Seit einiger Zeit wird versucht, die Theorien von Michel Foucault für die Diskussion um Entwicklungspolitik fruchtbar zu machen. Das Heft liefert eine vertiefte Diskussion dieser Fragestellung, indem es die internationale Bevölkerungspolitik, die Situation in Chile und die Bedeutung des Foucaultschen Ansatzes für die Entwicklungstheorie unter die Lupe nimmt sowie nach den Bedingungen einer zukunftsfähigen Entwicklung fragt.
Editorial "Gouvernementalität" Die Arbeiten des französischen Philosophen und Historikers Michel Foucault haben in den Gesellschaftswissenschaften zu neuen Auseinandersetzungen um die Begriffe von Macht, Subjekt und Wissen geführt. Foucault hat seine Begriffe in historischen Studien entwickelt, die über die historische Rekonstruktion hinaus immer auch eine "Ethnologie der eigenen Gesellschaft" waren. Dabei ist die foucaultsche "Geschichte der Gegenwart" eine Geschichte des Ausschlusses, des Zum-Schweigen-Bringens, der Normalisierung und Disziplinierung. Es ist die Geschichte derer, die zu Wahnsinnigen, zu Kranken, zu Delinquenten und zu Abnormen gemacht wurden. In diese Reihe ließe sich auch der "Wilde" als ein weiterer Anderer eingliedern. Doch ein blinder Fleck Foucaults ist die "Dritte Welt". Mit Ausnahme einer Artikelreihe über die iranische Revolution hat Foucault selbst sich nicht mit entwicklungstheoretischen Fragestellungen auseinandergesetzt. Dennoch hat der recht spät einsetzende Griff der Entwicklungstheoretiker in die foucaultsche "Werkzeugkiste" die Auseinandersetzung um die "Dritte Welt" bereichert. Ein zentraler Ansatzpunkt ist die Kritik am Entwicklungsdenken, verstanden als ein über Stadien und linear verlaufendes, stets höher weisendes Voranschreiten von Gesellschaften nach dem Leitbild der Industrieländer. Foucault hatte sich bereits in seinen frühen, epistemologischen Arbeiten gegen eine derartige, von Hegel stammende Geschichtsvorstellung gewandt und stattdessen in Anschluss an die Annales-Schule, aber auch an die Epistemologie Bachelards und Canguilhems das Modell einer Geschichte von Brüchen vertreten. In der foucaultschen Archäologie des Wissens liegen die Wissensschichten gleich den Erdschichten übereinander, ohne durch eine übergreifende Logik miteinander verbunden zu sein. Über diese epistemologische Kritik am Entwicklungsdenken hinaus legt der genealogische Zugang, wie Foucault ihn mit der machttheoretischen Wende des Diskursbegriffes in "Die Ordnung des Diskurses" skizziert, nahe, den Entwicklungsdiskurs auch als Ausübung von Macht zu kritisieren. Im Diskurs von Entwicklung wird die Norm der industrialisierten, westlichen Industrieländer mit dem spezifischen männlichen, weißen, rationalen Subjekt entworfen, dessen Anderes der Unter-Entwickelte, Rück-Ständige ist. In der jüngsten Zeit wird in der Auseinandersetzung um Foucault vor allem das Konzept der "Gouvernementalität" aufgegriffen. Bei Foucault dient der Neologismus "Gouvernementalité", der sich aus den Worten "gouverner – regieren" und "mentalité ? Mentalität" zusammensetzt, in erster Linie als Korrektur seiner in dem binären Schema souveräne Macht vs. Disziplinarmacht gefangenen Machttheorie. Mit dem Begriff der Gouvernementalität rückt Foucault die Genealogie des modernen Staates als Makroebene und die Genealogie des Subjekts als Mikroebene in einen gemeinsamen Zusammenhang. Für die aktuelle Diskussion um Gouvernementalität ist jedoch weniger der Anschluss an die Genealogie entscheidend, sondern vielmehr an die von Foucault gelegten Ansätze einer neoliberalen Gouvernementalität. In den 1990er Jahren bildete sich angesichts der Kritik an Modernisierungsstrategien, die die Interessen der lokalen Bevölkerung oft völlig ignorierten, der Implosion der Gesellschaften sowjetischen Typs und des postmodernen Endes der großen Theorien der post-development-Ansatz heraus. Hierbei handelt es sich um keine einheitliche Theorierichtung, vielmehr ist die dem cultural turn in den Sozialwissenschaften folgende Kritik am Konzept "Entwicklung" das Gemeinsame. Aram Ziai diskutiert in seinem Überblicksartikel wesentliche Ansätze des post-development aus foucaultscher Perspektive. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass mit Rückgriff auf Foucault durchaus neue Sachverhalte ins Blickfeld rückten. Gleichwohl sei die Anwendung foucaultscher Kategorien auf Entwicklung keineswegs ausgeschöpft, da es viele der post-development-Ansätze bei einer oberflächlichen Foucault-Rezeption hätten bewenden lassen. Es entspricht der Arbeitsweise Foucaults von Ereignissen aus zu denken, die historische Brüche markieren, an denen sich Diskurse bilden und die sich zu Dispositiven, verstanden als Ensemble von Diskursen und Institutionen, verdichten. In diesem Sinne analysiert Siegfried Timpf die Herausbildung des Dispositivs der "Nachhaltigen Entwicklung", in dem sich alle Akteure bewegen müssen, um innerhalb gesellschaftlicher Diskurse überhaupt wahrgenommen zu werden. Timpf belegt das am Beispiel der politischen Leitbilder und des Konfliktverhaltens so unterschiedlicher Akteure wie des BDI, der BUKO, der Shell AG und Greenpeace'. Susanne Schultz macht in ihrer Kritik gegenwärtiger Bevölkerungspolitik deutlich, wie sehr neoliberale Regierung, Bio-Macht und Selbstführung zusammengehören. Dies zeigt sich vor allem in der Artikulation neoliberaler Regierung mit neomalthusianischen Bevölkerungspolitiken. Gerade diese Artikulation wird jedoch von dominanten Frauen-NGO bestritten, als Anachronismus abgetan oder mit einem reduzierten Staatsverständnis gar positiv gewendet. Damit agieren Frauen-NGO in der neoliberalen politischen Rationalität. Dies verweist auf einen wichtige Neuerung, die mit dem Gouvernementalitätsansatz einhergeht. Nichtregierungsorganisationen und Neue Soziale Bewegungen werden nicht per se als emanzipative Akteure gesehen, sondern ganz im Gegenteil sind sie eingebunden in die Spiele der Macht und können letztlich zu ihrer eigenen Verherrschaftung beitragen. Verónica Schild macht am Beispiel des chilenischen Transitionsprozesses nach Ende der Pinochet-Diktatur 1990 deutlich, wie Frauenorganisationen, die im anti-diktatorischen Kampf eine entscheidende Rolle spielten, unter den post-diktatorischen Regierungen die Grundlage für einen breiten Konsens des neoliberalen Modells bereiten. Flexibilisierte Frauenarbeit und die Selbstkonstituierung von Frauen als Kleinstunternehmerinnen sind dabei eine Grundlage neoliberalen Regierens. In diese Richtung argumentiert auch Gottfried Oy in seinem Beitrag zu Gegenöffentlichkeit, der im Rahmen der von PERIPHERIE, Ludwig Quidde-Forum und Institut für Theologie und Politik zu Anfang dieses Jahres veranstalteten Tagung "Globalisierung, Soziale Bewegungen und kritische Publizistik" entstand. Alternative Medien haben mit ihren Formen der Selbstausbeutung und der Innovation letztlich mit zu neuen, flexibilisierten Arbeitsbeziehungen allgemein beigetragen. Doch sollte man nicht das Kind mit dem Bade ausschütten: Im Kampf um kulturellen Hegemonie sind weiterhin alternative Formen der Wissensproduktion und Verbreitung vonnöten. Angesichts der Globalisierungssituation sind sie vor die Aufgabe gestellt, über den nationalen Tellerrand hinauszublicken. Gerade die verblieben Zeitschriften die – wie auch die PERIPHERIE – im Kontext der heute real inexistenten "Dritte-Welt-Bewegung" entstanden sind, stehen hier vor neuen Herausforderungen, die sich verstärkt aus einer transnationalen Ausrichtung ergeben. Zusätzlich zu dieser Herausforderung hat die PERIPHERIE den Anspruch, hochwertige wissenschaftliche Artikel zu publizieren. Auch in diesem Jahr gelang dies zu einem nicht unerblichen Maße Dank der kritischen und einfühlsamen Gutachterarbeit durch die Mitglieder des Beirates der PERIPHERIE. Ihnen sei an dieser Stelle herzlichst gedankt.
Aram Ziai: Foucault in der Entwicklungstheorie The article examines the numerous attempts to usefully employ Foucauldian concepts of power and discourse in an analysis of development policy. Best known among these is the so-called post-development school, whose exaggerations and implausible generalizations can be traced back to an improper use of Foucauldian theory. Other attempts also provide interesting insights while leaving some questions unanswered. Foucauldian concepts in development theory point to the historical contingency of the idea of development as well as to its eurocentric and ideological implications. As yet, however, the relations between the macro-level of development policy and the micro-level of the individual are not sufficiently explored. Therefore, an application of the thus far neglected Foucauldian concept of governmentality on development policy seems promising.
Siegfried Timpf: Im Fadenkreuz. Dispositiv und Gouvernementalität der Nachhaltigkeit The aim of different actors is not the popularization of a transparent concept of Sustainable Development but the construction of a network of meanings in which all of us must move necessarily to be perceived within social discourses at all. The "dispositif" of Sustainable Development is a net between heterogenous elements like the reinterpretation of nature as environment or the equity between and in generations. It consists for epistemological purposes of the construction of problems, knowledge-forms and techniques. Thus it enables constructions of truth, power-effects and subjectivations and is at the same time a basis for particular forms of Environment-Governmentality. The latter are designed to change the everyday-life according to the constructed problems, knowledge-forms and techniques. It is suggested to combine the concepts Dispositif and Govermentality to improve analysis and critical faculty.
Susanne Schultz: Neoliberale Transformationen internationaler Bevölkerungspolitik: Die Politik Post-Kairo aus der Perspektive der Gouvernementalität The article discusses the transformation of international population policies after the UN Conference on Population and Development 1994 in Cairo in the context of neoliberal rationalities as they are analysed in governmentality studies. With this perspective it is possible to avoid the false alternative interpreting Post-Cairo-policies – between the thesis of rupture because of the establishment of the reproductive rights and health paradigm on the one hand and pure continuity of analysing this paradigm as merely external "feminized" rhetoric on the other. The predominance of a health rationale after Cairo aiming to reduce "risks" related to pregnancy makes it possible to articulate antinatalist demographic strategies with discourses about individual selfdetermination. By the differentiation of risk factors and risk groups this process of medicalization also opens population policies up for fragmented and flexible strategies corresponding to neoliberal "security policies" by governmentality studies.
Verónica Schild: Die Freiheit der Frauen und gesellschaftlicher Fortschritt. Feministinnen, der Staat und die Armen bei der Schaffung neoliberaler Gouvernementalität This paper explores the claim that neo-liberalism is much more than a program of socio-economic policies; it is the new rationality of government, and it is coextensive with state formation and congruent with capitalism's present phase. Relying on an approach influenced by Michel Foucault's notion of governmentality, and by recent attempts to rethink the state in cultural terms, the paper offers a feminist reading of cultural political transformations in Chile. The paper reconstructs the recent history of feminist involvement in institutional transformation in that country's social sector, exploring both discourses and practices in bureaucratic settings. It argues that an earlier feminist preoccupation with the personal empowerment of women, which was part of women's emancipatory struggles, as been reconfigured -- with the collaboration of feminists -- as techniques and strategies for producing gendered, rational, entrepreneurial actors who are functional to Chile's present development strategy. This amounts to making empowered citizens out of poor women in a broader context of re-regulation of society along the lines of a neo-liberal rationality of government.
Gottfried Oy: Vom Kampfbegriff Gegenöffentlichkeit zur elektronischen Demokratie. Kritische Publizistik, Gegenöffentlichkeit und die Nutzung Neuer Medien durch soziale Bewegungen International protest networks are using modern information an communication technology as means of their activity. Theoretical reflection on the role of this technology and its political background are rare. The idea of a counter public, which spreads suppressed information and leads towards social change, taken from the 1970s, is not adequate anymore. Oy calls for theoretical considerations on the bi-directional modern mass communication and its role for international protest networks.
Kommentar Ebrahim Towfigh: Friedensnobelpreis: Honorierung des "Anderen"
Rezensionsartikel Reinhart Kößler: Gedächtnisorte und Dilemmata von Erinnerungskulturen
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