In den letzten Jahrzehnten wurden todbringende Infektionskrankheiten – wie Tuberkulose, Malaria, Ebola und inzwischen auch HIV/AIDS – weitestgehend als Problem der ärmeren Länder des Globalen Südens angesehen. Die Gefahr einer neuen Grippepandemie mit vergleichbaren Auswirkungen wie die sog. Spanische Grippe (1918-1920 mit schätzungsweisen 50 Mio. Toten) wurde zwar in Fachkreisen befürchtet, aber auch in den Ländern des Globalen Nordens nicht wirklich ernst genommen. Vor allem die HIV-AIDS-Pandemie brachte ein wieder wachsendes Bewusstsein von den Gefahren hochansteckender Infektionskrankheiten mit sich. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelte bereits 1999 einen Influenza Pandemic Plan, der seitdem weiterentwickelt wurde. In Deutschland wurde 2005 ein nationaler Pandemieplan verabschiedet, der mehrmals überarbeitet und durch Pandemiepläne der Länder ergänzt wurde. Tatsächlich zeigte sich aber in der Phase der raschen Ausbreitung des Coronavirus (SARS-CoV-2), dass die Realität im deutschen Gesundheitswesen in einer Reihe von Bereichen nicht den Anforderungen der Pandemiepläne entsprach. Studien belegen das Erwartbare: In vielen Teilen der Welt war die Umsetzung der pandemic plans der WHO noch viel rudimentärer als in Deutschland. Recht früh wurden verheerende Auswirkungen im Globalen Süden befürchtet, u.a. wegen mangelhafter Gesundheitssysteme und der Schwierigkeiten, rigide Lockdown- und Abstandsmaßnahmen in Ländern mit großem informellem Sektor durchzusetzen. Solche Maßnahmen führten häufig wegen fehlender Mittel zur Kompensation von Auswirkungen des Lockdowns zum Zusammenbruch lokaler Versorgungsstrukturen vor allem mit Nahrungsmitteln, zu gesundheitlichen Folgen durch die Vernachlässigung der Bekämpfung anderer Krankheiten, zu einer Verschärfung von Gewaltkonflikten sowie mittelfristig zu einer wachsenden Verschuldung. Dies hat insgesamt in vielen Ländern zu einer erheblichen Zunahme der Armut geführt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass aus verschiedenen, noch nicht in allen Details verstandenen Ursachen die Ausbreitung von COVID-19 große regionale Unterschiede aufzeigt. Während Lateinamerika und Länder West- und Südasiens seit Beginn der Pandemie stark betroffen waren, meldete das subsaharische Afrika zunächst relativ niedrige Infektionsraten, während die ostasiatischen Länder die Pandemie relativ schnell kontrollieren konnten. Die Politiken zur Bewältigung der Pandemie und ihrer sozioökonomischen Implikationen reflektieren die aktuellen Strukturen der Weltgesellschaft, gekennzeichnet vor allem durch die komplexe Interaktion der globalen, nationalen und lokalen Ebene vor dem Hintergrund extremer Ungleichheit von Ressourcen und Macht. Dies ist auf zwei Ebenen zu sehen: Zum einen sind die Bedingungen, unter denen Länder des Globalen Südens auf die Pandemie reagieren müssen, durch postkoloniale Strukturen geprägt, die ihren Ausdruck in der ungleichen internationalen Arbeitsteilung und in den begrenzten Einflussmöglichkeiten in globalen Verteilungskämpfen finden. Es besteht ein struktureller Druck auf Exporte von Rohstoffen und Billiglohnprodukte. Das hat Auswirkungen auf die Marginalisierung großer Teile der Bevölkerung und den geringen, z.T. nicht vorhanden Zugang der Armen zu staatlichen Leistungen und wissenschaftlichem Fortschritt, u.a. im Gesundheitswesen. Selbst in den Ländern, die mit wachsenden, z.T. hochmodernen Sektoren als "rising economies" angesehen werden, finden sich weiterhin Formen extremer strukturelle Heterogenität, etwa in Brasilien, wie Jean Segata u.a. in diesem Heft zeigen, und Indien. Zum anderen ist jedoch nicht zu leugnen, dass trotz Auswirkungen von Abhängigkeit und Ausbeutung im Globalen Süden nationale Gesellschaften entstanden sind, deren spezifische Entwicklungen zu speziellen, in besonderen Konstellationen sogar positiven Auswirkungen der Coronakrise geführt haben. Dies zeigen Ralph Marenga und Job Shipululo Amupanda am Beispiel von Namibia auf. Angesichts der hohen Kosten der konventionellen Schutzmaßnahmen und des Fehlens wirksamer Medikamente liegt die größte Hoffnung auf eine mittelfristige Kontrolle der Pandemie im Einsatz effizienter Vakzine in Impfkampagnen, die auch die marginalsten Teile der Bevölkerung erreichen ("Nobody is safe, until everyone is safe"). Kaum ein Slogan ist im letzten Jahr häufiger verwendet worden als dieser; allerdings mit recht geringem Erfolg, was die konkrete Umsetzung anbelangt. Der ungleiche Zugang zu Impfstoffen und anderen medizinischen Maßnahmen sowie die mangelhafte Unterstützung für Impfkampagnen in ärmeren Ländern machen insbesondere die bestehenden Widersprüche zwischen Mechanismen globaler Kooperation und nationalstaatlicher Politik deutlich. Angesichts der beispiellosen Herausforderungen durch COVID-19 wurde viel von Globaler Solidarität gesprochen. In einer breiten Allianz internationaler Akteure – von der Coalition for Epidemic Preparedness Innovations (CEPI), der Global Alliance for Vaccines and Immunisation (GAVI), The Global Fund to Fight AIDS, Tuberculosis and Malaria (GFATM), der Internationalen Fazilität zum Kauf von Medikamenten (Unitaid) bis hin zur International Federation of Pharmaceutical Manufacturers & Associations (IFPMA) – lancierte die WHO im April 2020 den sog. "Access to Covid-19-Tools Accelerator" mit dem Ziel, das Wissen über Zusammensetzung und Herstellung von Medikamenten und Impfstoffen sowie den Zugang zu ihnen so zu gestalten, dass niemand ausgeschlossen werden kann und keine Rivalitäten über den Zugang entstehen, d.h. als globales öffentliches Gut. Davon ist in diversen Erklärungen internationaler Organisationen und prominenter Politiker:innen (Angela Merkel, UN-Generalsekretär Antonio Guterres) die Rede. Öffentliche Güter müssen allerdings durch kollektives Handeln bereitgestellt werden, da Knappheit und individuelle Zahlungsfähigkeit für den Zugang zu diesen Gütern keine Rolle spielen dürfen. Im Juni 2020 gründeten WHO, GAVI und CEPI die Organisation COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) als Mechanismus, um jedem Land in der Welt einen fairen Zugang zu Impfstoffen zu garantieren. Für low-income countries sollten die Kosten der Impfstoffe durch reichere Länder und philanthropische Organisationen teilweise übernommen werden. Das klingt gut, tatsächlich aber hat COVAX kontinuierlich weniger Impfstoffe als zugesagt erhalten. Während bezogen auf die Weltbevölkerung 56,1 % der Menschen inzwischen zumindest eine Dosis eines COVID-Impfstoffes erhalten hat, sind es in den low-income countries nur 7,2 %. Impfnationalismus ist die Folge von Erwartungen zunächst innerhalb von wohlhabenden Nationalstaaten, dass die Versorgung mit Impfstoffen in der Verantwortung nationaler Regierungen liege. Stimmen, die auf das Eigeninteresse an globaler Solidarität verweisen, sind präsent, haben aber keine Chance, sich in den nationalen Massenmedien durchzusetzen. In Ländern mit eigener Impfstoffentwicklung wird verlangt, dass "wir" einen primären Anspruch auf "unsere" Impfstoffe haben sollten. In vielen Ländern des Globalen Südens schwindet das Vertrauen in COVAX; diese Länder haben begonnen, im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten selbst um zusätzliche Impfdosen zu verhandeln, obwohl der WHO-Generaldirektor bereits am 8.1.2021 warnte, dass bilaterale Impfstoffdeals zu erhöhten Preisen für alle führen könnten. Die Pharmaindustrie ist aufgrund der erhaltenen Zahlungen zur Finanzierung der Forschung z.T. an Verträge mit Nationalstaaten gebunden; sie gibt sich "solidarisch", hat zweifellos Probleme, die Impfstoffproduktion entsprechend dem aktuellen Bedarf auszuweiten, ist aber nicht bereit, sich die erwarteten Gewinne durch den Verzicht auf intellektuelle Eigentumsrechte aus der Hand nehmen zu lassen. Als Indien und Südafrika im Oktober 2020 im Rahmen des TRIPS Council die temporäre Außerkraftsetzung der geistigen Eigentumsrechte auf COVID-19-Technologien für den Zeitraum der Pandemie forderten (einen sog. waiver), um so eine rasche Ausweitung der globalen Produktion von Impfstoffen durch Industrien in den fortgeschritteneren Staaten des Globalen Südens zu ermöglichen, wurde dies abgelehnt. Auf Initiative der EU wurde innerhalb der WHO ein politischer Prozess in Gang gesetzt, um Konflikte zwischen verschiedenen Ansätzen zur Reaktion auf pandemische Gefahren zu überwinden: Die WHO berief eine Sondersitzung ein (29.11.-1.12.2021), "um die Entwicklung einer WHO-Konvention, einer Vereinbarung oder eines anderen internationalen Instruments zur Pandemievorsorge und -reaktion zu prüfen." Die Beiträge dieses Heftes behandeln diese Thematik auf unterschiedlichen Ebenen. Der globale historische Zusammenhang extremer Auswirkungen der Pandemien steht im Beitrag von Jean Segata, Caetano Sordi, Juliara Borges Segata & Bernardo Lewgoy im Vordergrund. Dabei gehen die Autor:innen von der globalisierten Fleischindustrie im südbrasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul aus. Sie führen die dort auftretenden hohen Infektionszahlen unmittelbar auf die unmenschlichen lokalen Arbeitsbedingungen zurück (extremer, aber nicht grundsätzlich anders als in Deutschland und den USA). Wirtschaftliche Not führte dazu, dass trotz erheblicher Krankheitssymptome weitergearbeitet wurde. Dies wiederum stellen die Autor:innen in den Zusammenhang der brasilianischen Politik, die trotz der Pandemie eine Politik der Deregulierung im Agrarsektor und in den Agroindustrien verfolgte – vor allem, weil diese aufgrund der internationalen Nachfrage gute Wachstumsperspektiven aufwies. Sie zeigen auf, dass die "Kombination des Handelns von politischen und unternehmerischen Akteuren, des Sozialabbaus sowie der historischen Machtbeziehungen und Ungleichheiten im Zusammenspiel mit dem Virus ein Ambiente von Risiko und Vulnerabilität hervorbringt". Diese durch das toxische Handeln des Agrobusiness hervorgerufene Situation führe zentrale Themen der Debatte über das Anthropozän (dem Zeitalter, in dem nach Paul Cruitzen und Eugene F. Stoermer die Menschheit zu einem geologischen Faktor geworden ist) zusammen und wiederhole auf neue Weise die historischen zerstörerischen sozialen, gesundheitlichen und ökologischen Bedingungen, die Länder wie Brasilien seit dem kolonialen Extraktivismus bis hin zum Neoextraktivismus erfahren müssten. Die modernen Vorstellungen von Autonomie und Freiheit, wie sie in den globalen Zentren ausgelebt werden, sind dann aufs Engste mit der Möglichkeit der Ausbeutung von natürlichen Ressourcen andernorts verbunden. Auch der Diskussionsbeitrag von Ulrike Schultz beschäftigt sich mit den Auswirkungen von COVID-19 in einer spezifischen postkolonialen Situation. Dabei wird erschreckend deutlich, wie problematisch zentrale Anordnungen von COVID-Maßnahmen (international undifferenzierten Empfehlungen der WHO folgend) in einem extrem heterogenen Land wie Kenia sind. Im stark marginalisierten Turkana County, das direkt kaum von der Pandemie betroffen war, wurden durch eine neunmonatige Schließung der Schulen viele Kinder und Jugendliche – vor allem aus nomadisch lebenden Familien ohne Zugang zu Medien, über die Lernmaterialien verbreitet wurden – um ihre Zukunft gebracht. Alexander Brand & Hannah Sofie Schöninger beschäftigen sich mit dem Thema der Impfdiplomatie; darunter verstehen sie "die Herstellung in anderen und die Weitergabe von Impfstoffen an andere Länder als Mittel der Diplomatie und Strategie in der Pandemiebekämpfung". Sie analysieren internationale Kooperation im Spannungsfeld zwischen Egoismus und Solidarität/Gerechtigkeit. Dabei steht Solidarität vor allem für den Schutz der "verwundbarsten Menschengruppen und Gesellschaften". Brand & Schöninger untersuchen detailliert die bilaterale und multilaterale Impfdiplomatie der EU und der USA, Chinas, Russlands und Indiens sowie die Konzepte – und die diesen zugrundeliegenden institutionellen Interessen – der WHO, d.h. vor allem das ACT-A-Instrument (Access to COVID-19 Tools Accelerator) und COVAX. Dabei greifen sie auf drei außenpolitische Erklärungsansätze zurück: geostrategisch-wettbewerblich, präventiv-sicherheitspolitisch und normativ-solidarisch. Das Ergebnis ist ernüchternd; die Motivlagen für Impfdiplomatie seien überwiegend geostrategischer Natur, an kommerziellen Interessen, angestrebten Reputationszuwächsen und der Ausweitung von Einflusszonen bzw. deren Zurückdrängung auf Seiten von Rivalen orientiert. Selbst präventiv-sicherheitspolitische Interessen "im Sinne einer Kontrolle des Infektionsgeschehens, auch um Virusmutationen und deren schneller Verbreitung zu begegnen", spielten eher eine untergeordnete Rolle. Um Macht und Einfluss in den Konflikten um die Zielrichtung "globaler Kooperation" geht es auch in dem Diskussionsbeitrag von Andreas Wulf, hier allerdings ausgehend von der globalen Ebene mit der Frage, welche Interessen bei der Initiierung dieses Diskurses im Vordergrund standen, und um wessen Sicherheit es beim "Versicherheitlichungsdiskurs" eigentlich geht. Der Autor fasst zunächst die Diskussion um die Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert zusammen, die eine Schwerpunktverlagerung der Globalen Gesundheitspolitik von öffentlichen Gesundheitsprogrammen hin zum Schutz vor Infektionskrankheiten mit sich brachte. Dies geschah unter dem Eindruck von HIV/AIDS und aufgrund der Angst vor den auf den 11.9.2001 folgenden Anthrax-Anschlägen sowie vor der SARS-CoV-1-Pandemie in den Jahren 2002/03. Vor allem ging es um die Sorgen im Globalen Norden vor einer raschen Verbreitung von Krankheitserregern aus dem Globalen Süden in einer globalisierten Welt. Dies zeigt sich zwar nicht so sehr in den Statements zur Solidarität, umso mehr aber im konkreten Handeln in der aktuellen Pandemie. Allerdings wurden in den letzten Jahren auch Themen wie resiliente Gesundheitssysteme und Universal Health Coverage in die Diskussion über Gesundheitssicherheit einbezogen. Wulf skizziert abschließend Perspektiven für die Post-COVID-19-Phase und hebt die Bedeutung von "Human Security" hervor, die helfen könne, einen engen Health-Security-Ansatz zu überwinden. Schließlich gibt das von Wolfgang Hein verfasste Stichwort einen Überblick zur historischen und aktuellen Entwicklung von Impfstoffen und Impfkampagnen; auch hier zeigt sich in den Prioritäten der Impfstoffentwicklung, aber auch in der zeitlichen Abfolge der Erfolge von Pocken- und Polioimpfungen ein eindeutiges Nord-Süd-Gefälle. Der Beitrag von Ralph Marenga & Job Shipululo Amupanda rückt die Auswirkungen der Coronapandemie in eine ganz andere Perspektive. Während im Allgemeinen beobachtet wird, dass die Pandemie soziale Ungerechtigkeit eher verstärkte, trat in Namibia das Gegenteil ein. In den 30 Jahren nach der Unabhängigkeit 1990 hatte sich die regierende SWAPO (South West Africa People's Organisation) von ihren sozialistischen Idealen verabschiedet und verfolgte durchweg einen neoliberalen Kurs, um ausländische Investoren anzulocken. Trotz eines zwischen 1990 und 2018 steigenden Human Development Index nahm die Exklusion des ärmsten Teils der Bevölkerung kontinuierlich zu. Aktivist:innen hatten den Kampf für eine gerechte Gesellschaft zwar nie aufgegeben, blieben jedoch ohne Erfolg. Die Autoren untersuchen mehrere dieser Kämpfe und zeigen auf, wie deren Ziele in Reaktion auf COVID-19 nun von der Regierung selbst bereits im April 2020 als Elemente eines economic stimulus package in Angriff genommen wurden. Sie betonen, dass der Staat damit seine Fähigkeit zur Umsetzung von Programmen für mehr soziale Gerechtigkeit unter Beweis gestellt habe. Andererseits sind sie skeptisch, ob diese interventionistischen Maßnahmen auch nach der Überwindung der Pandemie Bestand haben werden. Es sei daher eine Aufgabe der Aktivist:innen für soziale Gerechtigkeit, sich neu zu organisieren und zu mobilisieren, um die augenblickliche Konstellation zur Verankerung sozialer Gerechtigkeit auch in einer Wirtschaftsordnung nach COVID-19 zu nutzen. Außerhalb des Schwerpunkts knüpft der Diskussionsbeitrag von Ana Cecilia Dinerstein an Ernst Blochs Begriff der konkreten Utopie an und fragt nach der Möglichkeit, "andere Formen der menschlichen sozialen Reproduktion jenseits der Welt von Geld-Wert-Kapital zu artikulieren". Sie will dabei nicht die Utopie im Rahmen des "Machbaren" verorten, sondern als eine Praxis, die den Bereich des "Machbaren" ausweite, ein Noch-Nicht schaffe, das dadurch in den Horizont des Möglichen trete. Konkrete Utopien sind allerdings davon bedroht, vom Staat "übersetzt" zu werden "in die Grammatik der Ordnung, durch politische Maßnahmen, durch Monetarisierung und das Gesetz". Der Vereinnahmung durch den Staat und damit indirekt durch das "Globale Kapital" entgehe konkrete Utopie durch "die alltäglichen Kämpfe für die Bejahung eines würdevollen Lebens von indigenen und nicht-indigenen, ländlich und städtisch arbeitenden Menschen gleichermaßen. Sie fördern Gemeinsamkeiten und ebnen den Weg für die Konstituierung einer globalen Pluriversalität der Widerstände". Dinerstein skizziert damit Elemente einer komplexen Weltsicht, die vorab die Wechselbeziehungen zwischen Zentrum und Peripherie und die Auswirkungen des kolonialen Erbes berücksichtigt. Die vorliegende Ausgabe, mit der wir etwas verspätet den 41. Jahrgang abschließen, knüpft an ein Thema an, das wir außerhalb des Schwerpunktes mit den Beiträgen von Melanie Müller, Kristina Dietz und Nivedita Menon bereits in der PERIPHERIE Nr. 159/160 angestoßen haben. Auch dieses Mal war es wieder eine Freude, mit Gastredakteur:innen zusammenzuarbeiten. Für den 42. Jahrgang bereiten wir Themenhefte zu den Schwerpunkten "DDR Postkolonial", "Möglichkeiten und Grenzen der Weltsystemtheorie zum Verständnis globaler Ungleichheiten" sowie "Internationalismus" vor. Zu diesen und anderen Themen sind Beiträge sehr willkommen. Die entsprechenden Calls for Papers finden sich auf unserer Homepage, sobald sie veröffentlicht werden. Zum Abschluss des aktuellen Jahrgangs gilt unser Dank den Gutachter:innen, die einmal mehr durch ihre gründliche, engagierte und kritische Arbeit zum Gelingen der Hefte maßgeblich beigetragen haben. Ihre Namen sind in alphabetischer Reihenfolge im Jahresregister aufgeführt. Ferner danken wir Sarah Becklake für die Korrektur der englischen Summaries. Schließlich danken wir allen Leser:innen, Abonnent:innen sowie den Mitgliedern der Wissenschaftlichen Vereinigung für Entwicklungstheorie und Entwicklungspolitik e.V., der Herausgeberin der PERIPHERIE. Unsere größtenteils ehrenamtliche Arbeit ist weiterhin von Spenden abhängig. Eine für die langfristige Sicherung des Projekts besonders willkommene Förderung stellt die Mitgliedschaft im Verein dar, in der das Abonnement der Zeitschrift sowie regelmäßige Informationen über die Redaktionsarbeit enthalten sind. Wir freuen uns aber auch über einmalige Spenden. Unsere Bankverbindung finden Sie im Impressum. Zu guter Letzt wünschen wir Ihnen und Euch eine aufschlussreiche und inspirierende Lektüre und ein gutes Jahr 2022.
INHALT
Zu diesem Heft, S. 379
Jean Segata, Caetano Sordi, Juliara Borges Segata & Bernardo Lewgoy: Ungesunde Ökologien, prekäre Arbeit und Pandemie in der globalisierten Fleischindustrie im Süden Brasiliens, S. 386
Alexander Brand & Hannah Sofie Schöninger: Impfdiplomatie als Ausdruck globaler Solidarität? Internationale Kooperation in der Pandemiebekämpfung zwischen Egoismus und Gerechtigkeit, S. 405
Ralph Marenga & Job Shipululo Amupanda: Corona-Virus und soziale Gerechtigkeit in Namibia, S. 437
Andreas Wulf: Globale Gesundheitssicherheit. Geschichte, Tendenzen und Konflikte im Spiegel der gegenwärtigen COVID-19-Pandemie (Zur Diskussion), S. 465
Ulrike Schultz: This Corona Thing Has Taken Away Our Future. Schulen und Schüler:innen in Lodwar, Nordkenia und die Pandemie (Zur Diskussion), S. 476
Wolfgang Hein: PERIPHERIE-Stichwort: "Impfen und Impfkampagnen", S. 492
Ana Cecilia Dinerstein: Konkrete Utopie. Die (Re-)Produktion von Leben in den, gegen die und jenseits der offenen Adern des Kapitals (Zur Diskussion), S. 497
Rezensionen, S. 505
Sammelrezension zu COVID-19: 1 Michael Volkmer & Karin Werner (Hg.): Die Corona-Gesellschaft. Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft; 2 Bernd Kortmann & Günther G. Schulze (Hg.): Jenseits von Corona. Unsere Welt nach der Pandemie – Perspektiven aus der Wissenschaft (Wolfgang Hein)
Sammelrezension zu Andreas Malm: 1 Corona, Climate, Chronic Emergency. War Communism in the Twenty-First Century; 2 How to Blow Up a Pipeline. Learning to Fight in a World on Fire (Johannes Korak)
Julia Schöneberg & Aram Ziai (Hg.): Dekolonisierung der Entwicklungszusammenarbeit und Postdevelopment Alternativen. AkteurInnen, Institutionen, Praxis (Gerhard Hauck)
Manuela Scheuermann & Anja Zürn (Hg.): Gender Roles in Peace and Security. Prevent, Protect, Participate (Jemima Neubert)
Christoph Neusiedl: Revolutions in Learning and Education from India. Pathways towards the Pluriverse (Aram Ziai)
Lea Susemichel & Jens Kastner (Hg.): Unbedingte Solidarität (Reinhart Kößler)
Steffi Hobuß, Ina Khiari-Loch & Moez Maataoui (Hg.): Tunesische Transformationen. Feminis-mus – Geschlechterverhältnisse – Kultur. Tunesisch-deutsche Perspektiven (Tarkan Tek)
Eingegangene Bücher, S. 526
Summaries, S 527
Zu den Autorinnen und Autoren, S. 529
Jahresregister, S. 531
SUMMARIES
Jean Segata, Caetano Sordi, Juliara Borges Segata & Bernardo Lewgoy: Unhealthy Ecol-ogies, Precarious Labour, and the COVID-19 Pandemic in the Global Meat-Processing Industry in Southern Brazil. The high incidence of COVID-19 among workers in southern Brazilian slaughterhouses comprises a new facet in the long list of problems facing the global meat processing industry. Known problems include occupational accidents, repetitive strain injury syndrome, working with contaminated waste, and immunological and psychiatric disorders. In addition, the industry is characterised by precarious work, racism, speciesism, and the production of unhealthy ecologies that contribute to emerging pathogens and constitute a scenario of chronic destruction and exploitation that makes people, ani-mals, and environments sick. In this article, we examine how the current situation, caused by the sin-ister activities of agribusiness, synthesizes central themes in the debate on the Anthropocene and reflects on new configurations in the devastating historical, social, sanitary, and ecological conditions that have affected Brazil since colonial times.
Alexander Brand & Hannah Sofie Schöninger: Vaccine Diplomacy as an Instance of Global Solidarity? Cooperation in the International Fight against the COVID-19 Pandemic be-tween Selfishness and Equity. As an effect of global efforts to address the COVID-19 pandemic, notions of "vaccine diplomacy" have attained a newfound popularity in academic, policy, and media discourses. Focusing on this domain, this article assesses to what extent the practices of states are contributing to more vaccine equity, i.e. a fairer distribution of and access to vaccines. Such equity could be interpreted as result-ing from strengthened solidarity. Vaccine diplomacy encompasses efforts of states, such as China, Russia, India, or the United States, as well as the European Union as a collective actor, in procuring vaccines on behalf of, and lending financial support for vaccination campaigns to, countries in need. Diplomatic initiatives aimed at the establishment of global mechanisms to fight against the COVID-19 pandemic, most notably COVAX, have also been subsumed under this rubric. This article discusses the different motivations behind vaccine diplomacy and their impact on global vaccine distribution so far. The analysis reveals that geopolitical, reputational, and commercial goals have had an ambiguous effect on vaccine equity. Moreover, with, at times rampant, vaccine nationalism, and the COVAX-initiative so far lagging behind its ambitions, global structural asymmetries have been reinforced rather than mitigated.
Ralph Marenga & Job Shipululo Amupanda: The Coronavirus and Social Justice in Namib-ia. Over the past 30 years, the successive regimes of the South West Africa People's Organisation (SWAPO) that have governed Namibia have always followed a neoliberal policy path. Co-existing with neoliberal elites are thousands of Namibians living in squalor in a country that has been declared one of the most unequal in the world. Over the years, social justice activists have never given up the fight for a more just and equitable society, calling for better shelter, housing, economic equality, land, water and sanitation, free tertiary education, and income grants to cushion the poor. Yet, the succes-sive SWAPO regimes have been indifferent. Interestingly, however, in response to the COVID-19 pandemic, the government has implemented many of the social justice policies that have consistently been rejected. This article explores the history of several social justice struggles over the years and demonstrates how these were implemented by government as a COVID-19 response in 2020. It thus argues that social justice is possible and the state has demonstrated its capacity in implementing these programmes. It then calls on social justice activists to use the COVID-19 currency to ensure that social justice becomes central in a post-COVID-19 economic order.
ZUSAMMENFASSUNGEN
Jean Segata, Caetano Sordi, Juliara Borges Segata & Bernardo Lewgoy: Ungesunde Ökologien, prekäre Arbeit und Pandemie in der globalisierten Fleischindustrie im Süden Brasiliens. Die hohen COVID-19-Inzidenzen unter Beschäftigten in fleischverarbeitenden Betrieben im Süden Brasiliens markieren einen neuen Punkt auf der langen Liste von Problemen der globalen fleischverarbeitenden Industrie. Bereits bekannte Probleme sind Arbeitsunfälle, das Repetitive-Strain-Injury-Syndrom, Arbeit mit kontaminierten Abfällen sowie immunologische und psychiatrische Störungen. Zudem ist die Industrie geprägt von prekärer Arbeit, Rassismus und Speziesismus sowie der Hervorbringung ungesunder Ökologien. Diese nähren entstehende Krankheitserreger und bilden gemeinsam eine Szenerie chronischer Zerstörung, welche Menschen, Tiere und Umwelten ausbeutet und krank macht. In diesem Artikel untersuchen wir, wie in der aktuellen Situation - ausgelöst durch die unheilvolle Aktivität des Agrobusiness - zentrale Themen des Anthropozäns zusammenfallen und sich in neuen Konfigurationen die vernichtenden, historischen, sozialen, gesundheitlichen und ökologischen Bedingungen wiederholen, von denen Brasilien seit der Kolonialzeit betroffen ist.
Alexander Brand & Hannah-Sofie Schöninger: Impfdiplomatie als Ausdruck globaler Solidarität? Internationale Kooperation in der Pandemiebekämpfung zwischen Egoismus und Gerechtigkeit. Der Begriff "Impfdiplomatie" erfreut sich seit Beginn der Corona-Krise und den einsetzenden Maßnahmen zu ihrer Eindämmung neuer Beliebtheit. Politik, Medien und Wissenschaft richten ihre Aufmerksamkeit dabei auf Aktivitäten von Staaten (u.a. China, Russland, Indien und die USA) und Staatenbünden wie der EU, die auf die Beschaffung und Verteilung von Impfpräparaten an bedürftige Länder sowie das Ausrollen von Impfkampagnen dort gerichtet sind. Ebenso fallen darunter diplomatische Initiativen, die auf die Schaffung globaler Verteilungsmechanismen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie gerichtet sind, vor allem COVAX. Unser Artikel diskutiert, welchen Beitrag diese Anstrengungen mit Blick auf ein Mehr an Impfgerechtigkeit potenziell besitzen und bis dato entfaltet haben. Eine solcherart an Bedürfniskriterien orientierte Verteilung könnte dabei auch als solidarisch charakterisiert werden. Basierend auf einer Analyse von Motivlagen und daraus bisher resultierenden Wirkungen von Impfdiplomatie kommen wir zu dem Schluss, dass geopolitische, Image- und wirtschaftliche Interessen einem Mehr an Impfgerechtigkeit im Wege stehen. Grassierender Impfnationalismus sowie die hinter den Erwartungen zurückbleibende COVAX-Initiative lassen auch für die nähere Zukunft befürchten, dass globale Ungleichheiten durch Impfdiplomatie eher noch verstärkt denn eingeebnet werden.
Ralph Marenga & Job Shipululo Amupanda Corona-Virus und soziale Gerechtigkeit in Namibia. Während der letzten 30 Jahre haben in Namibia aufeinander folgende SWAPO-Regierungen, eine neoliberale Politik verfolgt. Gleichzeitig mit dieser neoliberalen Politik leben tausende von Namibier:innen in einem Land, das zu einem der ungleichsten auf der ganzen Erde erklärt wurde, im Elend. Während der ganzen Zeit haben Aktivist:innen niemals aufgehört, für eine gerechte und faire Gesellschaft zu kämpfen. Sie setzten sich für bessere Unterkunft, Wohnungen, Land, Wasser und Abwasser ein. Das hat die aufeinander folgenden SWAPO-Regierungen nicht gekümmert. Es ist bemerkenswert, dass die Regierung auf die COVID-19-Pandemie reagiert hat, indem sie exakt jene Initiativen durchführte, die sie jahrelang abgelehnt hatte. Dieser Text untersucht verschiedene über die Jahre hinweg geführte Kämpfe um soziale Gerechtigkeit und zeigt, wie sie von der Regierung in Reaktion auf COVID-19 durchgeführt wurden. Daraus ergibt sich die These, dass soziale Gerechtigkeit möglich ist und der Staat gezeigt hat, dass er in der Lage ist, diese Programme zu verwirklichen. Der Beitrag schließt mit einem Appell an Aktivist:innen, die für soziale Gerechtigkeit arbeiten, die Aufmerksamkeit für COVID-19 zu nutzen, um dafür zu sorgen, dass nach der Pandemie soziale Gerechtigkeit ins Zentrum einer Wirtschaftsordnung rückt.