Geschichte im Westen 36 (2021) - Wasser im Westen
Wasser ist weit mehr, als es die chemische Formel H2O und damit der Verweis auf die Verbindung von Wasserstoff und Sauerstoff auszudrücken vermag. Als natürliche Basisressource prägt Wasser die Lebensbedingungen einer Region maßgeblich. Es handelt sich um ein dynamisches, kraftvolles und letztlich widersprüchliches Element, das auf die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung eines Raumes erhebliche Auswirkungen hat. Als Transportweg verbindet Wasser, als Grenzlinie trennt es. Überhaupt will das nasse Element wohldosiert sein. Es sollte weder zu viel noch zu wenig vorhanden sein, wie die trockenen letzten Jahre und der Starkregen in diesem Sommer noch einmal deutlich vor Augen geführt haben. Die vielfältigen Nutzungs- und Bewirtschaftungsmöglichkeiten, etwa zum Trinken, Waschen, Baden, als Versorgungs- und Verkehrsinfrastruktur oder zur Energiegewinnung, unterstreichen das Bedeutungsspektrum von Wasser als Lebens-, Wirtschafts-, Freizeit- und Erholungsfaktor.
Nordrhein-Westfalen ist ein wasserreiches Land. Es verfügt über mehr als 50.000 Kilometer Fließgewässer. Neben Flüssen wie Rhein, Ems, Ruhr oder Weser ist das Land durch zahlreiche weitere Bäche und Gräben durchzogen. Als wichtige Wasserstraßen der Binnenschifffahrt sind hier auch der Wesel-Datteln-Kanal und der Rhein-Herne-Kanal zu nennen. Zudem gibt es eine Vielzahl an Seen, seien sie natürlich Ursprungs oder künstlich als Stau- und Baggerseen angelegt. Studien aus der Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte lenken seit Längerem den Blick auf Akteur:innen und ihre Interessen, auf Rückkopplungseffekte und Pfadabhängigkeiten in der Wasserwirtschaft. In jüngerer Zeit sind es vor allem auch kulturgeschichtliche Zugänge, die Wasser als eigenen Raum und damit einhergehend wassereigene Prozesse diskutieren. Es geht um komplexe Verflechtungen von kulturellen, gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen Faktoren und Dimensionen des Wassers. Das Thema ist damit in zahlreichen Fachdisziplinen virulent, Wasser wird immer weniger als Selbstverständlichkeit begriffen.
Der diesjährige Themenschwerpunkt bündelt Beiträge zu einzelnen Flüssen und Kanälen, zur Wasserwirtschaft und zur Umweltpolitik in Rheinland, Westfalen und Nordrhein-Westfalen vom 19. bis 21. Jahrhundert. Zum Auftakt bietet Dirk van Laak verschiedene Perspektiven auf eine Wassergeschichte (nicht nur) Nordrhein-Westfalens. Hieran schließen sich vier Aufsätze an, die sich der Geschichte eines Flusses oder eines Kanals widmen. Ralf Banken gibt einen Überblick über die Kanalisierung des Rheins und die dortige Schifffahrt in den vergangenen zweieinhalb Jahrhunderten. Olaf Schmidt-Rutsch fokussiert den Rhein-Herne-Kanal als „Pulsader des Ruhrgebiets“. Ein Kanal-Projekt, das nicht realisiert wurde, nimmt dann Lina Schröder in den Blick. Mit Rückgriff auf Erklärungsansätze der Luhmann’schen Systemtheorie fragt sie, warum die Binnenschifffahrt nicht auf den Bau eines Rhein-Maas-Schelde-Kanals insistierte. Wiebke Neuser wiederum legt lokale und landespolitische Gesichtspunkte der Gewässer- und Umweltpolitik am Beispiel der Bocholter Aa dar.
Die drei nachfolgenden Beiträge stellen dann einzelne Aspekte der Wasserwirtschaft in den Mittelpunkt. In seinem Beitrag zu den regionalen Abwassserverbänden Emschergenossenschaft und Lippeverband unterstreicht Christoph Kirchberg den vergleichsweise großen Handlungsspielraum, über den diese Einrichtungen selbst in der NS-Zeit aufgrund ihrer wichtigen Aufgabe verfügten. Christian Zumbrägel untersucht den Wandel der Fischereiwirtschaft auf westdeutschen Talsperren im letzten Jahrhundert. Abschließend analysiert Matthias Frese für den gleichen Zeitraum Brüche und Kontinuitäten im regionalen Badetourismus am Beispiel des Möhnesees.
Die Themenbeiträge, die zum Teil mehrere Jahrzehnte, gar Jahrhunderte in den Blick nehmen, belegen, wie sehr der Westen mit seinem Wasser verbunden ist.
INHALT
Sabine Mecking Editorial (S. 7-8)
Dirk van Laak Alles im Fluss an Rhein und Ruhr? Wassergeschichtliche Perspektiven auf den deutschen Westen (S. 9-21)
Ralf Banken Der Rhein als „natürliche“ Infrastruktur? Die Kanalisierung des Stromes für die Zwecke der Schifffahrt in den letzten 250 Jahren. Ein Überblick (S. 23-47)
Olaf Schmidt-Rutsch Der Rhein-Herne-Kanal. Zur Geschichte der „Pulsader des Ruhrgebiets“ (S. 49-70)
Lina Schröder Warum war die deutsche Binnenschifffahrt nicht am Rhein-Maas-(Schelde-)Kanal interessiert? Der Versuch einer systemtheoretischen Betrachtung von Infrastruktur (S. 71-92)
Wiebke Neuser Gewässer- und Umweltpolitik in Nordrhein-Westfalen am Beispiel der Bocholter Aa seit 1945 (S. 93-119)
Christopher Kirchberg Vorflut und Volksgemeinschaft. Emschergenossenschaft und Lippeverband im Nationalsozialismus (S. 121-145)
Christian Zumbrägel Zwischen Talsperrenlachsen und Fischunkraut. Die Fischereiwirtschaft auf westdeutschen Stauseen im 20. Jahrhundert (S. 147-172)
Matthias Frese Ausflug, Naherholung und Ferien am Wasser. Badetourismus im 20. und 21. Jahrhundert am Beispiel des Möhnesees (S. 173-208)
Freie Beiträge außerhalb des Schwerpunktes
Katrin Minner Landesgeschichte im Radio. Die WDR-Landesredaktion um Walter Först – Ein Werkstattbericht (S. 209-219)
Sascha Ohlenforst Renaissance der Steinkohle? Technologiebasierte Struktur- und Energiepolitik als nordrheinwestfälische Reaktion auf die Ölpreiskrise 1973/74 (S. 221-246)
Tagungsbericht
Katrin Wülfing „Wasser im Westen“. Wissenschaftliche Jahrestagung des Brauweiler Kreises für Landes- und Zeitgeschichte e.V. am 5. März 2021 (Videokonferenz) (S. 247-250)
Martin Schlemmer Der Film „Wort und Widerwort. Wie ein Gesetz entsteht: Landeswassergesetz 1958“ (S. 251-253)
Autorinnen und Autoren (S. 255-256)