Geschichte im Westen 34 (2019) – Narrative der Landeszeitgeschichte
Editorial
Die besondere Relevanz der Landesgeschichte besteht darin, Menschen mit der Geschichte ihrer Region bekannt zu machen und damit das Bewusstsein für die Geschichte des umgebenden Raumes zu schärfen. Überhaupt motiviert die Beschäftigung mit der Vergangenheit „vor Ort“ und „der Region“, historische Phänomene zu ergründen und begreifen zu wollen. In früheren Jahren haben landesgeschichtliche Studien allerdings nicht selten stark polarisiert. Ihnen wurde eine starre Sicht auf den untersuchten Sprengel und damit eine Provinzialisierung der Forschung vorgeworfen. Sie waren allzu oft als „Meistererzählungen“ vom Willen zur Sinnstiftung und Traditionspflege durchdrungen.
Heute greift die Landesgeschichte auf die vielfältigen methodischen Zugänge der Regionalgeschichte zurück und knüpft an übergeordnete fachwissenschaftliche Fragestellungen und Diskurse an. Sie verbündete sich dabei immer öfter mit der Neueren Geschichte und insbesondere mit der Zeitgeschichte, so dass heute auch von Landeszeitgeschichte gesprochen wird. Wo diese zeitlich einsetzt, ist definitionsabhängig. Gemeinhin wird die Zeitgeschichte als „Epoche der Lebenden“ beschrieben. Die zeitliche Nähe zum Gegenstand der Forschung unterscheidet die regionale sowie allgemeine Zeitgeschichte von allen anderen historischen Epochen. Charakteristisch sind Überschneidungen hinsichtlich der Erlebniswelt von Zeitgenossen und der Überlieferung. Da die Landeszeitgeschichte nicht wartet, bis die untersuchten Personen verstorben und Institutionen aufgelöst oder ihre Unterlagen verstaubt sind, können sich neben der Fachwissenschaft auch die betrachteten Personen, Gruppen oder Unternehmen in der Sache selbst zu Wort melden, was sie auch häufig tun. Zeitzeuginnen und Zeitzeugen bringen sich mit ihrer Sicht der/des „Dabei-Gewesenen“, der/des Betroffenen in die Diskussion ein. Dieses Nebeneinander löst immer wieder auch heftige Kontroversen aus, wenn die subjektive Erlebnis- und die fachwissenschaftliche Erkenntnisebene widersprüchliche Erzählungen hervorbringen.
Die zeitliche Nähe birgt zudem latent die Herausforderung, dass zeitgenössische Debatten und Kontroversen unmittelbar auf die historische Forschung durchschlagen können, indem bewusst oder unbewusst Versuche der Einflussnahme unternommen werden. Die Landeszeitgeschichte bzw. die regionale Zeitgeschichte hat zudem riesige Papierberge und Quellenfluten zu bewältigen, auch das unterscheidet sie von anderen Epochen. Neben der staatlichen Provenienz sind auch Materialen des zivilgesellschaftlichen Engagements auszuwerten. Die Zeugnisse der Zeit sind angesichts der Pluralisierung und Demokratisierung der Gesellschaft sowie der neuen technischen Entwicklungen nicht nur quantitativ mehr, sondern auch qualitativ vielfältiger geworden.
Für die Landeszeitgeschichte ist es sicherlich naheliegend, Bundesländer zu erforschen und das landesgeschichtliche Angebot an deren Grenzen zu orientieren, auch wenn sie sich darin nicht erschöpft. Zwar waren die meisten deutschen Flächenländer bei ihrer Gründung nach dem Zweiten Weltkrieg historisch betrachtet weitgehend Kunstgebilde, mit Ausnahmen wie Bayern und Sachsen, nun aber existieren sie bereits seit einigen Dekaden und entfalten mit einem Alter von mehr als 70 Jahren im Westen und 30 Jahren im Osten der Republik Prägekraft für mehrere Generationen. Diesem Umstand trägt auch das geplante Haus der Geschichte Nordrhein-Westfalens Rechnung. Der landes- und zeitgeschichtliche Blick auf Deutschlands Westen dürfte darüber hinaus auch interessante Befunde für die Geschichte der Bundesrepublik liefern.
In dem vorliegenden Heft rücken Narrative der Landes- und Zeitgeschichte Nordrhein-Westfalens in den Fokus. Den Auftakt bildet der Beitrag von Hans Walter Hütter, der am Beispiel des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschenland darlegt, wie Zeitgeschichte(n) im Museum erzählt werden. Anschließend blickt Christoph Nonn auf Nordrhein-Westfalen und fragt nach heutigen Ansätzen und Themen einer nordrhein-westfälischen Landesgeschichte. Beate Schlanstein gibt dann einen Einblick in die Praxis des landesgeschichtlichen Fernsehprogramms des WDR von den Anfängen bis zur Gegenwart. Einen weiteren praxisorientierten Ansatz präsentiert Uwe Zuber, wenn er die aktuellen Herausforderungen des Landesarchivs skizziert, die mit den technischen Entwicklungen und den spezifischen Quellen der jüngeren Landesgeschichte verbunden sind. Die anschließenden vier Beiträge bieten wiederum thematische Zugänge zur Geschichte Nordrhein-Westfalens und unterstreichen auf diese Weise das Potenzial einer landesgeschichtlichen Perspektive. Zunächst erörtert Malte Thießen die Entwicklung der Digitalisierung des Landes von den 1960er Jahren bis zur Gegenwart. Jürgen Brautmeier und Ulrich Heinemann widmen sich dann der zwanzigjährigen Regierungszeit von Ministerpräsident Johannes Rau und nehmen die damalige Medienpolitik bzw. das Schulwesen sowie die Schulpolitik ins Visier. Zum Schluss folgt ein Beitrag von Jan Niko Kirschbaum, der die Rolle und Motive von Jugendlichen bei der Errichtung von Erinnerungszeichen an den Nationalsozialismus in den 1980er Jahren beleuchtet.
SCHWERPUNKTTHEMA: NARRATIVE DER LANDESZEITGESCHICHT
Sabine Mecking Editorial (S. 7-8)
Hans Walter Hütter Zeitgeschichte(n) erzählen im Museum (S. 9–17)
Christoph Nonn Vom Wert landeshistorischer Meistererzählungen in stürmischen Zeiten (S. 19–28)
Beate Schlanstein NRW-Geschichte(n) im Fernsehen des WDR Ein Praxisbericht (S. 29–48)
Uwe Zuber Ein archivischer Blick auf die Landeszeitgeschichte (S. 49–64)
Malte Thießen NRW 2.0 Zur Digitalgeschichte eines Landes von 1960 bis heute (S. 65–94)
Jürgen Brautmeier Medienpolitik in Nordrhein-Westfalen in der Ära Rau Ein Forschungsimpuls (S. 95–110)
Ulrich Heinemann Graduelle Politik, manifeste Interessen und die Rhetorik des Grundsätzlichen Schulwesen und Schulpolitik in der Ära Rau 1978–1998 (S. 111–134)
Jan Niko Kirschbaum Erinnerung und Protest Nordrhein-westfälische Erinnerungszeichen und die Jugendbewegung in den 1980er Jahren (S. 135–157)
BEITRÄGE AUßERHALB DES SCHWERPUNKTES
Benedikt Neuwöhner Britische Besatzer als willkommene Ordnungsmacht? Der krisenhafte Beginn der Weimarer Republik im besetzten Rheinland (S. 159–183)
Martin Schlemmer „Heraus aus dem Turm“ oder „auf das härteste bedroht“? Die Rheinische Zentrumspartei in der Weimarer Republik (S. 185–212)
Alexander Friedman Der Duisburger Grundstücksmakler Adolf Abraham Kaiser, der US-Leichtathlet Jesse Owens und die Judenverfolgung im „Dritten Reich“ (S. 213–230)
TAGUNGSBERICHT
Agnes Weichselgärtner „Narrative der Landeszeitgeschichte“ Wissenschaftliche Jahrestagung des Brauweiler Kreises für Landes- und Zeitgeschichte e.V., Düsseldorf 14.–15. März 2019 (S. 231–234)
Autorinnen und Autoren (S. 235–236)