Das Erscheinen der 100. Nummer einer Vierteljahreszeitschrift ist berechtigter Anlass zur Freude. 100 Ausgaben der Peripherie markieren einhundert unterschiedliche Ausdrucksformen eines Projekts, das alles in allem recht erfolgreich die Gratwanderung zwischen Wissenschaft und bewusster Bezugnahme auf soziale Bewegungen im Süden wie im Norden bestanden hat. Ein solcher Anlass kann aber auch zum Innehalten und zur Reflektion außerhalb der Routine der Heftproduktion genutzt werden.
Inhaltsverzeichnis:
Einladung zum Workshop, S. 412 Editorial, S. 413
In der Peripherie – aus der Peripherie
Reinhart Kößler: Peripherie – wie alles anfing und dann weiterging, S. 417
Soussan Sarkhosh: Aus der Peripherie an die Peripherie, S. 425
Du-Yul Song: Raum und Zeit, einmal bewusst erlebt, S. 435
Ulrich Menzel: "Die Welt von den Rändern her denken". Rückblick und Ausblick auf 100 Peripherien, S. 439
Michael Korbmacher: Die Welt von den Zentren her gedacht. Die Abwesenheit der Peripherie im Beitrag Ulrich Menzels, S. 444
Ulrich Brand: Die Produktion alternativen Wissens in neoliberal-imperialen Zeiten. Oder: Warum die Peripherie wichtig bleibt, S. 449
Eva-Maria Bruchhaus: Die Entdeckung der Peripherie, S. 454
Theorie in emanzipativer Absicht Wolfgang Hein: Eine Welt, Weltgesellschaft und die Kämpfe um globale Ordnung, S. 458
Gerhard Hauck: Freie Mobilität der Produktionsfaktoren oder Demokratisierung der Ökonomie. Bemerkungen zu Wolfgang Heins "Eine Welt, Weltgesellschaft und die Kämpfe um globale Ordnung", S. 465
Ole Döring: Die Peripherie im Denken. Periphere Gedanken zur Kultur der Ethik während der Globalisierung. Ein Essay in vier Stücken, S. 468
Georg Simonis: Ohne Zentrum keine Peripherie, S. 474
Reinold E. Thiel: Die Exportorientierung des Wirtschaftswachstums Rosa Luxemburg und die Krise der kapitalistischen Produktionsweise, S. 479
Entwicklung: Hilfreiche Fata Morgana? Julia Dernbach & Mathias Greffrath: Hilfgard Hönnendonker-Heyermann: Interna aus dem Leben einer Ministerialdirigentin im Entwicklungshilfeministerium, S. 484
Thomas Gebauer: New Solidarity!? Kritische Anmerkungen zur Rolle von Hilfe heute, S. 489
Theo Rauch: Viel gelernt, doch geholfen hat’s wenig! S. 494
Rüdiger Korff: Entwicklung ein Missverständnis? S. 500
Solidarität: Wer mit wem für was? Henning Melber: Solidarität, Empathie und Befreiungsbewegungen an der Macht. Eine (selbst-)kritische Zwischenbilanz, S. 508
Aram Ziai: Die Stimme der Unterdrückten. Gayatri Spivak, koloniale Wissensproduktion und postkoloniale Kritik, S. 514
Maria Tekülve: Josephine und wir – oder: 15 Jahre sambische Peripherie, S. 523
Michael Ramminger: Ein neuer Internationalismus? S. 528
Christa Wichterich: From Margin to Mainstream to Margin. Wege und Umwege transnationaler Frauennetzwerke und der Globalisierung von Frauenrechten, S. 534
Peter Wahl: Die Peripherie ins Zentrum. Mäandernde Marginalien zu Verdi, Bono und den MDGs, S. 539
Rezensionen Burchardt, Hans-Jürgen: Zeitenwende. Politik nach dem Neoliberalismus. Von Ulrich Brand, S. 543 Olaf Gerlach, Stefan Kalmring, Daniel Kumitz & Andreas Nowak (Hg.): Peripherie und globalisierter Kapitalismus. Zur Kritik der Entwicklungstheorie. Von Wolfgang Hein, S. 546 Rheinisches JournalistInnenbüro: "Unsere Opfer zählen nicht". Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg. Von Reinhart Kößler, S. 550
Eingegangene Bücher, S. 551 Zu den Autorinnen und Autoren, S. 552 Jahresregister, S. 555 Impressum, S. 564
Editorial
100 Peripherien - Die Welt von den Rändern her denken
Viele haben die Peripherie längst totgesagt. Doch die PERIPHERIE lebt. Die Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt feiert ihr 25jähriges Bestehen. Herausgegeben und getragen von der Wissenschaftlichen Vereinigung für Entwicklungstheorie und Entwicklungspolitik e.V. ist sie vor einem Vierteljahr-hundert angetreten mit dem Anliegen, "vorwiegend der Diskussion analytisch-theoretischer Beiträge zu Fragen der 'Dritten Welt' zu dienen" (Editorial Heft 1). Ein entscheidender Ausgangspunkt waren damals die zunehmenden Widersprüche der "Befreiungsbewegungen an der Macht" und der damit zusammenhängende Niedergang der Solidaritätsbewegung und des politisch verstandenen Antiimperialismus. Daraus ergab sich die Aufgabenstellung, durch "theoretisch aufgeklärte, empirisch gesättigte Analyse politische Anstöße" für die Entstehung neuer Perspektiven zu geben. Die Szene hat sich gründlich geändert.
Der Name "PERIPHERIE" wird im Zusammenhang mit dem Untertitel "Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt" weiterhin irgendwie verstanden, doch sind die Assoziationen für die heutigen LeserInnen sicherlich sehr viel weniger eindeutig als das noch 1980 der Fall war. Damals war die Auseinandersetzung mit der Dependenztheorie und dem "Zentrum-Peripherie-Konzept" noch in vollem Gange - auch wenn sich die "Krise der Entwicklungstheorie" vielleicht schon andeutete. Wichtig ist vor allem, dass in diesem Diskussionskontext zwar auf das in der raumwirtschaftlichen und -planerischen Diskussion schon recht alte Konzept der "Peripherie" Bezug genommen wurde, dass aber - vor allem, aber nicht nur dank Autoren wie Andre Gunder Frank und Samir Amin - dem Begriff eine zentrale politische Bedeutung innewohnte: U.a. als Folge der fordistischen Entwicklung und des Klassenkompromisses in den Metropolen (in anderem Zusammenhang als "goldenes Zeitalter des Kapitalismus" bezeichnet) wurde der Süden als zentraler Schauplatz der globalen Revolution gesehen, zuweilen anknüpfend an die chinesische Theorie von den "Dörfern und Städten im Weltmaßstab".
Auch wenn sich die genannten Autoren gegen einen "Tiersmondisme" wandten, also gegen eine politische Analyse, die die zentrale globale Konfliktlinie zwischen den Staaten des Südens und den Staaten des Nordens sieht, so war doch Samir Amins These, dass die revolutionäre Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise ihren Ausgang von der Peripherie nehmen werde, typisch für verbreitete Erwartungen der Linken zumindest bis Ende der 1970er Jahre.
Statt dessen wurden wir Zeugen der neoliberalen "Revolution": Seitdem konnten wir eine enorme Beschleunigung des Prozesses der globalen Vergesellschaftung beobachten. Dabei kam die Problematik der ungleichen Entwicklung immer mehr in global beeinflussten internen Ungleichheiten und Marginalisierungsprozessen in Peripherie und Zentren zum Ausdruck. Die politischen Perspektiven veränderten sich sowohl durch den Globalisierungsschub als auch durch die in seinem Verlauf eingetretene Implosion des Sowjetsystems und ihre über dessen unmittelbaren Machtbereich weit hinausreichenden Folgen: Manche Orientierungen, etwa auf nationale Befreiungsbewegungen, sind obsolet geworden, alte Frontstellungen existieren nicht mehr, neue Konfliktlinien sind entstanden. Auch wenn in ihren Grund-konstanten die Probleme, Akteure und Fragen von damals noch die gleichen sein mögen - Ausdrucksformen, Kräfteverhältnisse und Problemlösungspotenziale haben sich grundlegend verändert, neue Akteure sind, etwa mit der Zivilgesellschaft, ins Blickfeld gerückt. Vor allem traten als Nachfolger und Fortsetzer der neuen sozialen Bewegungen neuartige, international diffus vernetzte Bewegungsformen auf wie die globalisierungskritische Bewegung oder die Weltsozialforen, von denen inzwischen wiederum Bestrebungen zur Regionalisierung und Lokalisierung dieses Bewegungsansatzes ausgegangen sind. Die ZapatistInnen stehen für eine neue Form der Militanz, die globalisierte Medien als entscheidendes Kommunikations- und Mobilisierungsinstrument einsetzt.
So kam es - nicht zuletzt auch unter dem Eindruck der weltpolitischen Veränderungen von 1989/91 - zu tiefgreifenden Veränderungen im Selbstbild und Auftreten einer vorerst zumindest gerade auf internationaler/globaler Ebene eher diffusen und punktuell konvergierenden linken Opposition - bei einer gleichzeitigen Transformation militanter politischer Kräfte in der Dritten Welt in völlig unterschiedliche Richtungen. Diese umfassen etwa reformistische Kräfte, die sich an "systemischer Wettbewerbsfähigkeit" orientieren, aber auch die radikale Kritik der aktuellen Globalisierung mit unterschiedlichen Perspektiven, die wiederum von lokalistischen Ansätzen bis zu Vorstellungen einer alternativen Globalität reicht. Alle diese global oppositionellen Strömungen stehen - nicht zuletzt als Folge der Globalisierung und der Verdichtung von Kommunikationsmöglichkeiten - in weit engerem Kontakt miteinander als zuvor und lassen sich in weit geringerem Maß als vor 25 Jahren regional verorten, geschweige denn festlegen. Zugleich sehen sie sich neuen Formen globaler Konfrontation durch die Auseinandersetzung mit einem gleichfalls global agierenden Terrorismus und der hegemonialen Reaktion auf diese Gefahr gegenüber. Damit sind in neuer Form Fragen der globalen Ungleichheit und des Ausgleichs, aber auch der kulturellen Differenz und der Universalität zentraler menschenrechtlicher Normen aufgeworfen.
Eine profunde Erörterung der zuvor angerissenen Fragestellungen würde zweifelsohne weitere 100 PERIPHERIEN füllen. Allein dies rechtfertigt die Fortführung dieser Zeitschrift. Als Redaktion sahen wir jedoch die Herausforderung, diese vielfältigen Aspekte von Bilanz und Perspektive in nur einer Ausgabe, der Nummer 100, aufblitzen zu lassen. Deshalb haben wir uns entschieden, kurze, zugespitzte, in freier Form abgefasste und zum Teil anekdotenhafte Diskussionsbeiträge einzuwerben, um so unseren LeserInnen, ein wenig aber auch uns selbst einen bunten Geburtstagsstrauß zusammenzustellen. Das sonst übliche Begutachtungsverfahren haben wir für diesen Anlass ausgesetzt. Wir denken, dass dieses Vorhaben mit den vorliegenden 21 Beiträgen gut gelungen ist.
Aus Gründen der Übersichtlichkeit haben wir die Beiträge in vier Kapitel geordnet. Dabei sind wir nach dem Motto vorgegangen, das es Ordnung gibt, wenngleich es keine hinreichenden Gründe dafür gibt, dies als einzig mögliche Ordnung anzusehen. Andere Kategorien und Zuordnungen wären gleichermaßen möglich. Wir haben uns jedoch für folgende Blöcke entschieden:
Unter dem Motto "In der PERIPHERIE - aus der Peripherie" lassen wir Stimmen über und aus der PERIPHERIE sowie aus der Peripherie zu Wort kommen.
Es folgen Beiträge, die sich mit dem Stand der entwicklungstheoretischen Diskussion auseinandersetzen, ohne sich allerdings im wissenschaftlichen Elfenbeinturm zu verbarrikadieren. Auch wenn es antiquiert klingt - allein schon der modische Retro-Look verdeutlicht ja, dass nicht notwendig alles out ist, was es schon ein wenig länger gibt: Hier wird "Theorie in emanzipativer Absicht" betrieben.
Mit dem nächsten Kapitel tauchen wir weiter in die Un-Tiefen entwicklungspolitischer Praxis ein und fragen, ob sich Begriff und Praxis der Entwicklung nicht als "hilfreiche Fata Morgana" erwiesen haben, bei der virtuelle und reale Entwicklungsprozesse zunehmend auseinanderfallen.
Die PERIPHERIE hat sich immer auch als kritische Wegbegleiterin der Solidaritätsbewegung verstanden. Diese ist nun in ihrer alten Form zweifelsohne kaum mehr existent, globale Solidarität aber steht weiterhin mit vielen Fragezeichen auf der Tagesordnung emanzipativer Bewegungen. Und so bleibt auch die Fragestellung unseres vierten und abschließenden Kapitels aktuell: "Solidarität: Wer, mit wem, für was?"
Damit wollen wir diese Ausgabe mit kritischen Nachfragen und weitgehenden Fragestellungen Euch und Ihnen, den LeserInnen, überreichen und zum fragenden und mitdiskutierenden Weiterschreiten einladen.
Auch zum Abschluss des 25. Jahrgangs möchten wir den GutachterInnen herzlich für Ihre Mitarbeit danken. Mit ihren scharfsinnigen und oft sehr detaillierten Gutachten haben sie viel zum Gelingen der einzelnen Ausgaben beigetragen (siehe auch Seite 560).
P.S. Wie wir in der Ausgabe 97/98 dokumentiert haben, ist auch die PERIPHERIE von den Kürzungen in der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit nicht unbetroffen geblieben. Gerade auch deshalb sind Geschenke an das Geburtstagskind PERIPHERIE herzlich willkommen!
P.P.S. Selbstverständlich wollen wir den 25. Geburtstag der PERIPHERIE auch gebührend feiern! Wir laden Euch und Sie am 11. Februar 2006 zu dem Symposium "100 Peripherien - Die Welt von den Rändern her denken!" herzlichst nach Berlin ein. Also, den Termin schon mal vormerken! Das genaue Programm steht demnächst auf unserer Homepage: www.zeitschrift-peripherie.de oder kann unter info@zeitschrift-peripherie.de erfragt werden.