Peripherie (28. Jg. 2008), 3

Titel der Ausgabe 
Peripherie (28. Jg. 2008), 3
Weiterer Titel 
Machtverschiebungen in der Weltwirtschaft

Erschienen
Münster (Westf.) 2008: Westfälisches Dampfboot
Erscheint 
4 Nummern in 3 Ausgaben
ISBN
978-3-89691-819-2
Anzahl Seiten
140
Preis
Einzelheft 9,10 EUR, Doppelheft 18,20 EUR, Abo 30,10 EUR, Abo für Institutionen 55,20 EUR

 

Kontakt

Institution
Peripherie: Politik • Ökonomie • Kultur
Land
Deutschland
c/o
PERIPHERIE Redaktionsbüro c/o Michael Korbmacher Stephanweg 24 48155 Münster Telefon: +49-(0)251/38349643
Von
Korbmacher, Michael

Inhaltsverzeichnis

INHALTSVERZEICHNIS

Editorial 255

Stefan Schmalz: Umbrüche in der Weltwirtschaft: Aufstrebende Schwellenländer und der Niedergang von IWF und WTO 259

Joachim Betz: Schwerpunktverschiebung nach Asien? China und Indien als aufstrebende Großmächte 280

Chris King-Chi Chan: Neue Muster von ArbeiterInnenprotest in Südchina 301

Dik Roth & Jeroen Warner: Virtuelles Wasser: Teil der Lösung oder Teil des Problems? 328

Reinhart Kößler: PERIPHERIE-Stichwort: Weltwirtschaft 357

Rezensionen 359

Eingegangene Bücher 386

Summaries 390

Zu den Autorinnen und Autoren 392

Editorial

Verschiebungen in den Machtverhältnissen der Weltwirtschaft

Der rasante wirtschaftliche Aufschwung, der seit den 1990er Jahren in China, Indien und eingeschränkt auch Brasilien, Südafrika oder Venezuela beobachtet wird, hat ältere, mit dem Schlagwort vom "Jahrhundert Asiens" verbundene Diskussionen über fundamentale Machtverschiebungen sowohl in der globalen Wirtschaft als auch in der Weltpolitik neu beflügelt. Dieses Heft der Peripherie richtet seinen Blick auf Veränderungen in den Regionen, die immer wieder als neue geographische Schwerpunkte von Weltwirtschaft und Weltpolitik genannt werden. Die Frage der Dominanz einer nationalen Ökonomie in der Weltwirtschaft ist bereits ein altes Thema, eng verknüpft mit der Frage nach politischen Hegemonie- und Dominanzstrukturen. Dabei geht es sowohl um regionale Hegemonialstellungen, wie sie von Fernand Braudel in der Abfolge von Hauptstädten der Welt seit der Frührenaissance in Italien skizziert wurden, als auch um imperiale Positionen, die nach dem Vorbild der Pax Romana mit dem für die Mehrheit der Menschen illusorischen Versprechen des Friedens als Pax Britannica oder Pax Americana bezeichnet und propagiert wurden. Seit der Wirtschaftskrise in den USA in den 1970er Jahren wurde über die Entwicklung einer multipolaren Weltwirtschaft diskutiert, später über die Verlagerung des Schwerpunktes der Weltwirtschaft in den pazifischen Raum (mit Japan als dominanter Ökonomie). In den letzten Jahren tritt die Bedeutung neuer Führungsmächte im globalen Süden in den Vordergrund: zunächst vor allem China und dann auch zunehmend Indien, die bei langfristigem und überdurchschnittlichem ökonomischem Wachstum vor allem durch die Größe ihrer Bevölkerung zu bedeutenden Faktoren in der Weltwirtschaft geworden sind. Weiterhin konnten Brasilien, Venezuela und Südafrika ihre Position als politisch-ökonomische Regionalmächte konsolidieren und ausweiten. Das Scheitern des Plans einer ganz Amerika umfassenden Freihandelszone FTAA und die Konflikte um das TRIPS-Abkommen zeigten, dass die USA als globale Vormacht und die OECD-Länder regional wie global vor immer größeren Schwierigkeiten stehen, ihre Interessen durchzusetzen.

Dieses Heft geht nun der Frage nach, inwieweit dies bereits zu Verschiebungen in den internationalen Machtverhältnissen geführt hat. Dabei werden verschiedene Thesen über die zu erwartenden Entwicklungen formuliert. Nehmen wir z.B. die ungleiche Entwicklung im Süden und Veränderungen in der internationalen Arbeitsteilung und Zusammenarbeit: Schaut man sich Daten zur globalen Verteilung der Industrieproduktion oder zur Struktur des internationalen Handels zwischen Nord und Süd an, so kann man zunächst eine oberflächlich gesehen positive Entwicklung zugunsten des Südens feststellen. Ein genauerer Blick macht jedoch deutlich, dass es einige wenige Länder sind, die diese Statistiken beeinflusst haben, nämlich in besonderem Maße China und seit Ende der 1990er Jahre zunehmend auch Indien. Außerdem haben einige andere Länder des globalen Südens zumindest an politischer Bedeutung in internationalen Verhandlungen gewonnen -- auch wenn ihre wirtschaftlichen Daten nicht ganz so positiv aussehen: Das sind vor allem Brasilien und, in geringerem Maße, auch Südafrika. Gleichzeitig bestehen extreme regionale Ungleichheiten, zumal innerhalb Chinas und Indiens, die häufig als aufstrebende Weltmächte gesehen werden, aber auch große Unterschiede zwischen Bevölkerungsgruppen und -schichten.

Da ist ferner die wachsende Rolle von regionalen Führungsmächten in der Weltwirtschaft und der Weltpolitik und deren ambivalente Rolle im Bereich von global governance. Während Europa vor allem bemüht ist, seine weltpolitische Rolle durch die Übernahme von Führungspositionen im multilateralen Bereich auszubauen, deutet sich seit einiger Zeit eine besonders ökonomisch bedingte Gewichtsverlagerung in der internationalen Politik hin zu einigen großen so genannten Schwellenländern an: Mit langfristigen jährlichen Wachstumsraten von etwa 10 % ist China inzwischen die viertgrößte Ökonomie der Welt, und auch Indien hat in den letzten Jahren mit Wachstumsraten um 7 % seine ökonomische, aber auch weltpolitische Position deutlich gestärkt. Investitionen aus dem Norden haben erheblich zur Stärkung der wirtschaftlichen Position dieser Länder beigetragen. Beide Länder haben ihre technologischen Kapazitäten und damit auch ihre Position in der internationalen Arbeitsteilung rasch verbessert. Von dort kommen zunehmend Direktinvestitionen im globalen Norden, aber auch in Regionen des globalen Südens. Vor allem die chinesischen Investitionen in einer Reihe afrikanischer Länder haben in den letzten Jahren Aufmerksamkeit erregt. Von erheblicher Bedeutung ist dabei die Frage, welche Rolle diese Entwicklung im Bereich von global governance spielt: Stärken diese Länder die Position des Südens (etwa in den Konflikten um das Patentrecht und den Zugang zu Medikamenten), oder schwächen sie eher internationale Normen (etwa in Menschenrechtsfragen oder im Umweltbereich)? Geht damit weltweit eine relative Schwächung Europas, Japans und der USA einher?

Ferner wurde die Entwicklung von global governance im Zusammenhang von weltwirtschaftlicher Entwicklung und der Rolle der USA häufig als Versuch interpretiert, der ökonomischen Globalisierung Ansätze globaler politischer Regulierung entgegen zu setzen. Andererseits hat dieser Prozess die Dominanz der einzigen nach dem Kalten Krieg verbliebenen Supermacht nicht ernstlich erschüttert, in Teilen sogar noch verstärkt: Nur die USA sind angesichts insgesamt noch relativ schwacher Positionen von global-governance-Institutionen derzeit in der Lage, bei der Reaktion auf globale Krisen eine bestimmende Rolle zu spielen -- vermittelt über die beherrschende Position US-basierter Konzerne in der Weltwirtschaft sowie die Kontrolle über den mit Abstand größten Militärapparat.

Die tiefgreifenden Auswirkungen, die die bezeichneten Umbrüche in der Weltwirtschaft zumal auf der Ebene der Finanzbeziehungen und der Produktionsstrukturen auf verschiedene Institutionen der global economic governance haben, stellt Stefan Schmalz in den Mittelpunkt seiner Argumentation. Institutionen wie der IWF, die traditionell von den USA und den europäischen Ländern bestimmt wurden, verlieren an Bedeutung. Gleichzeitig werden in der (Semi-)Peripherie neue regionale Integrationsprojekte und Modelle von Süd-Süd-Kooperationen erprobt. Dies birgt die Möglichkeit einer Blockbildung in der internationalen politischen Ökonomie. Bei seiner Analyse greift er auf Susan Stranges Arbeiten über strukturale Machtverhältnisse und auf Theoriebausteine aus der Weltsystemanalyse zurück.

Wesentlich zurückhaltender beantwortet Joachim Betz die Frage, ob die beiden aufstrebenden Staaten China und Indien auf absehbare Zeit zu einer ernsthaften Bedrohung für die Vorherrschaft der jetzigen Industrienationen in der Weltwirtschaft werden können und welche Auswirkungen dies auf die internationalen Beziehungen haben kann. Insbesondere seien zu erwartende Konflikte auf die wirtschaftliche Ebene beschränkt.

Gegenüber diesen auf die Makro-Ebene gerichteten Analysen lenkt Chris K. C. Chan den Blick auf die Arbeitsbeziehungen in den Industriebranchen, die Grundlage für das Wirtschaftswachstum und die Exporterfolge der VR China sind. Er untermauert die Annahme, dass die soziale Position der Arbeitenden zwar an den Orten geschwächt wurde, von denen produktives Kapital abgezogen wurde, an den von den Investoren neuerdings bevorzugten Orten jedoch neue Arbeiterschichten entstanden sind, die in der Lage sind, wenn auch begrenzt, ihre Interessen aktiv zu vertreten. Neuere Forschungen und Chans eigene Beobachtungen belegen, dass die Ausdehnung der globalen Produktion nach China zu spezifischen Formen arbeitsplatzbezogener Kämpfe geführt hat, in die der Staat mit seiner Strategie zur Regulierung der Arbeitsverhältnisse interveniert und so die Herausbildung einer kohärenten Klasse verzögert. Ohne dauerhafte Organisation ist die Entstehung einer längerfristigen Arbeiterbewegung unwahrscheinlich, aber die instabilen betrieblichen Verhältnisse und der instabile Arbeitsmarkt stellen dennoch eine Herausforderung für den Staat und die Unternehmen dar. In dieser Lage können auch lokale Proteste und betriebliche Kämpfe zu einer Verbesserung der Arbeitsverhältnisse auf regionaler Ebene beitragen.

Nicht so sehr auf ökonomischer als auf ökologischer Ebene betrachtet das Konzept des "virtuellen Wassers" ein Grundproblem des vieldimensionalen globalen Zusammenhangs, in dem wir leben. Dik Roth und Jeroen Warner skizzieren dieses Konzept und hinterfragen dann die Annahme von dessen politisch ‚stummen' Charakter anhand der Politik, die mit ‚virtuellem' und ‚wirklichem' Wasser gemacht wird. Anschließend gehen die Autoren auf die Wasserdiskussion in Ägypten ein, in der die politische Option virtuel­len Wassers lange Zeit tabuisiert wurde. Am Beispiel des Punjab wird schließlich deutlich, dass die Tabuisierung der Problematik des virtuellen Wassers ebenso wie die Auseinandersetzungen um Wasser generell zugleich weitreichende geopolitische Implikationen besitzt.

An dieser Stelle möchten wir uns bei unseren anonymen GutachterInnen bedanken, die durch ihre kritischen Anregungen wesentlich zum Gelingen der Artikel beitrugen. Ferner gilt unser Dank Sarah Becklake, die als englische Muttersprachlerin die Summaries korrigiert hat.

Das letzte Heft dieses Jahrgangs soll aus Anlass der aktuellen politischen Diskussionen im Herbst den Schwerpunkt "Klima -- Politik und Profit" erörtern. Für den 29. Jahrgang sind Hefte zu den Themen "Der Süden im Bilde", "Globale Sozialpolitik" und "Okkupationen" geplant. Die Calls for Papers für diese Ausgaben finden sich auf unserer Homepage. Zu diesen und anderen Themen sind Beiträge wie immer sehr willkommen.

Nach wie vor sind wir für unsere weitgehend ehrenamtlich geleistete Arbeit auf die Beiträge der Mitglieder der Wissenschaftlichen Vereinigung für Entwicklungstheorie und Entwicklungspolitik (WVEE) e.V., die die Peripherie herausgibt, und auf Spenden angewiesen. Wir freuen uns daher über neue Vereinsmitglieder ebenso wie über einmalige Spenden. Um die Resonanz der so wichtigen Kritik aktueller Tendenzen in der internationalen Politik zu verbessern, sind wir auch für neue Abonnentinnen und Abonnenten sehr dankbar. Alle WVEE-Mitglieder und Leserinnen und Leser unserer Zeitschrift sind daher herzlich eingeladen, sie noch bekannter zu machen.

Stefan Schmalz: Changes in the world economy: Emerging nations and the decline of the IMF and WTO. A sea change is taking place: the rise of China, India and other emerging nations is restructuring the world economy and international relations. This article presents a general overview of the current debates surrounding these changes. Using the theoretical approaches of Susan Strange and of World Systems analysis, it is argued that the rise of the semi-periphery, in the areas of global finance and production, is having an impact on the shape of economic global governance. The WTO and the IMF are experiencing a profound crisis, as new forms of South-South cooperation, like the IBSA-Dialogue Forum and alternative regional governance institutions, such as the ALBA, are emerging. In light of this, it is concluded that a new wave of protectionism could come to affect the world economy.
Joachim Betz: Is Asia Gaining in Global Gravity? China and India as Aspiring Great Powers. According to common wisdom, the economic rise of Asia will bring about a colossal shift in the global distribution of wealth and of power, with the East being on the receiving end of both. In Asia, this is naturally seen as favourable, while some Western countries are concerned – especially the United States. The governments and think tanks of the apprehensive countries argue either for containment or for better integration of the Asian giants into the system of global governance. This article argues that the uninterrupted economic growth of India and China cannot be taken for granted, as long reform agendas still have to be tackled. Furthermore, the rise of these nations will not automatically spur military conflicts between the established powers or produce international security risks in general, as simplistic realist perspectives suggest. Rather, challenges resulting from the ascent of the Asian giants will be more economic in nature, as the development trajectories of China and India are capital and energy intensive, and therefore, only to a limited extent, economically, socially and ecologically sustainable.
Chris K.C. Chan: Emerging Patterns of Workers‘ Protest in South China. With its ‚unlimited‘ supply of low cost and unorganized peasant workers, China has become a global manufacturing centre. The potential ability of Chinese workers to change this situation has significant meaning for global labour politics. Through ethnographic case studies, this paper examines the extent to which working class power in Southern China has managed to raise in recent years. The author contests the dominant current in labour studies, which declares ‚the death of the working class‘ and privileges non-class identities, and instead argues that the expansion of global production into China has intensified class struggles in the workplace and beyond -even though workers‘ class formation has been dislocated by the state‘s labour regulation strategy. It is argued that without class-based organisations the emergence of a labour movement is unlikely; nonetheless, the unstable workplace relations and labour market present a challenge to both state and management and are leading to the steady improvement of general working conditions.
Dik Roth & Jeroen Warner: Virtual Water: part of the solution or part of the problem? ‚Virtual water‘, or water needed for crop production, is now being mainstreamed within the world of water policy. Relying on virtual water in the form of food imports is increasingly being recommended as good policy for water-scarce areas, therefore the topic of virtual water is tightly entwined in global discussions regarding water scarcity, ecological sustainability, food security and consumption. Accordingly, the concept of ‚virtual water‘ is presently creating much noise in the water and food policy world. We argue that as the virtual water debate is also a ‚real water‘, food and agricultural policy debate, with the potential to have substantial political effects. For instance, decisions regarding food strategies and resource allocation, which are played out in national political economies, benefit some while harm others. Therefore, policy choices surrounding virtual water are not politically neutral. ‚Real water‘ interventions are, likewise, inspired by economic as well as political considerations, such as control of the countryside, geopolitical strategies and food sovereignty (independence from international political conditionalities and market uncertainties). To illustrate these ideas, we explore the case studies of Egypt, which switched to food imports in the early 1970s and where a long-standing taboo on debating virtual water is now being relaxed, as well as the State of Punjab in India, where a debate on the merits and demerits of a virtual water strategy is now emerging.

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