Peripherie: Politik - Ökonomie - Kultur 43 (2023) 1

Titel der Ausgabe 
Peripherie: Politik - Ökonomie - Kultur 43 (2023) 1
Weiterer Titel 
Krieg in Europa – Perspektiven aus dem Süden

Erschienen
Leverkusen 2023: Barbara Budrich Verlag
Erscheint 
2 bis dreimal im Jahr
ISBN
978-3-8474-2729-2
Anzahl Seiten
212
Preis
Einzelheft: 19,00 €; Doppelheft: 29,90 €; Jahresabonnement: Personen: 36,00 € (Print), 44,00 € (Print + Online); Studierende: 29,90 € (Print), 37,00 € (Print + Online); Institutionen: 87,00 € (Print), 109,00 € (Print + Online), 109,00 € (Online); Einzelbeitrag im Download unter http://peripherie.budrich-journals.de: 4,00 €

 

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Institution
Peripherie: Politik • Ökonomie • Kultur
Land
Deutschland
c/o
PERIPHERIE Redaktionsbüro c/o Michael Korbmacher Stephanweg 24 48155 Münster Telefon: +49-(0)251/38349643
Von
Michael Korbmacher

Der Überfall der russischen Armee auf die Ukraine hat vor allem im globalen Westen eine Neujustierung der Politik ausgelöst. Die "Zeitenwende" hat lang gehegte Aufrüstungspläne beglaubigt und die Bedeutung von Militärbündnissen, allen voran der NATO, forciert. In kurzer Zeit entstand eine neue hegemoniale Vorstellung von "Normalität", in deren Licht die alte, zumal in Deutschland vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges viele Jahrzehnte lang gültige nun als illusionär beschrieben und belächelt wird. Inzwischen werden Zweifel an der Positionierung der ukrainischen Regierung gerne mit den Termini #Westsplaining und auch #Eastsplaining belegt. Die Analogie zum länger geläufigen #Mensplaining weist deutlich auf die Stoßrichtung hin: Wer nicht zustimmt, verteidigt die eigene privilegierte Position in einer überkommenen Hierarchie. Die Verortung der Ukraine wie auch anderer osteuropäischer Staaten einschließlich heutiger Mitglieder der NATO als postkolonial liegt dann nicht mehr fern. Allerdings fragt sich, was mit den anderen beiden Himmelsrichtungen in diesem metaphorischen Konstrukt wohl los sein mag.

Zugleich ist nämlich unverkennbar, dass die Normalität in weiten Teilen der Welt immer anders aussah, als sie in dieser Erzählung beschrieben wird. Große Teile Afrikas, aber auch Südost- und Westasiens und Südamerikas waren und sind Schauplätze teils sehr langer kriegerischer Konflikte, teils auch kurz aufflammender Konfrontationen. Die Formen und Inhalte dieser Kriege reichten und reichen ohne Anspruch auf Vollständigkeit von wenigen zwischenstaatlichen Konflikten und oft ganze Regionen erfassenden nationalen Befreiungskriegen bis hin zur gewaltsamen Etablierung der Kontrolle über ressourcenreiche Gebiete, zur Errichtung religiös verbrämter Herrschaftsformen oder zur brutalen Verteidigung bestehender Machtverhältnisse. Das Eingreifen in diese Prozesse seitens westlicher Mächte, aber auch Russlands hat die Konflikte in den letzten Jahren verschärft und wesentlich zu der seit Längerem konstatierten Versicherheitlichung auch der Entwicklungspolitik beigetragen. Entsprechende Debatten führten die meisten, die sich im Westen darum kümmerten, jedoch letztlich abseits des Geschehens.

Diese Sicht der Dinge war immer schon mindestens prekär. Seit dem 24. Februar 2022 lässt sie sich nicht mehr halten. Gleichviel, ob man der regierungsamtlichen Positionierung traut und die Notwendigkeit einer weitgehenden Unterstützung der militärischen Anstrengungen der Ukraine akzeptiert oder ob man etwa beunruhigt ist durch die Risiken einer nuklearen Konfrontation: der Krieg ist in der Wahrnehmung auch im westlichen Europa nahe gerückt, in der öffentlichen Kommunikation näher als während der Kriege auf dem Balkan vor bald 30 Jahren. Hinzu kommt der flagrante Bruch völkerrechtlicher Grundprinzipien durch die russische Invasion, der Souveränität der Staaten und der Unverletzlichkeit der Grenzen, zentraler Garanten wenigstens einer Einhegung von Konflikten, soweit diese zwischen Staaten ausgetragen werden. Ungeachtet dessen zeigen Staaten gerade in ihren Grenzregimes, dass sie nicht zuletzt Teil einer Ordnung der Gewalt darstellen. Umso wichtiger erscheinen auf nationaler wie internationaler Ebene Regeln, die diese Gewalt einhegen, und hier ordnet sich die Unverletzlichkeit der Grenzen ein. Nicht umsonst hat dies die Organisation für Afrikanische Einheit vor 60 Jahren zu einem ihrer Kernprinzipien gemacht, wie der kenianische UN-Botschafter Martin Kimani in seiner in diesem Heft dokumentierten Erklärung anlässlich des russischen Überfalls vom Februar 2022 betont.

Nicht von ungefähr nimmt nun die deutsche und westeuropäische Öffentlichkeit irritiert wahr, dass diese Reaktion auf die russische Aggression auf globaler Ebene keineswegs so uniform ist, wie man es vielleicht erwartet hätte. Die Stimmenthaltung nicht weniger Staaten des Globalen Südens in der UN-Generalversammlung oder der offene Widerspruch, auf den die Forderung nach Solidarität mit dem eigenen Vorgehen etwa in der Weigerung der brasilianischen Regierung unter Präsident Lula trifft, Munition für die in die Ukraine gelieferten Gepard-Panzer zu liefern, verweisen auf Möglichkeiten des Umgangs mit der Krise, die in weiten Teilen etwa der deutschen Öffentlichkeit kaum präsent sind. Die West-Ost-Metapher war und ist blind für die übergroße Mehrheit der lebenden Menschen.

Das vorliegende Heft geht einigen der Konsequenzen des Krieges in der Ukraine und der öffentlichen Kommunikation darüber aus der spezifischen Perspektive nach, welche die Sicht aus dem Globalen Süden eröffnet. Dabei kann es um nicht mehr gehen als um Schlaglichter. Dennoch wird deutlich, dass sich nicht nur die Koordinaten verschoben haben, nach denen von Deutschland aus die Welt betrachtet wird, sondern dass in anderen Weltregionen schon längst ganz andere Koordinaten mit westlich geprägten konkurrieren oder im Vordergrund stehen. Dabei spielen unweigerlich historische Erfahrungen mit Kolonialismus, neokolonialer indirekter Kontrolle und regionaler Hegemonialpolitik eine wichtige Rolle.

Die offenkundige Zurückhaltung der meisten Regierungen Afrikas gegenüber den Ansinnen von NATO und G7 zur Unterstützung ihrer Anstrengungen einschließlich der Waffenlieferungen an die Ukraine stellen Sarah Then Bergh & Siba N‘Zatioula Grovogi in größere Zusammenhänge sowohl des Systems der internationalen Beziehungen als auch besonders der Erfahrungen Afrikas mit Kolonialismus, Diskriminierung und Hegemonialpolitik. Dabei betonen sie die Bedeutung internationaler Prinzipien, wie sie besonders in der Atlantik-Charta und der UN-Charta verankert sind. Deren Geltung wird jedoch untergraben, wenn sie nicht von allen respektiert werden. Die Beziehungen Afrikas zum Westen sind aber gerade wesentlich durch die Erfahrung geprägt, dass westliche Mächte einschließlich kolonialer Akteure wie Frankreich und Großbritannien, teilweise im Verbund mit den USA, verschiedentlich gegen diese unverzichtbaren Prinzipien verstoßen haben. Wie auch das Handeln vieler afrikanischer Regierungen zeigt, bleibt es vor diesem Hintergrund eine ernstzunehmende Option, sich den aktuellen bipolar orientierten oder gar manichäischen Argumentationsweisen zu entziehen und an der durch die Konferenz von Bandung 1955 initiierten Politik der Blockfreiheit festzuhalten. Inhaltlich schließt hier der kurze Beitrag von Vijay Prashad & Mikaela Erskog an, die noch stärker die Strategie der USA zur Militarisierung Afrikas und Chinas als alternative Option herausarbeiten.

Aus ähnlicher Perspektive beleuchtet Raina Zimmering die Reaktionen in Lateinamerika auf den Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Hier verbinden sich zwei Jahrhunderte hegemonialer Politik der USA mit der Monroe-Doktrin, die mit wenigen Schwankungen den Anspruch der USA auf letztinstanzliche Kontrolle der Hemisphäre begründet. Auch hier ist mit Beginn des Ukraine-Krieges die Konkurrenz gegenüber China und auch Russland deutlich verschärft worden. Zimmering ordnet diese Beobachtungen in einen imperialismustheoretischen Bezugsrahmen ein und gibt einen Überblick über aktuelle Reaktionen und Stellungnahmen lateinamerikanischer Regierungen. Auch dabei spielt die Positionierung als Blockfreie eine wesentliche Rolle. Dies findet u.a. Ausdruck in der Bildung neuer regionaler Zusammenschlüsse unter Ausschluss der USA und Kanadas. Die Auswirkungen der gegen Russland verhängten Sanktionen treffen die lateinamerikanischen Volkswirtschaften hart. Dies verstärkt den Wunsch nach einer schnellen Beendigung des Krieges. Dieser Wunsch hat Ausdruck in einer Reihe von diplomatischen Initiativen gefunden. Zimmering versteht die Politik der untersuchten Staaten als "aktives Non-Alignment" im Gegensatz zu einer Neutralität, die auch passiv verstanden werden könnte. Die Perspektive des durch eine explizite Doktrin unterfütterten Hegemonieanspruchs legt die grundsätzliche Frage nach geopolitischen Einflusssphären, Sicherheitszonen oder auch "Hinterhöfen" nahe, die von großen Mächten beansprucht oder ihnen auch zugestanden werden. Es wird hier deutlich, dass über die Legitimität solcher Ansprüche schwerlich selektiv entschieden werden kann. Wer also das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine hoch hält, müsste für dieses Prinzip auch in der westlichen Hemisphäre oder im Fernen Osten eintreten.

Speziell in Deutschland sind, wie Charlotte Wiedemann zeigt, mit dem Krieg gegen die Ukraine Gewissheiten und diskursive Selbstverständlichkeiten ins Rutschen geraten, die unter Verweis auf die Verbrechen des Stalinismus selbst die scheinbar unerschütterliche, geradezu amtliche Überzeugung von der Singularität des Holocaust betreffen. Die zumindest tolerante Betrachtung dieser oft nationalistisch überhöhten Tendenzen kontrastiert deutlich mit der fortdauernden Sanktionierung postkolonialer Bestrebungen einer inklusiven Sicht auch auf die Verbrechen des Kolonialismus und ihre Opfer mit dem etablierten Argument eben der Gefahr einer Relativierung des Holocaust, die jedoch mit dem stärkeren Einfluss von Sichtweisen aus einer postsowjetischen Sphäre zugleich in den Hintergrund gedrängt wird. Gegenüber den vielfältigen Überschreibungen historischer Erinnerung, die sie ins Bewusstsein ruft, beharrt Wiedemann auf der Perspektive eines "planetaren Gemeinwesens", das auf der Anerkennung einer universell verstandenen Gleichheit und der Gleichwertigkeit eines jeden menschlichen Lebens gegründet sein müsse.

Außerhalb des Schwerpunktes beschäftigt sich Ilse Lenz aus einer intersektionalen und postkolonialen Perspektive mit der feministischen Gerechtigkeitsbewegung für die "Trostfrauen". Der transnationale Zusammenschluss von Feminist:innen setzt sich für die Anerkennung und Wiedergutmachung des Unrechts der sexuellen Zwangsarbeit ein, das junge Frauen aus Ost- und Südostasien während des Asiatisch-Pazifischen Krieges Japans (1937-1945) durch die Kaiserliche Japanische Armee erfuhren. Lenz adressiert mit ihrem Beitrag eine bedeutende Leerstelle in der feministischen Forschung der memory studies. Sie beleuchtet nicht nur einen der bedeutendsten und umfassendsten weltweiten Vorstöße der feministischen Gedächtnisarbeit, der im deutschsprachigen Raum bislang wenig Aufmerksamkeit erfahren hat. Anhand von drei Fallstudien in Südkorea, Japan und Deutschland zeigt sie, wie die Gerechtigkeitsbewegung durch unterschiedliche Strategien und Akteursgruppen im Kontext vielfältiger postkolonialer Konstellationen das kulturelle Gedächtnis in den jeweiligen Gesellschaften maßgeblich prägen konnte. Eine zentrale Rolle für die Schaffung breiter und transnationaler Bündnisse spielen, wie Lenz aufzeigt, die Berücksichtigung intersektionaler Ungleichheiten zwischen den feministischen Aktivist:innen bei gleichzeitiger Anerkennung der Definitionsmacht der "Trostfrauen".

Am 1. März 2023 stellte Außenministerin Annalena Baerbock Leitlinien des Auswärtigen Amtes (AA) zur feministischen Außenpolitik vor. Rita Schäfer nimmt dafür vorliegende Konzepte in den Blick. Ihr Debattenbeitrag fokussiert auf deren inhaltliche Schwerpunkte und erläutert parteipolitische Kontroversen über feministische außenpolitische Forderungen unter früheren Regierungen. Dabei geht es aber nicht um eine Momentaufnahme der medial viel diskutierten Neuerungen. Vielmehr veranschaulicht ein zeitlicher Längsschnitt der Auseinandersetzungen zwischen demokratischen Parteien im Bundestag die parlamentarischen Prozedere, die von der Fachwelt und der medialen Öffentlichkeit bislang kaum wahrgenommen wurden. Auch Einschätzungen aus der Zivilgesellschaft kommen dabei zur Sprache, die vor allem die mangelnde Beachtung pazifistischer Ziele und die defizitäre Unterstützung von Frauen-/Menschenrechtsaktivist:innen in repressiven Regimen monieren.

Im Januar dieses Jahres erreichte uns ein Rundbrief aus dem Iran. Er geht auf dem Höhepunkt der dortigen Unruhen der Frage nach, welche Hoffnungen mit den Kämpfen vor allem der Frauen, aber auch vieler Männer verbunden waren. Drei Monate später ist es ruhiger geworden, doch der Kampf gegen die Tyrannei ist längst nicht beendet.

Von Erfahrungen Geflohener, mit denen er zusammenarbeitet, erzählt Dilan Canbaz. Er schildert als Ich-Erzähler den steinigen Weg eines Menschen, den dieser bei seiner Flucht vor Krieg und Gewalt in Afghanistan beschreiten musste, bevor er in Österreich politisches Asyl erhielt und sich in Graz niederlassen konnte. Zugleich reflektiert Canbaz‘ Erzählung dessen bleibende Fremdheit.

In seinem Stichwort zeichnet Benno Teschke zuerst die historische Entwicklung des Begriffs Geopolitik nach. Vorläufer dieses Denkens wurden in einer Zeit entwickelt, als imperiale Bestrebungen danach trachteten, letzte noch nicht angeeignete Territorien zu kolonisieren. U.a. die Nazis konnten daran anschließen. Ab 1933 reift die Geopolitik zu einer offiziellen deutschen Staatswissenschaft. Sie eignete sich als Gegensatz zu marxistischen Imperialismustheorien sowie zum Internationalismus. Derzeit nehmen die oft unkritischen Bezugnahmen auf den Terminus "Geopolitik" zu. Dies, so Teschke, sei Ausdruck der sich verändernden strategischen Geographie nach dem Kalten Krieg, weil Ressourcen-Politik für die Großmächte verstärkte Bedeutung erlangte.

Reinhart Kößlers Rezensionsartikel bezieht sich auf vier Bücher, die sich mit dem postkolonialen Erinnern beschäftigen. Hierbei geht es um die Beziehungen, die zwischen Kolonialismus und Holocaust postuliert oder abgestritten werden, und eine vielschichtige Kontroverse, die zuweilen als Historikerstreit 2.0 bezeichnet wird. Dabei wird der Streitpunkt um die Frage der Singularität des Holocaust noch einmal hervorgehoben. Es geht aber nicht darum, die deutsche Verantwortung durch Ablenkungsmanöver kleinzureden, sondern im Gegenteil eine weitergehende, den Kolonialismus mit umfassende Verantwortung einzuklagen. Die besprochenen Bücher sind die deutsche Fassung des auf Englisch schon 2009 erschienenen Buches von Michael Rothberg zu multidirektionaler Erinnerung, die ebenso provokante wie umfassende Studie von A. Dirk Moses zu einer Kritik der Grundlagen des Diskurses über Völkermord, sodann eine Studie von Steffen Klävers, die es unternimmt, die Positionen von Jürgen Zimmerer, Dirk Moses und Michael Rothberg zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust kritisch zu analysieren. Schließlich thematisiert das Buch von Charlotte Wiedemann, auch Autorin in diesem Heft, die Problematik eines kosmopolitischen oder "Weltgedächtnisses", das dennoch in spezifischen Perspektiven steht und daher universelle Anerkennung des Leidens, aber differenzierte Empathie bedeuten könnte.

Die vorliegende Doppelausgabe, die den 43. Jahrgang eröffnet, haben wir aufgrund der Aktualität des Themas kurzfristiger als üblich geplant. Sie bietet Perspektiven aus dem Globalen Süden auf den Krieg in Europa. Vor diesem Hintergrund hat sich auch die von der deutschen Ausministerin angekündigte feministische Außenpolitik zu bewähren. Ein zweites Doppelheft zum Thema "Bildungsfalle: Bildung für alle?" rundet diesen Jahrgang im Herbst/Winter ab. Weiter geplante Schwerpunkte sollen "Internationalismus"; "Digitalisierung", "Racial Capitalism" sowie "Gelebte Utopien" beleuchten. Zu diesen und anderen Themen sind Beiträge sehr willkommen. Die entsprechenden Calls for Papers finden sich auf unserer Homepage, sobald sie veröffentlicht werden.

Letztmalig hat Sarah Becklake als englische Muttersprachlerin die Summaries korrigiert. Wir danken ihr herzlich dafür, dass sie diese Aufgabe seit 2008 mit Engagement und großer Zuverlässigkeit durchgeführt hat. Aus persönlichen Gründen muss sie sie nun abgeben. In eigener Sache danken wir allen Leser:innen, Abonnent:innen sowie den Mitgliedern der Wissenschaftlichen Vereinigung für Entwicklungstheorie und Entwicklungspolitik e.V., der Herausgeberin der PERIPHERIE. Unsere größtenteils ehrenamtliche Arbeit ist weiterhin von Spenden abhängig. Eine für die langfristige Sicherung des Projekts besonders willkommene Förderung stellt die Mitgliedschaft im Verein dar, in der das Abonnement der Zeitschrift sowie regelmäßige Informationen über die Redaktionsarbeit enthalten sind. Wir freuen uns aber auch über einmalige Spenden. Unsere Bankverbindung finden Sie im Impressum.

Inhaltsverzeichnis

Maria Mies (1931‑2023), S. 3

Zu diesem Heft, S. 5 (https://doi.org/10.3224/peripherie.v43i1.01)

Siba N‘Zatioula Grovogui & Sarah Then Bergh: „Das dürfte in Europa eigentlich nicht passieren“. Das Problem der Internationalen Beziehungen aus Sicht des Globalen Südens, S. 11 (https://doi.org/10.3224/peripherie.v43i1.02)

Charlotte Wiedemann: Krieg und Gedächtnis. Über historisches Begreifen und die gefährdete Erinnerung an den Holocaust. Ein Versuch, die neue Unübersichtlichkeit zu kartieren (Debatte), S. 46 (https://doi.org/10.3224/peripherie.v43i1.03)

Raina Zimmering: Monroe-Doktrin und Ukraine-Krieg. Zur Haltung der lateinamerikanischen Staaten, S. 59 (https://doi.org/10.3224/peripherie.v43i1.04)

Ilse Lenz: Die Gerechtigkeitsbewegung für die „Trostfrauen“ in intersektionaler postkolonialer Sicht, S. 91 (https://doi.org/10.3224/peripherie.v43i1.05)

Martin Kimani: Erklärung für eine Dringlichkeitssitzung des UN‑Sicherheitsrats zur Lage in der Ukraine (Dokumentation), S. 116 (https://doi.org/10.3224/peripherie.v43i1.06)

Vijay Prashad & Mikaela Erskog: Afrika souverän? (Debatte), S. 119 (https://doi.org/10.3224/peripherie.v43i1.07)

Rita Schäfer: Feministische Außenpolitik. Zwischen visionären Perspektiven, Parteiengerangel und Praxistests in Deutschland (Debatte), S. 125 (https://doi.org/10.3224/peripherie.v43i1.08)

Brief aus dem Iran, S. 143 (https://doi.org/10.3224/peripherie.v43i1.09)

Dilan Canbaz: Die tiefen Spuren einer Suche (Erzählung), S. 148 (https://doi.org/10.3224/peripherie.v43i1.10)

Benno Teschke: PERIPHERIE-Stichwort: "Geopolitik", S. 153 (https://doi.org/10.3224/peripherie.v43i1.11)

Reinhart Kößler: Herausforderungen postkolonialen Erinnerns (Rezensionsartikel), S. 160 (https://doi.org/10.3224/peripherie.v43i1.12)

Rezensionen, S. 177

Wolfgang Gehrke & Christiane Reymann (Hg.): Ein willkommener Krieg? NATO, Russland und die Ukraine (Reinhart Kößler) (https://doi.org/10.3224/peripherie.v43i1.13)

Kai Ambos: Doppelmoral – Der Westen und die Ukraine (Reinhart Kößler) (https://doi.org/10.3224/peripherie.v43i1.14)

Rosa Maria Weißer: Defizite und Chancen – Was trägt das Völkerrecht zur Lösung territorialer Konflikte bei? Eine Analyse am Fallbeispiel der Krim (Reinhart Kößler) (https://doi.org/10.3224/peripherie.v43i1.15)

Parmenides Stiftung (Hg.): Perspektiven nach dem Ukrainekrieg. Europa auf dem Weg zu einer neuen Friedensordnung? (Reinhart Kößler) (https://doi.org/10.3224/peripherie.v43i1.16)

Daniel Brombacher, Günther Maihold, Melanie Müller & Judith Vorrath (Hg.): Geopolitics of the Illicit. Linking the Global South and Europe (Rita Schäfer) (https://doi.org/10.3224/peripherie.v43i1.17)

Sammelrezension zu:
- Jürgen Gottschlich & Dilek Zaptcioglu-Gottschlich: Die Schatzjäger des Kaisers. Deutsche Archäologen auf Beutezug im Orient
- Susanne Leeb & Nina Samuel (Hg.): Museums, Transculturality, and the Nation-State. Case Studies from a Global Context
- Thomas Sandkühler, Angelika Epple & Jürgen Zimmerer (Hg.): Geschichtskultur durch Restitution? Ein Kunst-Historikerstreit
- Bénédicte Savoy: Afrikas Kampf um seine Kunst. Geschichte einer postkolonialen Niederlage (Reinhart Kößler) (https://doi.org/10.3224/peripherie.v43i1.18)

Henning Melber & Kristin Platt (Hg.): Koloniale Vergangenheit – postkoloniale Zukunft? Die deutsch-namibischen Beziehungen neu denken (Daniel Bendix) (https://doi.org/10.3224/peripherie.v43i1.19)

Alexander E. Davis, Vineet Thakur & Peter Vale: The Imperial Discipline. Race and the Founding of International Relations (Eleonor Roldán Mendívil) (https://doi.org/10.3224/peripherie.v43i1.20)

Desiree Lewis & Gabeba Baderoon (Hg.): Surfacing. On Being Black and Feminist in South Africa (Rita Schäfer) (https://doi.org/10.3224/peripherie.v43i1.21)

Dietmar Süß & Cornelius Torp: Solidarität. Vom 19. Jahrhundert bis zur Corona-Krise (Reinhart Kößler) (https://doi.org/10.3224/peripherie.v43i1.22)

Emanuel Kapfinger: Die Faschisierung des Subjekts. Über die Theorie des autoritären Charakters und Heideggers Philosophie des Todes (Gerhard Hauck) (https://doi.org/10.3224/peripherie.v43i1.23)

Hannimari Jokinen, Flower Manase & Joachim Zeller (Hg.): Stand und Fall. Das Wissmann-Denkmal zwischen kolonialer Weihestätte und postkolonialer Dekonstruktion (Reinhart Kößler) (https://doi.org/10.3224/peripherie.v43i1.24)

Eingegangene Bücher, S. 207

Summaries, S, 209

Zu den Autorinnen und Autoren, S. 211

Summaries

Sarah Then Bergh & Siba N'Zatioula Grovogui: This Shouldn't Happen in Europe: The Problem of International Thought Seen from the Global South.
This paper aims to revisit a plea by global south elites, particularly leaders and opinion-makers in Africa, to recast the debate around the Russian invasion into Ukraine along the axis of larger questions about the international order and attendant security systems. Accordingly, the article traces contemporary articulations of African non-alignment, which have held the question of Ukraine rights, Russian concerns, and NATO ambitions as three separate questions that are not to be confused or conflated as morally and legally indivisible. Though consistent with international norms and the principle of a rule-based international system, such views have confused European analysts and angered US policymakers operating on the predicate that the guidance of Europe and the West is of global normative utility, if not a desirable universal good. This has led to a false charge of African indifference toward Ukraine, exemplified in the repeated, if insinuated, contrast between a civilized liberal democratic Europe and an Africa that has yet to understand the stakes of international morality, law, and security. Against this misinformed judgement, the paper seeks to illuminate the competing memories and lessons of histories that African elites hold, which are neither part of the European/Western nor Russian commonsense.

Raina Zimmering: The Attitude of Latin American Countries to the War in Ukraine against the Background of the Monroe Doctrine.
The Monroe Doctrine, which represents a formative trauma for Latin American states, is influencing both their attitudes to the war in Ukraine, in which they distance themselves from both Russia and Western states, as well as their role as a neutralizing and stabilizing power in the international system. Since its beginning, most Latin American governments' assessment of the war in Ukraine has differed from Western countries in various important respects. On the one hand, all Latin American states condemn Russia's military intervention in Ukraine, yet, on the other hand, they diverge from the "West" on the causes of the war, on questions of sanctions and guilt, and on end scenarios. In this article, I investigate how Latin America's experiences with the Monroe Doctrine has influenced its independent attitude to the war in Ukraine, its intermediate position in the new tension between the great powers, and its peace-promoting potential in the newly forming international system. Theoretically, I deal critically with imperialism and strategic development approaches.

Ilse Lenz: The Justice Movement for "Comfort Women" through an Intersectional Postcolonial Perspective.
During the Asia Pacific War (1937-1945), the Japanese Imperial Army forced women in Japanese East Asian colonies to work as so-called "comfort women" (sex workers). The justice movement for these women is an international intersectional alliance of feminists from Japanese ex-colonies in East Asia, the former colonial power Japan, and other societies, such as Australia, Germany, and the USA. This long-term feminist justice movement has campaigned for an apology and compensation from the Japanese government, as well as for recognition of "comfort women's" suffering and of sexual violence in war in cultural memory. Through researching this justice movement from a processual intersectionality perspective, this paper shows that it gained power and legitimacy from reflecting and working on its internal intersectional inequalities. This included reflecting on the class hierarchies between many former "comfort women", who had power of definition, and intellectual feminist activists, as well as on the postcolonial divide between former Japanese colonies and the former colonial power Japan, leading it to develop horizontal cooperation and practices. Following an overview, the paper outlines the movements in South Korea, Japan, and Germany, and highlights the different postcolonial constellation between East Asia and Germany, the main actors, and their aims. While the Japanese government rejected the justice movement's demands and the right wing mobilised against it, has been able to influence cultural memory to widely recognize sexual violence in war and the dignity of the "comfort women".

Zusammenfassungen

Sarah Then Bergh & Siba N'Zatioula Grovogui: "Das dürfte in Europa eigentlich nicht passieren". Das Problem der Internationalen Beziehungen aus Sicht des Global Südens
Dieser Beitrag soll ein Plädoyer von Eliten des globalen Südens, insbesondere von führenden Politiker:innen und Meinungsmacher:innen in Afrika, aufgreifen, um der Debatte über den russischen Einmarsch in der Ukraine im Rahmen größerer Fragen zur internationalen Ordnung und den damit verbundenen Sicherheitssystemen eine andere Wendung zu geben. Dementsprechend geht der Artikel den zeitgenössischen Artikulationsformen der afrikanischen Blockfreiheit nach, die die Frage der Rechte der Ukraine, die Anliegen Russlands und die Ambitionen der NATO als drei separate Fragen betrachten, welche nicht miteinander vermengt oder als moralisch und rechtlich untrennbar zusammengeworfen werden dürfen. Obwohl solche Ansichten mit internationalen Normen und dem Grundsatz eines auf Regeln basierenden internationalen Systems im Einklang stehen, haben sie europäische Analytiker:innen verwirrt und amerikanische Politiker:innen verärgert, die davon ausgehen, die Führung Europas und des Westens sei von globalem normativem Nutzen, wenn nicht gar ein wünschenswertes universelles Gut. Dies hat zum falschen Vorwurf afrikanischer Gleichgültigkeit gegenüber der Ukraine geführt, der wenn auch nicht ausdrücklich, sondern unterschwellig den Gegensatz zwischen einem zivilisierten, liberal-demokratischen Europa und einem Afrika wiederholt, welches die Bedeutung von internationaler Moral, Recht und Sicherheit noch nicht verstanden habe. Gegen dieses falsche Urteil versucht der Beitrag, die konkurrierenden Erinnerungen und Lehren der afrikanischen Eliten aus der Geschichte zu beleuchten, die weder Teil des europäischen/westlichen noch des russischen Common Sense sind.

Raina Zimmering: Die Haltung der lateinamerikanischen Staaten zum Ukraine-Krieg vor dem Hintergrund der Monroe-Doktrin
Die Monroe-Doktrin stellt für die lateinamerikanischen Staaten ein prägendes Trauma dar, das ihre Haltung zum Ukraine-Krieg, bei dem sie sich sowohl von Russland als auch von den westlichen Staaten abgrenzen, als auch ihre Rolle als neutralisierende und stabilisierende Macht im internationalen System entscheidend beeinflusst. Seit Beginn des Ukraine-Krieges unterscheidet sich die Bewertung des Krieges durch die meisten lateinamerikanischen Regierungen in wichtigen Punkten von denen der westlichen Staaten. Einerseits verurteilen alle lateinamerikanischen Staaten die kriegerische Intervention Russlands in der Ukraine, andrerseits vertreten sie in der Frage der Sanktionen, der Kriegsursachen, der Schuldfrage und der Beendigungsszenarien eigenständige, vom "Westen" divergierende Positionen. Im Artikel greife ich der Frage auf, wie die Erfahrungen Lateinamerikas mit der Monroe-Doktrin dessen eigenständige Haltung zum Ukraine-Krieg, seine Äquidistanz-Position im neuen Spannungsverhältnis der Großmächte und das Frieden fördernde Potenzial im sich neu formierenden internationalen System beeinflusst hat. Theoretisch setzte ich mich kritisch mit imperialismus- und entwicklungsstrategischen Ansätzen auseinander.

Ilse Lenz Die Gerechtigkeitsbewegung für die "Trostfrauen" in intersektionaler postkolonialer Sicht
Die feministische Gerechtigkeitsbewegung für "Trostfrauen" stellt ein internationales intersektionales Bündnis dar, in dem Feminist:innen aus den kolonisierten ostasiatischen Gesellschaften, aus denen die Opfer kamen, und der ehemaligen Kolonialmacht Japan erfolgreich zusammenarbeiten. "Trostfrauen" wurden als sexuelle Zwangsarbeiterinnen für die Kaiserliche Japanische Armee im Asiatisch-Pazifischen Krieg Japans (1937-1945) eingesetzt. Während die Bewegung zunächst in Ostasien und auf der globalen Ebene der UNO mobilisierte, wurde sie später u.a. in Australien, den USA und in Deutschland aktiv. Sie bildet einen der größten und längsten globalen Ansätze feministischer Erinnerungsarbeit, ist aber in Deutschland kaum bekannt. Der Artikel untersucht die Gerechtigkeitsbewegung aus einer Perspektive prozessualer Intersektionalität. Sie gewann ihre Kraft und Legitimität auch daraus, dass sie die ihr innewohnenden intersektionalen Ungleichheiten reflektierte und bearbeitete. Das galt gleichermaßen für die Klassenunterschiede zwischen "Trostfrauen" aus der Arbeiterschaft und intellektuellen Unterstützer:innen vor Ort wie für die postkolonialen Machtverhältnisse zwischen Aktivist:innen aus Japans Exkolonien und der ehemaligen Kolonialmacht. Sie entfaltete inklusive gleichheitliche Praktiken, die eine breite Beteiligung erlaubten. Leitend für das Bündnis war die Definitionsmacht der "Trostfrauen". So ermöglichten die Zentrierung auf die "Trostfrauen", die Reflektion der unterschiedlichen verstrickten Subjektpositionen und der Einsatz für das gemeinsame Anliegen eine langfristige, internationale Zusammenarbeit. Die Gerechtigkeitsbewegung entfaltete sich unterschiedlich im Südkorea, in Japan und in Deutschland. Dies zeigen drei Fallstudien, die die unterschiedliche postkoloniale Konstellation in Ostasien und Deutschland sowie die verschiedenen Akteursgruppen und Ansätze umreißen. Während sich die japanische Regierung einer angemessenen Entschuldigung verweigerte und rechte Bewegungen dagegen mobilisierten, konnte die Bewegung das kulturelle Gedächtnis in ihren Gesellschaften tiefgreifend beeinflussen.

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