in the Federal Republic of Germany initially experienced a separating effect through football: the migrants founded their own clubs, some of which even competed against each other in independent “foreigner leagues” and thus remained in their familiar socio-cultural milieu. Various integration efforts by the German Football Association failed, not least because of the involvement of the sending states, who wanted to strengthen the migrant workers’ ties to their homeland through football. In the long term, however, as Ansbert Baumann’s article shows, the football activities of the “guest workers” made an important, albeit mostly indirect contribution to the migrants’ sense of belonging to the host society.

Miszelle

Alina Marktanner
Neue Quellen der Beratungsforschung: Marvin Bowers Perspective on McKinsey

Nicht der Firmengründer und Namensgeber James O. McKinsey machte McKinsey & Company zum weltweit umsatzstärksten Beratungsunternehmen. Es war sein Nachfolger Marvin Bower, der eher im Verborgenen wirkte, aber bis in die letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts wegweisend für die Entwicklung der Firma bleiben sollte. Alina Marktanner hat ein seltenes Dokument aus Bowers Feder ausgewertet und zeigt: Die streng gehütete „Firmenbibel“ von 1979 ist zu lesen als Intervention zu einer Zeit, in der die US-amerikanische Beratungsbranche vorübergehend Schwäche zeigte. Nicht nur potentielle Klientinnen und Klienten wollten von der Unternehmensberatung als Dienstleistung überzeugt werden. McKinsey & Company musste auch die eigenen Beraterinnen und Berater an sich binden.

Alina Marktanner
New Sources for Consulting Studies: Marvin Bower’s Perspective on McKinsey

Rather than the founder of McKinsey & Company, the eponymous James O. McKinsey, it was his successor Marvin Bower, who by working mostly in the background until the last decades of the 20th century proved formative for the development of the business and turned the company into the consulting firm with the highest turnover worldwide. Alina Marktanner has analysed a rare document written by Bower and shows that the closely guarded “company bible” of 1979 is to be read as an intervention at a time when the whole US consulting industry was experiencing temporary weakness. It was not only potential clients who had to be convinced of company consulting as a service, but McKinsey & Company also had to bind its own consultants to the business.

Dokumentation

Thomas Schlemmer
Innenansichten einer „Staatspartei“. Die CSU zwischen Krise und Reorganisation – Berichte zur Lage der Partei in der bayerischen Provinz vor der Bundestagswahl 1953

Obwohl die Christlich-Soziale Union in Bayern (CSU) seit den 1970er-Jahren immer wieder das Interesse der historischen und der sozialwissenschaftlichen Forschung gefunden hat, gibt es eine bemerkenswerte Leerstelle in der Geschichte der Partei, deren absolute Mehrheiten lange Zeit gleichsam vorprogrammiert schienen: Über die erste Hälfte der 1950er-Jahre weiß man vergleichsweise wenig, als die CSU nach einem vielversprechenden Aufbruch 1945/46 in eine tiefe Krise geriet, von der sie sich erst seit 1955 zu erholen begann. Thomas Schlemmer leistet mit seiner Dokumentation einen Beitrag dazu, diese Lücke zu schließen. Die Quellen, die er präsentiert, zeigen, wie ausgezehrt und von den Schatten der Vergangenheit bedroht die selbsternannte „Staatspartei“ im Vorfeld der zweiten Bundestagswahl 1953 gewesen ist. Die Reiseberichte des CSU-Landesgeschäftsführers Alois Engelhard porträtieren die bayerische Provinz in einem Moment, in dem von den krisenhaften Anfängen der von den Kriegsfolgen schwer gezeichneten Bundesrepublik noch viel, von den Segnungen des sogenannten Wirtschaftswunders dagegen noch kaum etwas zu spüren war.

Thomas Schlemmer
Inside Views of a “State Party”. The CSU Between Crisis and Reorganisation – Reports on the State of the Party in the Bavarian Countryside Before the Federal Election of 1953

Even though the Christian Social Union in Bavaria (CSU) has caught the interest of historical and sociological research since the 1970s, there is a remarkable lacuna in the history of the party, for which absolute majorities seemed a given for many years: After a promising start in 1945/46, the CSU entered a deep crisis in the first half of the 1950s, a period about which comparatively little is known and from which it only started to recover since 1955. Thomas Schlemmer’s documentation aims at helping to close this gap. The sources he presents show a self-proclaimed “state party” emaciated and plagued by the shadows of the past just before the second federal election of 1953. The travel reports of CSU State Manager Alois Engelhard provide a portrait of the Bavarian countryside at a moment, when the crisis-ridden beginnings of the Federal Republic were still much more shaped by the aftereffects of the Second World War rather than people feeling much of the early blessings of the so-called economic miracle.

VfZ-Schwerpunkt

Martina Steber
„A very English superstar“. John Rutter, die populäre Klassik und der transnationale Konservatismus seit den 1970er-Jahren

Der britische Komponist, Dirigent und Musikunternehmer John Rutter gehört seit den 1980er-Jahren zu den wenig beachteten Größen der populären Klassik – im globalen Musikmarkt erfolgreich, in der anglophonen Welt populär, mit seinen Weihnachtslied-Kompositionen regelmäßig an der Spitze der Klassik-Charts platziert. Rutter verkörpert all das, was gerade nicht mit der kommerziellen Popkultur verbunden wird. Er ist das Gegenbild eines Popstars, er reüssiert mit geistlicher Musik, er adressiert Mittelschicht und Bürgertum, er personifiziert Familienwerte, Gemeinschaftssinn und Traditionswahrung. Am Beispiel Rutters zeigt die Autorin, welch hohe Bedeutung konservativen Popkulturen für die Herausbildung und Entwicklung eines transnationalen Konservatismus in Europa und Nordamerika seit den 1970er-Jahren zukam. Der Aufsatz legt das Zusammenspiel von Nationalisierung und Transnationalisierung im Konservatismus offen und weist auf die Vielfalt an Formen und Kontexten hin, in denen sich konservative Haltungen in populären Musikkulturen manifestieren konnten. Sie boten Potenziale für Politisierungen, konnten aber auch allein im Kulturellen wirksam bleiben. Rutters Klangwelten weisen weit über englische Kathedralen und College Chapels hinaus.

Martina Steber
“A very English superstar”. John Rutter, Popular Classical Music and Transnational Conservatism Since the 1970s

Since the 1980s, it has been largely unnoticed how the British composer, conductor and music entrepreneur John Rutter has become a leading figure in popular music – successful on the global music market, popular in the English-speaking world and regularly at the top of the classical music charts with his Christmas song compositions. Rutter embodies precisely the opposite of commercial pop culture: He is the antitype of a pop star, he succeeds with sacred music, he addresses the middle class and the Bourgeoisie and he personifies family values, community spirit and the preservation of tradition. Using the example of Rutter, the author demonstrates the high importance of conservative pop cultures for the emergence and development of a transnational conservatism in Europe and North America since the 1970s. The article reveals the interplay between nationalisation and transnationalisation in conservatism and points out the variety of forms and contexts, in which conservative dispositions can manifest in popular musical cultures. They offered opportunities for politicisation, but could also remain effective purely in the cultural sphere. Rutter’s sound worlds clearly transcend English cathedrals and college chapels.

Diskussion

Frank Bajohr/Rachel O’Sullivan
Holocaust, Kolonialismus und NS-Imperialismus. Forschung im Schatten einer polemischen Debatte

Seit 2020 wird in der Bundesrepublik mit wachsender Heftigkeit um die Ausrichtung der deutschen Erinnerungskultur gestritten: Ist diese zu einseitig und katechistisch auf Holocaust und Judenverfolgung im „Dritten Reich“ konzentriert und ignoriert damit beharrlich einen erweiterten Kontext von Kolonialismus, Imperialismus und Rassismus? Der vorliegende Beitrag versucht zu zeigen, dass die Dichotomien und Polemiken dieser Debatte die wissenschaftliche Forschung nahezu verdecken, die sich seit Jahrzehnten um eine angemessene Kontextualisierung der NS-Verbrechen bemüht. Einfache Kontinuitätskonstruktionen zwischen Kolonialismus und Holocaust hat die Forschung dabei mehrheitlich abgelehnt. Die nationalsozialistische Massengewalt jenseits des Holocaust sowie die NS-Okkupationspolitik in Osteuropa lohnen jedoch, unter kolonialen Prämissen näher analysiert zu werden.

Frank Bajohr/Rachel O’Sullivan
Holocaust, Colonialism and Nazi Imperialism. Research in the Shadow of a Polemic Debate

Since 2020, there has been an increasingly heated debate in the Federal Republic concerning German remembrance culture: Is it too one-sided and catechistically focused on the Holocaust and the persecution of Jews in the Third Reich, thus persistently ignoring a broader context of colonialism, imperialism and racism? This article attempts to show that the dichotomies and polemics of this debate almost obscure the scholarly research that has been striving to adequately contextualize Nazi crimes for decades. The majority of research on the topic has rejected simple constructions of continuity between colonialism and the Holocaust. However, Nazi mass violence beyond the Holocaust, as well as Nazi occupation policies in Eastern Europe, are worth analyzing more closely under colonial premises.

Aus der Redaktion

Joachim Scholtyseck, „Ich bin ganz aus Disziplin zusammengesetzt!“ Klaus Hildebrand zum 80. Geburtstag

Notiz

16. Aldersbacher Schreib-Praxis. Ein anwendungsorientiertes Seminar des Instituts für Zeitgeschichte und des Verlags De Gruyter Oldenbourg (25. bis 29. Juli 2022)

VfZ-Online

Neu: Zwei weitere Beiträge in der Rubrik „VfZ Hören und Sehen“
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