INHALTSVERZEICHNIS
Aufsätze
Hermann Wentker,
Die Grünen und Gorbatschow. Metamorphosen einer komplexen Beziehung 1985 bis 1990
In ihrer Beurteilung Gorbatschows und seiner Politik waren die Grünen von einem Weltbild geprägt, in dem der amerikanischen Führung ein ernsthafter Wille zur Abrüstung abgesprochen wurde, die Sowjetunion aber nicht grundsätzlich verurteilt werden durfte. Die Abrüstungsinitiativen Gorbatschows passten in dieses Weltbild und wurden entsprechend begrüßt. Bei der Beurteilung der sowjetischen Innenpolitik unter Gorbatschow dominierte aufgrund der Ablehnung der modernen Industriegesellschaft und der Marktwirtschaft die Skepsis gegenüber dessen Bemühungen um mehr wirtschaftliche Effizienz und zu verstärkter Kooperation mit dem Westen. Überdies betrachteten die Grünen sich und die Friedensbewegung als Bündnispartner Gorbatschows, wenngleich sie verkannten, dass ihre Bedeutung für diesen seit 1987 nachließ. Dabei unterhielten nur wenige Grüne Basiskontakte nach Osteuropa und in die Sowjetunion. Letztere zeigten großes Verständnis gegenüber den Dissidenten und den dortigen Gesellschaften und erkannten, dass es diesen 1988/89 neben der Befriedigung ihrer Konsumwünsche vor allem um einen demokratischen Rechtsstaat ging. Andere Grünen, die sich, wenn überhaupt, nur theoretisch mit dem Ostblock beschäftigten, wollten hingegen noch 1989 mit dem immer stärker erodierenden sowjetischen Regime über einen Dritten Weg diskutieren. Von der revolutionären Entwicklung 1989/90 wurden indes alle Grünen überrascht, da sie die Beharrungskraft des Nationalstaats unterschätzt hatten.
Hermann Wentker,
The German Green Party and Gorbachev. Metamorphoses of a Complex Relationship, 1985 – 1990
In their appraisal of Gorbachev and his policies, the Greens were shaped by a worldview which denied the existence of any serious willingness to disarm among the American leadership while simultaneously not allowing for an overall damnation of the Soviet Union. Gorbachev’s disarmament initiatives fitted into this worldview and were thus welcomed. Due to their hostility to modern industrial society and the market economy, the Green assessment of Soviet domestic policy under Gorbachev was dominated by scepticism with respect to his efforts at increasing economic efficiency and intensifying cooperation with the West. Additionally the Greens saw themselves and the Peace Movement as allies of Gorbachev, even though they did not notice that their importance for him lessened as of 1987. At the same time, only few Greens maintained grass-roots contacts in Eastern Europe and the Soviet Union. These Greens widely appreciated the grievances of the dissidents and the respective societies and understood that they were striving for the fulfilment of their consumption needs and even more for a democratic state under the rule of law. Other Greens, who, if at all, only dealt with the Eastern Block theoretically, wanted to continue discussion about a “Third Way” with the increasingly eroding Soviet regime even in 1989. All Greens were however surprised by the revolutionary developments in 1989/90, as they had underestimated the resilience of the nation state.
Alexander Vatlin,
Weltrevolutionär im Abseits. Der Kommissar der bayerischen Räterepublik Tobias Axelrod
Tobias Axelrod taucht in vielen Darstellungen als einer der Führer der zweiten, kommunistischen bayerischen Räterepublik auf, ohne über seinen vorherigen und folgenden Lebensweg viel bekannt wäre. Der Moskauer Historiker Alexander Vatlin hat sich in russischen und deutschen Archiven auf eine biographische Spurensuche begeben, um ein vollständigeres Bild des Berufsrevolutionärs Axelrod zu zeichnen, das zugleich auch dessen Rolle in der Räterepublik genauer ausleuchtet. Der schon als jugendlicher zur sozialistischen Bewegung gestoßene Axelrod nahm an der Revolution von 1905 teil und wurde nach Sibirien verbannt, von wo er 1910 ins Ausland floh. 1917 ins revolutionäre Russland zurückgekehrt fand er dort keine passende Aufgabe und wurde Anfang 1919 als Leiter eines Auslandspressebüros nach Deutschland geschickt, wo es ihn schließlich mitten in die bayerischen Turbulenzen verschlug. Dem politischen Druck aus Moskau, das auf seinem angeblichen diplomatischen Status beharrte, hatte er es wohl zu verdanken, dass er nach der blutigen Niederschlagung des Revolutionsversuchs durch Reichswehr und Freikorps der folgenden standrechtlichen Abrechnung mit den Aufständischen nicht wie sein Genosse Eugen Leviné zum Tode, sondern nur zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Schon nach einigen Monaten wurde er ausgetauscht und kehrte nach Russland zurück. Das unerfüllte und unstete Leben des Revolutionärs, dem die Revolution abhanden gekommen war, endete 1938 in Stalins Großem Terror. Das Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR verurteilte ihn auf Weisung Stalins als „Konterrevolutionär“ zum Tode. Am 10. März 1938 wurde er erschossen.
Alexander Vatlin,
An Offside World Revolutionary. The Commissar of the Bavarian Soviet Republic Tobias Axelrod
In many portrayals, Tobias Axelrod appears as one of the leaders of the second, Communist, Bavarian Soviet Republic, even though little is known about his previous or later biography. The Moscow historian Alexander Vatlin has engaged in a biographical search through Russian and German archives in order to paint a more complete picture of the professional revolutionary Axelrod, which simultaneously sheds new light on his role in the Soviet Republic. Axelrod joined the socialist movement at a young age, took part in the 1905 revolution and was banished to Siberia, from where he fled abroad in 1910. In 1917 he returned to revolutionary Russia, but found no suitable duties there and was sent to Germany as head of a foreign press agency in early 1919. Once there, he quickly became embroiled in the Bavarian turmoil. After the bloody suppression of the attempted revolution by military Reichswehr and paramilitary Freikorps forces, it was probably due to political pressure from Moscow (insisting on his supposed diplomatic status) that he was not sentenced to death like his comrade Eugen Leviné, but instead to 15 years in prison. After a few months he was exchanged and returned to Russia. The unfulfilled and erratic life of a revolutionary who had lost the revolution ended in Stalin’s Great Terror in 1938: Following Stalin’s orders, the Military Collegium of the USSR Supreme Court sentenced him to death as a “counter revolutionary”. He was shot on 10 March 1938.
Amedeo Osti Guerrazzi,
„Schonungsloses Handeln gegen den bösartigen Feind“. Italienische Kriegführung und Besatzungspraxis in Slowenien 1941/42
Die Kriegführung und Besatzungspraxis der italienischen Streitkräfte zwischen 1940 und 1943 haben lange Zeit nur wenig Interesse unter den Historikerinnen und Historikern gefunden. Daher konnte sich bis vor Kurzem die Legende halten, Italien sei zwar ein Land mit faschistischer Regierung gewesen, habe aber keinen faschistischen: sprich von Verbrechen begleiteten Krieg geführt. Amedeo Osti Guerrazzi reiht sich mit seinem Beitrag ein die Gruppe der Wissenschaftler, die diese Interpretation ablehnen und ein neues Bild der Soldaten Mussolinis zeichnen. Am Beispiel der Division „Granatieri di Sardegna“, eines Eliteverbands des königlichen Heeres, und der italienischen Herrschaft im besetzten und teilweise annektierten Slowenien zeigt er auf, dass Kriegsverbrechen hier praktisch an der Tagesordnung waren. Dazu gehörten willkürliche Erschießungen, Plünderungen und Vergewaltigungen, die nie gesühnt wurden. Im täglichen Kleinkrieg gegen die Partisanen ließen auch italienische Soldaten jegliche humanitäre Gesittung vermissen; jung, unerfahren und im propagandistisch angefachten Hochgefühl kulturell-rassischer Überlegenheit war ihnen jedes Mittel recht, wenn es galt, den Gegner so hart wie möglich zu treffen. Eine zentrale Rolle weist Osti Guerrazzi den militärischen Führern zu, die sich des Rückhalts der faschistischen Führung in Rom sicher sein konnten, wenn sie schärfstes Durchgreifen befahlen. Verbrecherische Befehle, die vom Oberkommando ausgingen, sucht man zwar vergeblich, aber manche Anordnungen der Befehlsstellen in Slowenien erinnern an den Kriegsgerichtsbarkeiterlass des Oberkommandos der Wehr-macht. Die Italiener führten in Slowenien keinen Vernichtungskrieg, so bilanziert Osti Guerrazzi; ihr Krieg glich aber demjenigen der Streitkräfte des Deutschen Reiches in Italien nach dem Frontwechsel des Königreichs im September/Oktober 1943.
Amedeo Osti Guerrazzi,
“Merciless Actions against the Malicious Enemy”. Italian Warfare and Occupational Practice in Slovenia, 1941/42
The means of warfare and the practice of occupation by the Italian armed forces between 1940 and 1943 have hitherto aroused little interest by scholars. For this reason, the legend until recently has survived that Italy may have been a country with a Fascist government, but waged no Fascist (i. e: criminal) war. With his article, Amedeo Osti Guerrazzi joins a group of researchers who reject this interpretation and are painting a new image of Mussolini’s soliders. Using the example of the elite “Granatieri di Sardegna” division of the Royal Army and Italian rule in occupied and partially annexed Slovenia, he shows that war crimes were practically a daily occurrence. This included random shootings, looting and rapes, which have remained unpunished. In the daily guerrilla war against the partisans, Italian soldiers similarly showed the lack of any humanitarian considerations; young, inexperienced and imbued with a propagandistically kindled feeling of cultural-racial superiority, they were ready to use any means necessary in order to hit the enemy as hard as possible. Osti Guerazzi points to the central role of the military leaders, who could be certain of the support of the Fascist leadership in Rome whenever they ordered drastic measures. One looks in vain for criminal orders emanating from the high command, but some instructions of the command posts in Slovenia evoke the Kriegsgerichtsbarkeitserlass (court martial ordinance) of the Wehrmacht high command which exempted German soldiers from punishment for the killings of civilians. While Osti Guerrazzi summarizes that the Italians did not wage a war of annihilation, their war was still similar to that waged by the armed forces of the German Reich in Italy after the Kingdom changed sides in September/October 1943.
Diskussion
Tim B. Müller,
Demokratie und Wirtschaftspolitik in der Weimarer Republik
Wenn nicht die Suche nach nationalen Kontinuitäten die Erforschung der Weimarer Republik leitet, sondern deren Untersuchung in internationalen und transnationalen Kontexten, zeigt sich eine Demokratie, die sich von anderen liberalen und sozialen Demokratien jener Zeit nicht wesentlich unterschied. Das gilt für die politischen Institutionen ebenso wie für die politische Kultur, und es trifft auch in Hinsicht auf die sozialen und ökonomischen Krisen, Herausforderungen und Möglichkeiten zu. Die moderne Massendemokratie befand sich nach dem Ersten Weltkrieg nicht nur in Deutschland im Prozess des Entstehens. Der vorliegende Beitrag stellt die Wirtschaftspolitik der Republik in ihren demokratischen Erwartungshorizont. Über die ökonomische Stabilisierung und Produktivität hinaus lässt sich in den Quellen als politische Zielsetzung der Wirtschaftspolitik die Ermöglichung der Demokratie als Regierungsform und Lebensweise deutlich erkennen. Wirtschaftshistorische Analysen konnten diese politische Dimension bislang nicht erschließen. Hingegen wird hier die Perspektive der Geschichte der Demokratie sowie des politischen und ökonomischen Denkens gewählt, um zentrale Akteure im Reichswirtschaftsministerium zu betrachten. Ihre Konzepte und Strategien waren Teil einer internationalen Diskussion über Wirtschaftspolitik in westlichen Demokratien. Nicht strukturelle Zwangslagen, sondern individuelle politische Entscheidungen setzten seit 1930 dieser demokratischen Wirtschaftspolitik Schritt für Schritt ein Ende, während andere Demokratien diese wirtschaftspolitischen Strategien ausweiteten und fortführten, woran auch deutsche Emigranten aus dem Reichswirtschaftsministerium beteiligt waren. Dieser Aufsatz versteht sich als ein Plädoyer für eine „optimistische“, nicht-teleologische Lesart der Geschichte der deutschen Demokratie nach 1918.
Tim B. Müller,
Democracy and Economic Policy During the Weimar Republic
If research into the Weimar Republic is not so much guided by the search for national continuities, but rather by their investigation in international and transnational contexts, a democracy is revealed which exhibited no major differences to the other liberal and social democracies of the time. This is true just as much for the political institutions as it is for the political culture as well as the social and economic crises, challenges and possibilities. After the First World War, modern mass democracy was not only emerging in Germany. The present article places the economic policy of the Republic into its democratic horizon of expectation. Over and above economic stabilisation and productivity, the sources clearly reveal the enabling of democracy as a form of government and way of life as the political goal of economic policy. Analyses by economic historians have hitherto not revealed this political dimension. Here however, the perspective of the history of democracy as well as of political and economic thought is chosen in order to consider central actors within the Reich Economics Ministry. Their concepts and strategies were part of an international discussion about economic policy in the Western democracies. It was not structural exigencies, but rather individual political decisions which ended this democratic economic policy step by step since 1930, while other democracies extended and continued these strategies of economic policy – also with the participation of German émigrés from the Reich Economic Ministry. This article sees itself as a plea for an “optimistic”, non-teleological reading of the history of German democracy after 1918.
Dokumentation
Rainer Eisfeld,
Theodor Eschenburg und der Raub jüdischer Vermögen 1938/39
Ein 2011 erschienener Zeitschriftenaufsatz zeigte auf der Grundlage neuer Aktenfunde, dass Theodor Eschenburg, nach dem 2. Weltkrieg einer der „Gründungsväter“ der (west-) deutschen Politikwissenschaft und Zeitgeschichte, während des NS-Regimes an der „Arisierung“ einer jüdischen Firma beteiligt war. Seit 1933 in der Bekleidungsindustrie tätig, hatte Eschenburg dort bis 1945 als Kartellgeschäftsführer fungiert. Auf die Veröffentlichung des Aufsatzes folgte eine emotional, häufig polemisch, geführte Debatte. Die hier vorgelegte Dokumentation führt diese zu den Quellen zurück und präsentiert weitere, kürzlich entdeckte Unterlagen, die beweisen, dass Eschenburg nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 auch an der „Arisierung“ zweier Wiener jüdischer Unternehmen mitwirkte. Der frühere Eigentümer eines der beiden Betriebe kam später in Theresienstadt ums Leben. Eschenburg erweist sich als Beispiel eines konservativen Nicht-Nationalsozialisten („staatskonservativ“, in seinen Worten), der, obgleich er persönliche Kontakte zu Juden aufrechterhielt, sich beflissen in den Dienst des rassistischen Regimes stellte.
Rainer Eisfeld,
Theodor Eschenburg and the Robbery of Jewish Property during 1938/39
A 2011 journal article based on newly-found archival sources showed that Theodor Eschenburg, one of the “founding fathers” of post-World War II (West) German contemporary history and political science, had been involved in a Jewish company’s “Aryanization” during the Nazi regime. Employed by the textile industry, Eschenburg had served as cartel manager from 1933–1945. The publication of the article was followed by an emotional and often polemical debate. The present documentation takes the debate back to the sources and presents further, recently discovered records which prove that, subsequently to the 1938 Anschluss of Austria, Eschenburg was also involved in the “Aryanization” of two Viennese Jewish firms. One of the former owners later perished in Theresenstadt. Eschenburg emerges as an example of a conservative non-Nazi (staatskonservativ, in his own words) who, even while maintaining personal contacts with Jews, assiduously placed himself at the service of the racist regime.
Rezensionen online (Juli-September 2014)