*Geschichte im Westen 32 (2017), Migration – Kulturtransfer – Erinnerungskultur*
Spätestens seit den starken Flüchtlingsströmen im Sommer 2015 scheint das Thema „Migration“ in der öffentlichen Diskussion allgegenwärtig. Dabei kann der Eindruck entstehen, dass es sich hierbei um eine spezifische Herausforderung der Gegenwart handelt, die völlig neu überdacht werden muss. Tatsächlich prägen jedoch Prozesse von Binnen- und Außenwanderung seit Langem das Zusammenleben in Europa, Migrationsbewegungen sind hier über viele Jahrhunderte nachzuweisen. Dennoch werden sie im gesellschaftlichen Diskurs zumeist als Ausnahmeerscheinungen und krisenhafte Momente wahrgenommen. Dies hat zahlreiche Gründe, zwei lassen sich kurz benennen: Zum einen haben die Ortswechsel nicht selten ihre Ursache in religiösen, politischen oder wirtschaftlichen Notlagen der migrierenden Personen, zum anderen gestalten sich die Rahmenbedingungen für das Ankommen und die Aufnahme in der „neuen Heimat“ oft als schwierig. So werden häufig der Wechsel des Ortes, der Gesellschaft oder der Kultur und eine damit einhergehende Abweichung von der als „normal“ empfundenen heimatlichen Sesshaftigkeit und einer „natürlichen“ kulturellen und räumlichen Zugehörigkeit von der aufnehmenden Gesellschaft kritisch beäugt. Nationale und kulturelle Identitätsdiskurse sowie die Vorstellung von abgeschlossenen Gemeinschaften überdecken die durch Migration vorhandenen transkulturellen Dynamiken und Prozesse der Hybridisierung. Die immer wieder auch emotional geführten Debatten um Aufnahme und Integration von Migranten offenbart nicht nur unterschiedliche kulturelle Deutungsmuster, sondern auch einen Aushandlungsprozess um die Deutungshoheit in der politischen und medialen Öffentlichkeit.
Die Geschichtswissenschaft beschäftigt sich schon lange mit dem Phänomen Migration. Im historischen und erinnerungskulturellen Zugang hat sich hierbei vor allem die lokal- und regionalgeschichtliche Perspektive etabliert. Sie erlaubt es, die Komplexität des Phänomens vor Ort zu erfassen: Es können sowohl die für das Migrationsgeschehen relevanten staatlichen Entscheidungen als auch die beteiligten Akteure in den Blick genommen werden. Auch der diesjährige Themenschwerpunkt der Zeitschrift „Geschichte im Westen“ widmet sich unterschiedlichen Facetten räumlicher Mobilität und interkultureller Begegnung. Die Beiträge analysieren Konzepte, Akteure und Formen der Migration im 20. und 21. Jahrhundert. Es wird den Einflüssen nachgespürt, die Migration auf kulturelle, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen sowohl in der aufnehmenden Gesellschaft als auch in der Migrantengruppe hat. Die Bestimmung konkreter Ursachen und die Definition verschiedener Wellen der Migration sowie die sie bestimmenden Charakteristika treten demgegenüber in den Hintergrund. Letztlich geht es darum, exemplarisch gesamtgesellschaftliche und kulturelle Veränderungen zu markieren. Dies gilt insbesondere für den Kulturtransfer zwischen den Migrantengruppen und der sie aufnehmenden Gesellschaft. Es treten die vielfältigen Ausformungen von Migration hervor, wenn etwa die Aktivitäten der italienischen Eismacher im Ruhrgebiet (Margrit Schulte Beerbühl) oder das Heiratsverhalten von Migranten in Nordrhein-Westfalen (Christoph Lorke) betrachtet werden. Wie sehr dabei das Bild vom „Schmelztiegel Ruhrgebiet“ in der fragmentierten Gesellschaft einer Großstadt strapaziert werden kann, weist der Beitrag über Gelsenkirchen (Stefan Goch) aus.
Die Projektskizze aus Dortmund (Hartwig Kersken/Stefan Mühlhofer) unterstreicht, dass für die Erforschung des Phänomens Migration der traditionelle Blick auf staatliche Quellen in der Regel nicht ausreicht. Um das Thema historisch-empirisch fassen zu können, sind alte Quellen neu zu lesen und neue Quellen, die auch die Migrantenperspektive wiedergeben, zu gewinnen. Auch in der Schule (Christina Kakridi) sowie in der Ausstellungs- und Museumsarbeit (Arnd Kolb, Christoph Bongert) sind häufig neue Wege zu gehen, um das Thema adäquat zu durchdringen und zu vermitteln.
Schwerpunktthema: Migration – Kulturtransfer – Erinnerungskultur
Sabine Mecking Editorial (S. 7–8)
Christoph Lorke Liebe grenzüberschreitend. Binationale Ehen und ihre Ausdeutungen in der nordrhein-westfälischen Migrationsgesellschaft (S. 9–41)
Margrit Schulte Beerbühl Gelato, Jukebox & Rock’n’Roll. Wie das italienische Eis nach Deutschland kam (S. 43–71)
Stefan Goch „Schmelztiegel Ruhrgebiet“ oder fragmentierte Stadtgesellschaft? Das Beispiel der in Gelsenkirchen lebenden Menschen (S. 73–107)
Hartwig Kersken und Stefan Mühlhofer Quellen zur Migration im Stadtarchiv Dortmund. Möglichkeiten, Wege und Probleme der archivischen Überlieferungsbildung (S. 109–123)
Arnd Kolb DOMiD – Erinnerungskultur in der Migrationsgesellschaft (S. 125–137)
Christoph Bongert Erleben und Verstehen. Zur Musealisierung von Auswanderungsgeschichte(n) am Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven (S. 139–149)
Christina Kakridi „Wie […] das Scheitern in Grenzen halten“. Gymnasiale Geschichtsvermittlung unter den Bedingungen von Einwanderung (S. 151–163)
Beiträge außerhalb des Schwerpunktes
Harald Engler und Ute Hasenöhrl Erholungsplanung und Nutzungskonflikte im Ost-West-Vergleich. Das Rheinland und Brandenburg in den 1950er bis 1970er Jahren (S. 165–198)
Christoph Nonn Im ökologischen Zeitalter? Zur Umweltgeschichte Nordrhein-Westfalens der letzten fünfzig Jahre (S. 199–222)
Katrin Wülfing Zwischen „Reinwaschung“ und moralischer Verpflichtung. Die kommunalen Spitzenverbände und ihre Auseinandersetzung mit dem Holocaust (1945–1980) (S. 223–248)
Tagungsbericht
Agnes Weichselgärtner „Migration – Kulturtransfer – Erinnerungskultur“. Wissenschaftliche Jahrestagung des Brauweiler Kreises für Landes- und Zeitgeschichte e.V., Duisburg, 9.-10. März 2017 (S. 249–253)
Autorinnen und Autoren (S. 255–256)