Geschichte im Westen 31 (2016) – Rheinland, Westfalen und Preußen in der Weimarer Republik
Editorial
Lange Zeit standen Forschungen zur Ära der sogenannten Weimarer Republik deutlich im Schatten derjenigen zeithistorischen Untersuchungen, die sich mit der nationalsozialistischen Zeit beschäftigten und auf unterschiedlichen Ebenen Ressourcen und Forschungspotenziale systematisch absorbierten. In den letzten Jahren scheint es nun zu einer gewissen Neuentdeckung des relativ kurzen Zeitraums zwischen 1919 und 1933 durch die Forschung gerade auch in der Bundesrepublik Deutschland zu kommen. Die Suche nach den Ursachen hierfür eignete sich als Gegenstand ausführlicherer Überlegungen, einige Faktoren sollen im Folgenden kurz benannt werden: So ist die umfängliche Hinwendung zum Forschungs- und Darstellungsgegenstand „Erster Weltkrieg“ anzuführen. Mit dem Erinnerungsjahr 2014 ist der Krieg umfassend medial, forschungs- und publikationsstrategisch aufgegriffen worden, er ist Thema und Inhalt einer kaum noch zu übersehenden Zahl von Ausstellungen, Publikationen, Medienbeiträgen und Diskussionsveranstaltungen geworden. Der Rekurs auf „1914“ implizierte bei vielen dieser Beiträge immer auch die Frage nach den Folgen dieses welthistorischen Einschnittes – und diese Frage bezieht auch die Ebene der regionalen und lokalen Geschichte mit ein. Des Weiteren sind als wichtige Faktoren das politikhistorische und mentalitätsgeschichtliche Interesse an der ersten parlamentarischen Demokratie in Deutschland aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts sowie die stärkere Wahrnehmung der Schlussphase der Weimarer Zeit mit intensivem Blick auch auf die Regionen und Provinzen und deren Verortung im Freistaat Preußen zu nennen.
Die Jahrestagung 2016 des Brauweiler Kreises für Landes- und Zeitgeschichte e.V., die am 3. und 4. März 2016 in der ehemaligen Abtei Brauweiler (Pulheim-Brauweiler) stattfand, bewegte sich mit ihrem Thema „Rheinland und Westfalen im Freistaat Preußen in der Weimarer Republik“ in diesem Forschungskontext. Gerade für die Westprovinzen des Freistaates Preußen erwiesen sich die Jahre nach 1919 als Zeit des Umbruchs und der Neuorientierung unter schwierigen gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen. Mit dem Schwerpunktthema rücken daher auch in der vorliegenden Ausgabe von „Geschichte im Westen“ Fragen zum Verhältnis von Zentrale und Provinz in den Fokus. Vor dem Hintergrund modernisierungstheoretischer Überlegungen widmet sich Günther Schulz am Beispiel der rheinischen Metropole Köln und deren Verhältnis zum preußischen Berlin dem Dualismus zwischen kommunaler Selbstverwaltung und Staat. Bernd Walter blickt im Anschluss auf die regionale Selbstverwaltung, wenn er die Bedeutung der neuen, demokratisch legitimierten rheinischen und westfälischen Provinziallandtage und Provinzialverbände herausarbeitet. Trotz vieler Gemeinsamkeiten der beiden höheren Kommunalverbände sind dabei in Bezug auf die Selbstständigkeitsbestrebungen in Rheinland und Westfalen auch erhebliche Unterschiede zu erkennen. Letztlich entzogen jedoch Finanzschwächen und politische Radikalisierungen der provinziellen Selbstverwaltung ihre Grundlage.
Im Folgenden untersucht Daniel Schmidt die Organisation und die innere Verfasstheit der staatlichen Exekutiven in den beiden preußischen Westprovinzen. Er analysiert die Verhältnisse in der uniformierten preußischen Polizei chronologisch nach den Phasen „Gründung“ (1919-1925), „Konsolidierung“ (1925-1930) und „Krise“ (ab 1930). Es wird deutlich, dass die Polizei als republikanisches Prestigeprojekt letztlich ihre Bewährungsprobe nicht bestand. Der Beitrag von Martin Schlemmer thematisiert Werbestrategien der Tourismusverbände in der Eifel-Region. Im Mittelpunkt stehen lokale und regionale Akteure und Strategien sowie die wechselnden politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Karl Ditt legt für Westfalen dar, wie die öffentliche Kulturpolitik auf unterschiedliche Erwartungen und Ansprüche in Politik und Gesellschaft reagierte. Aus dem breiten Spektrum der sozialkulturell geprägten Kulturpräferenzen greift er die Konzepte der „Moderne“ und der „Heimat“ heraus. In Westfalen erfuhr die Kultur der Moderne zwar durch Theater, Literatur und Kunst größere Resonanz, tatsächlich trat sie aber in ihrer Bedeutung hinter die Heimat- und Volkstumskultur zurück.
Zwei weitere Beiträge fokussieren Funk und Film in der Weimarer Republik. Mit den neuen Röhrengeräten schritt die Entwicklung der Sende- und Empfangstechnik in den 1920er Jahren schnell voran. Die erste deutsche Rundfunkgesellschaft nahm im Herbst 1923 in Berlin ihren Betrieb auf, schnell folgten entsprechende Sendeanstalten auch in anderen großen regionalen Zentren des Reichs. Aufgrund der Besetzung des Rheinlandes und des Ruhrgebiets – so Birgit Bernard – konnte erst mit Verzögerung auch eine westdeutsche Sendegesellschaft auf Sendung gehen; dies zunächst in Münster und dann mit dem Wechsel nach Köln als „Westdeutsche Rundfunk AG“. In den Weimarer Jahren entstanden zudem zahlreiche Filme mit Rhein-Sujet. Brigitte Braun zeigt, dass in diesen Stummfilmen der Fluss als „deutsche Landschaft“ präsentiert wurde. Die damit einhergehende Rheinromantik und Rheinpropaganda dienten nach dem verlorenen Krieg einer gemeinschaftsfördernden, deutschen Selbstvergewisserung. Abschließend betrachtet Gertrude Cepl-Kaufmann die „Jahrtausendfeiern“ und „Befreiungsfeiern“ im besetzten Rheinland und verweist dabei auf die mit diesen Veranstaltungen verbundene kulturelle Manifestation und Geschichtskonstruktion der Region.
Die hier versammelten Beiträge unterstreichen das eingangs genannte vielschichtige Beziehungsgeflecht von Berliner Politik und regionalem Eigenwillen in Rheinland und Westfalen. Sie lassen gleichzeitig auch erkennen, dass die Aushandlung dieses Verhältnisses und die daraus resultierende Verortung der beiden Provinzen im preußischen Staat einen wichtigen Teil zum Selbstverständnis und zur Identität der Rheinländer und Westfalen beitrugen.
SCHWERPUNKTTHEMA: RHEINLAND, WESTFALEN UND PREUßEN IN DER WEIMARER REPUBLIK
Sabine Mecking und Georg Mölich Editorial (S. 7–9)
Günther Schulz Metropole in der Provinz Köln und Preußen in der Weimarer Republik (S. 11–24)
Bernd Walter „Im Wollen und im Leiden zukunftsgroß“ Selbstbewusstsein und Fremdbestimmung in der Praxis der Provinzialverbände Rheinland und Westfalen im Freistaat Preußen (S. 25–45)
Daniel Schmidt Preußens neue Polizei im Westen Struktur und Entwicklung der uniformierten Polizei in der Rheinprovinz und in Westfalen 1919–1933 (S. 47–69)
Martin Schlemmer „Das Gute in doch so greifbarer Nähe“ Fremdenverkehr in der Zwischenkriegszeit am Beispiel der Eifel (S. 71–99)
Karl Ditt Zwischen Heimat und Moderne Kultur in Westfalen während der Weimarer Republik (S. 101–126)
Birgit Bernard Reportage beim Westdeutschen Rundfunk in der Weimarer Republik Beispiele aus dem Jahr 1930 (S. 127–144)
Brigitte Braun Zwischen Rheinlandpropaganda und Rheinromantik Der Rhein im Film der Weimarer Republik (S. 145–167)
Gertrude Cepl-Kaufmann „Jahrtausendfeiern“ und „Befreiungsfeiern“ Kulturelle Manifestationen im besetzten Rheinland (S. 169–189)
BEITRÄGE AUßERHALB DES SCHWERPUNKTES
Herbert Elzer Dokumentendiebstahl im Bundeskanzleramt Die Entwendung von Kabinettsprotokollen und ihre Weitergabe an SPD-Parteivorstand und Sûreté (1949–1951) (S. 191–224)
Niklas Lenhard-Schramm Ein Lifestyle-Medikament im Nachtwächterstaat Contergan und die Arzneimittelaufsicht des Landes Nordrhein-Westfalen (S. 225–255)
TAGUNGSBERICHT
Agnes Weichselgärtner „Rheinland und Westfalen im Freistaat Preußen in der Weimarer Republik“ Wissenschaftliche Jahrestagung des Brauweiler Kreises für Landes- und Zeitgeschichte e.V., Pulheim-Brauweiler 3.-4. März 2016 (S. 257–262)
Autorinnen und Autoren (S. 263–264)