Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, erschienen ist ein neues Heft der „Zeitschrift für Genozidforschung“ mit dem Themenfokus „Politik der Vernichtung. Strategien, Interventionen, Repräsentationen“. Das Heft (151 Seiten) kann zu einem Preis von EUR 24,90 über den Buchhandel oder direkt über den Verlag (<www.velbrueck-wissenschaft.de>) bezogen werden. Die „Zeitschrift für Genozidforschung“ erscheint halbjährlich. Der Jahresbezugspreis beträgt 49,80 Euro, das Einzelheft 24,90 Euro, incl. MWst., zzgl. Versandkosten. Die Redaktion lädt zur Einsendung von Manuskripten ein, über die Veröffentlichung entscheidet ein peer-review Verfahren. Weitere Informationen zur Zeitschrift finden Sie auf unserer Homepage <www.http://www.idg.rub.de/publikationen/zfg.html.de>
AUS DEM EDITORIAL:
Die aktuelle Erfahrung massiver Gewalt gegen Gruppen – so gegen die Rohingya in Myanmar, gegen die Uiguren in China, gegen die Einwohner der Region Tigray in Äthiopien – führt uns die Dringlichkeit der Frage nach dem politischen Gebrauch kollektiver Gewalt, ihre Rahmung in und Legitimierung durch politische Agenden erneut deutlich vor Augen. Unter dem Titel Politik der Vernichtung rückt das neue Heft der Zeitschrift für Genozidforschung dezidiert die politischen Strategien kollektiver Gewalt in den Fokus, fragt aber auch nach Bedingungen und Möglichkeiten von Intervention, nicht zuletzt auch nach den Folgen dieser Strategien für die Repräsentation und literarische Codierung von Politiken der Vernichtung und ihrer Erfahrung. Dabei tragen die Artikel des Heftes in besonderer Weise dem Anliegen der Zeitschrift Rechnung, intensive Untersuchungen empirischen Materials eng zu verbinden mit theoretisch-methodischen Überlegungen, um so nicht zuletzt zu einer Erweiterung und Validierung einer interdisziplinären Forschung zu kollektiver Gewalt und Genozid beizutragen. Das Heft vereinigt dabei Artikel aus politikwissenschaftlicher, historischer, literaturwissenschaftlicher und philosophischer Perspektive. So nimmt der Politikwissenschaftler Arua Oko Omaka am Beispiel des Völkermords in Biafra (1967-1970) die internationale Wahrnehmung staatlicher Gewaltpolitik gegen Gruppen und die Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen von Interventionen in den Blick. Anhand eines umfassenden Pools von Archivquellen aus Großbritannien, Kanada, Nigeria und den USA untersucht er die Aktivitäten und das Vorgehen des internationalen Beobachterteams, das die nigerianische Regierung einrichten ließ, nachdem sie mit dem Vorwurf des Völkermords an der Bevölkerung Biafras konfrontiert wurde. Darüber hinaus erörtert der Beitrag auch lokale Reaktionen auf die Einladung der Beobachter in den Blick. Das besondere Interesse des Beitrags gilt dabei der Frage, inwiefern und auf welche Weise politische Akteure unterschiedlicher Instanzen Einfluss darauf nehmen, wie der Begriff »Völkermord« jeweils bestimmt wird. Exemplarisch zeigt der Artikel, dass das Team mit inhärenten Hindernissen konfrontiert war, die seine Arbeit beeinträchtigten und die letztlich verhinderten, dass der »Völkermord« in der internationalen Gemeinschaft Anerkennung fand. Den Strategien genozidaler Politiken nähert sich die Historikerin Corinna Bittner anhand eines in der Forschung bisher wenig beachteten Aspekts der Gewaltpolitik der Khmer Rouge im Demokratischen Kampuchea (1975-79), indem sie die visuellen Diskurse der Khmer Rouge und das diesen Diskursen inhärente Blickregime in das Zentrum ihres Beitrags rückt. In intensiven Analysen untersucht sie, wie körperliche Gewalt in Fotografien aus dem Sicherheitsgefängnis S-21 in Propagandafilmen der Roten Khmer (un)sichtbar gemacht wurde. Dabei zeigt die Autorin, dass entsprechend der Propaganda und dem Programm der Partei Gewalt als revolutionärer Widerstand oder Krieg gegen verschiedene Feinde visualisiert wurde. Filme und Fotografien vergegenwärtigten jeweils vergangene körperliche Gewalt und erinnerten zugleich an das Gewaltpotenzial der Khmer Rouge in Gegenwart und Zukunft. Im Spannungsverhältnis zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, so weißt Corinna Bittner nach, eröffneten die Bilder dabei den Raum für Imaginationen erinnerter, drohender oder antizipierter Gewalt. Anna Maria Droumpouki lenkt den Blick auf die jüdische Gemeinschaft Griechanlands nach dem Holocaust. Mehr als 85 Prozent der griechischen Judinnen und Juden waren der nationalsozialistischen Gewaltpolitik zum Opfer gefallen. Die Geschichte der Überlebenden, der schwierige Wiederaufbau jüdischer Gemeinden im Nachkriegsgriechenland ist bisher wenig untersucht worden. Diesem Desiderat die Historikerin, indem sie eine Bestandsaufnahme der Aktivitäten der jüdischen Überlebenden in Griechenland unmittelbar nach 1945 vornimmt, mit denen auf eine Rehabilitierung der griechischen Juden und den Wiederaufbau ihrer stark dezimierten Gemeinden hingearbeitet werden sollte. Nicht zuletzt ist es ein Anliegen des Artikels, den Überlebenden eine Stimme als historisches Subjekt zu geben – sowohl auf kollektiver als auch auf individueller Ebene. Einen Aspekt der nachhaltigen Folgen von Strategien genozidaler Politik untersucht der Literatur- und Politikwissenschaftler Lasse Wichert: die Persistenz zugeschriebener Stereotype. Dabei folgt der Beitrag dem auffälligen Befund, dass in literarischen Texten, die sich auf der Seite der Opfer von Völkermorden sehen, die Eigenschaften jener Gruppen, die Opfer genozidaler Politik wurden, häufig essentialistisch dargestellt werden. Der literaturwissenschaftliche Beitrag untersucht dieses Phänomen intensiv und kontextualisierend anhand der Romane Die vierzig Tage des Musa Dagh (1933) von Franz Werfel und Exodus (1958) von Leon Uris und arbeitet dabei heraus, dass die Charakteristika in erster Linie einer bloßen Umkehrung jener den Opfern zugeschriebenen Eigenschaften entsprechen, die in den Täterideologien der angesprochenen Völkermorde entworfen wurden und diese damit – entgegen der Schreibintention der Autoren – letztlich affirmieren. Nicht zuletzt stellt der Artikel die Frage, ob eine De-Essentialisierung beziehungsweise Depotenzierung von Gruppenzugehörigkeiten und -merkmalen im post-genozidalen Denken überhaupt möglich ist. Eine zentrale Strategie von Politiken des Genozids besteht darin, keine(n) Zeugen des Geschehens zu hinterlassen. Dies ist die Ausgangsbeobachtung des Beitrags des Literaturwissenschaftlers und Philosophen Marc Nichanian. Er fragt dabei, welche Konsequenzen diese Strategie für die Bezeugung der »Erfahrung« der Katastrophe des Völkermords hat. Wer kann das Subjekt des Zeugnisgebens über diese Katastrophe sein? Wer kann »Zeugnis« ablegen, wenn doch letztlich nur der Tod des Zeugen die Absolutheit der Katstrophe bezeugen könnte? In dichten Analysen der Versuche des Schriftstellers Hagop Oschagan, sich der Katastrophe des Völkermords an den Armeniern im Osmanischen Reich anzunähern, Versuche, in denen zugleich die (Un)Möglichkeiten einer solchen literarischen Annäherung radikal reflektiert werden, lotet Nichanian die Aporien der Zeugenschaft unnachgiebig aus.
ARTIKEL:
Arua Oko Omaka: State Denialism. The Biafra Genocide and the International Observer Team (3-36)
Corinna Bittner: The (In)Visibility of Violence. An Analysis of the Khmer Rouge Visual Discourse 1970–1979 (37-52)
Anna Maria Droumpouki: Jüdisches Leben in Nachkriegsgriechenland, 1945–1947. Wiederaufbau, soziales Leben und Berufswahl (53-70)
Lasse Wichert: »He shall never be a ghetto Jew«. Zur Inversion antisemitischer und antiarmenischer Stereotype bei Leon Uris und Franz Werfel (73-95)
Marc Nichanian: Literatur und Katastrophe – Aporien der Zeugenschaft. Hagop Oschagan im Gefängnis von Çankırı (96-124)
Rezensionen (127-145) Autor:innen des Heftes (146-147)