Editorial
Gesellschaftliche Exklusion, der Umgang mit und die Erinnerung an Kriegsereignisse sowie die bosnische Staatlichkeit sind die Themen dieser Ausgabe von Südosteuropa. Neža Kogovšek Šalamon setzt sich mit Staatsbürgerschaftsfragen am Beispiel der etwa 25.000 sogenannten „Ausgelöschten“ (izbrisani) in Slowenien auseinander. Die stillschweigende Löschung aus allen Melderegistern derjenigen, die im sozialistischen Jugoslawien ihren ständigen Wohnsitz in Slowenien gehabt hatten, aber aus anderen jugoslawischen Republiken stammten, und die nach der Unabhängigkeit nicht um die slowenische Staatsbürgerschaft ersuchten bzw. diese nicht erhielten, gilt als eine der gravierendsten Menschenrechtsverletzungen in Slowenien seit 1991.
Roman Kuhar vergleicht die politischen und öffentlichen Debatten um die gesetzliche Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften in Slowenien und Kroatien im Kontext von Menschenrechtsfragen, Europäisierung und den jeweiligen nationalen Rahmenbedingungen.
Vedran Džihić analysiert die perpetuierte Krise der bosnischen Staatlichkeit seit 2006, insbesondere anhand der Debatten um die Polizeireform und die Abänderung der auf dem Vertrag von Dayton fußenden Verfassung. Er kommt zu dem Schluss, dass die politische Blockade strukturell bedingt sei und dass dies von den lokalen politischen Akteuren klug genutzt werde, um eigene Interessen durchzusetzen. Ohne ein entschlossenes Eingreifen von außen sei die „Sackgasse“ der Staatskrise folglich nicht zu überwinden.
Sonja Schüler zeigt am Beispiel Bulgariens, dass die Situation der größten ethnischen Minderheit in der Europäischen Union, der Roma, in der gesellschaftlichen Transition seit 1989/91 zunehmend durch Arbeitslosigkeit, Verarmung und wachsende Segregation gekennzeichnet ist und hier ein ernst zu nehmendes soziopolitisches Konfliktpotential besteht.
Die geschichtspolitische Kontroverse über den Topos der „Rettung der bulgarischen Juden“ im Zweiten Weltkrieg steht im Mittelpunkt des Beitrags von Stefan Troebst. Nach 1989 sei dieser von den Kommunisten installierte Mythos im Zeichen der Bewerbungen um Mitgliedschaft im Europarat, in der NATO und der EU zunächst erfolgreich eingesetzt worden, um das internationale Image Bulgariens aufzupolieren. Zeitgleich hätten verschiedene nationale und internationale Akteure aber mit der Neuformulierung und Differenzierung des bislang gültigen offiziellen Geschichtsbildes begonnen.
Den Umgang mit Kriegsverbrechen analysiert und dokumentiert Heike Karge anhand der Srebrenica-Resolution des Europäischen Parlaments sowie der nachfolgenden Deklarationen aller westlichen Balkanstaaten mit Ausnahme Bosnien und Herzegowinas. Angesichts der Festnahmen der mutmaßlichen Kriegsverbrecher Ratko Mladić am 26. Mai 2011 und Goran Hadžić am 20. Juli 2011 lesen sich die Analyse und auch die abgedruckten Dokumente auf eine neue, vielleicht hoffnungsvollere Weise.
Sabine Rutar – Redaktion –
Das Heft ist über den Oldenbourg Verlag zu beziehen. Die Rezensionen finden Sie auch online unter www.recensio.net
INHALTSVERZEICHNIS
Neža Kogovšek Šalamon:Nation-State Homogenization and the Battle for Legal Status: The Erased Residents of Slovenia. 2-24
Roman Kuhar:Resisting Change: Same-sex Partnership Policy Debates in Croatia and Slovenia. 25-49
Vedran Džihić:Bosnien und Herzegowina in der Sackgasse? Struktur und Dynamik der Krise fünfzehn Jahre nach Dayton. 50-76
Sonja Schüler:Aspekte der Marginalität von Roma in Bulgarien 77-96
Stefan Troebst:Rettung, Überleben oder Vernichtung? Geschichtspolitische Kontroversen über Bulgarien und den Holocaust. 97-127
Dokumentation
Heike Karge:Nie wieder Srebrenica: Eine Dokumentation der Srebrenica-Erklärungen und ihrer Wirkungen. 128-167
Buchbesprechungen
Jelena Čvorović, Roast Chicken and Other Gypsy Stories (Joachim Krauß). 168-170
Todor Kuljić, Umkämpfte Vergangenheiten. Die Kultur der Erinnerung im postjugoslawischen Raum Maria Todorova / Zsuzsa Gille (Hgg.), Post-Communist Nostalgia (Wim van Meurs). 170-172
Nina Caspersen, Contested Nationalism – Serb Elite Rivalry in Croatia and Bosnia in the 1990s (Irena Ristić) 172-174
Pål Kolstø (ed.), Media Discourse and the Yugoslav Conflicts: Representations of Self and Other (Vjeran Pavlaković) 174-178
Alina Mungiu-Pippidi / Wim van Meurs (Hgg.), Ottomans into Europeans. State and Institution Building in South-East Europe (Christian Mady). 178-181
Christine Eifler / Ruth Seifert (Hgg.), Gender Dynamics and Post-Conflict Reconstruction (Natalija Bašić). 181-184
Dimitar Bechev / Kalypso Nicolaidis (eds.), Mediterranean Frontiers. Borders, Conflict, and Memory in a Transnational World (Emilio Cocco). 184-187
Marc Stegherr / Kerstin Liesem, Die Medien in Osteuropa. Mediensysteme im Transformationsprozess (Friederike von Franqué) 187-189