Aufsätze
Dirk Blasius, Hans Rothfels und Carl Schmitt. Werkgeschichtliche Begegnungen in der Weimarer Republik
Der Beitrag erweitert die Perspektiven auf die Debatten über Hans Rothfels, indem er die Bedeutung von Rezensionen in der politischen und intellektuellen Kultur der Weimarer Republik in den Blick nimmt. Rothfels zeigte als Rezensent Interesse an Schmitts Publikationen (Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus – 1923/26; Politische Romantik – 1919/1925; Der Begriff des Politischen – 1927; Verfassungslehre – 1928). Rothfels’ Rezensionen sind kurze Essays, die eine eigene Position zum Weimarer Verfassungssystem aufzeigen. Sie verdeutlichen die Unterschiede zwischen den Positionen von Rothfels und Schmitt. Rothfels verweist auf das unvollständige Geschichtsverständnis und die Grenzen der juristischen Theorie in Schmitts Werken. In seinen Rezensionen folgte Rothfels Rudolf Smend (1882–1975) der anderen Autorität zur Jurisprudenz (Verfassung und Verfassungsrecht – 1928). Die Geschichte Preußens, und besonders Clausewitz, waren ein essenzieller Bestandteil von Carl Schmitts intellektueller Persönlichkeit. Rothfels „Carl von Clausewitz“ (1920) spielte eine wichtige Rolle in der Ausbildung von Schmitts politischer Orientierung. Nach 1945 verwendete Schmitt Rothfels’ preußische Geschichte. Schmitt und Smend lasen und kommentierten Rothfels „The German Opposition to Hitler. An Appraisal“ (1948). Während wir Smend mit einer noblen Geste an der Seite von Rothfels vorfinden, vermittelt Schmitt den Eindruck, er habe der preußischen Opposition gegen Hitler nahe gestanden.
Maren Röger, Besatzungskinder in Polen. Nationalsozialistische Politik und Erfahrungen in der Volksrepublik
Trotz des strikten Umgangsverbots kamen im besetzten Polen mehrere Tausend Besatzungskinder – Kinder von deutschen Okkupanten und einheimischen Frauen – zur Welt. Sofern die Behörden vom deutschen Vater überhaupt Kenntnis erhielten, entschieden die nationalsozialistischen Rassenplaner über das weitere Vorgehen. So wurden als rassisch wertvoll erachtete Kinder ihren polnischen Müttern weggenommen. Doch die immer stärkere Durchdringung des Rechts durch die Rassenideologie stärkte auch die Rechte unehelicher Kinder und ihrer Mütter. Im Fall der eingegliederten polnischen Gebiete, in denen das NS-Familienrecht übernommen wurde, führte das zu dem Paradox, dass trotz des Verbots sexueller Beziehungen zwischen Polinnen und Deutschen, die Väter auf Unterhalt verklagt werden konnten. Der Aufsatz fächert in einem ersten Schritt die Politik der NS-Besatzer gegenüber den Besatzungskindern auf, und fragt in einem zweiten Schritt nach den Maßnahmen, die dann der sozialistische Staat gegenüber den „Besatzungsmüttern“ ergriff. Überdies werden Erfahrungen der Besatzungskinder nach 1945 auf der Basis lebensgeschichtlicher Interviews rekonstruiert.
Claudia Moisel, Geschichte und Psychoanalyse. Zur Genese der Bindungstheorie von John Bowlby
Die Geschichte der Psychoanalyse sowie psychologisch-psychiatrische Expertendiskurse werden im angloamerikanischen Sprachraum gegenwärtig vielfältig erforscht, auch im Kontext der dezidiert interdisziplinär angelegten und rasch expandierenden „Childhood Studies“. Der Beitrag erläutert diese Zusammenhänge am Beispiel der laufenden Forschung zur Bindungstheorie des renommierten britischen Kinderpsychiaters John Bowlby. Bowlbys einflussreiche Studien über Heimkinder für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) etablieren in den fünfziger Jahren „Mutterentbehrung“ (Deprivation) als zentrale Analysekategorie der frühen Kindheit; sein eingängiges Erklärungsangebot zur Entstehung und Prävention psychischer Probleme entfaltete in der Familienpolitik große Wirkung. Der Beitrag verfolgt darüber hinaus das Ziel, das Verhältnis von Geschichte und den „Psychowissenschaften“ in zweifacher Hinsicht methodisch auszuloten, nämlich zum einen den Konstruktionscharakter psychologischer, psychiatrischer und psychoanalytischer Konzepte sichtbar zu machen, zum anderen Aufmerksamkeit zu generieren für eine Fülle zeithistorischer relevanter Quellen und Literatur, die in diesen Zusammenhängen entstanden ist, aber in der Forschung zu wenig Berücksichtigung findet.
Uwe Danker, Parlamentarische Kontinuitätsstudien zur NS-Zeit. Methodische Potenziale und Grenzen am Beispiel des Falls Schleswig-Holstein
Der Aufsatz stellt das Konzept und zentrale Ergebnisse der aktuellen Studie zu personellen und strukturellen Kontinuitäten nach 1945 im schleswig-holsteinischen Landtag vor. Anders als bei Institutionen mit beruflich und sozial homogenen Personalkörpern müssen Parlamentsstudien von erheblicher Heterogenität ihrer Untersuchungsgruppen ausgehen, Sinnfragen und Forschungsziele anders formulieren. Methodisch steht die Untersuchung für einen Mittelweg zwischen bloßer Listung von recherchierten Mitgliedschaften und biografischen Vollrecherchen: Zur Diskussion gestellt wird ein zweistufiges Modell von fünf „Grundorientierungen“, die die Angehörigen der Untersuchungsgruppe in generalisierten Grundhaltungen für ein (Über-)Leben im Nationalsozialismus erfassen, und daraus abgeleiteten „Typen“, die den wesentlichen Kern individueller Rollen in der NS-Zeit repräsentieren. So kann das Profil Schleswig-Holsteins differenzierter und feiner konturiert gezeichnet werden als in vorliegenden Parlamentsstudien. Im Ländervergleich erscheint Schleswig-Holstein als Sonderfall mit einem sehr hohen Grad formaler Belastungen. Die inhaltliche Analyse verknüpft Biografien mit vergangenheitspolitischem Handeln der Akteure: Selbst auf diesem einschlägigen politischen Feld war die Vorbiografie lediglich als ein Faktor unter mehreren, der Entscheidungen, Bekenntnisse und Debattenbeiträge steuerte. Populäre Vorannahmen über Korrelationen auf dieser Ebene gehen fehl.
Nachruf
Karl Dietrich Bracher zum Gedenken
Notiz
Neuerungen bei den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte
Abstracts
Dirk Blasius, Hans Rothfels and Carl Schmitt. Mutual Influences in Their Writings during the Weimar Republic
This article widens the scope in the debates about Hans Rothfels by assessing the significance of reviews within the political and intellectual culture of the Weimar Republic. Rothfels as a reviewer showed an interest in the publications of Schmitt (Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus – 1923/26; Politische Romantik – 1919/1925; Der Begriff des Politischen – 1927; Verfassungslehre – 1928). The reviews of Rothfels are short essays which exhibit his own position on the Weimar constitutional system. They make clear the distinction between Rothfels and Schmitt. Rothfels points out the incomplete understanding of history in Schmitt̕s works. Also, he highlights the limitations of his legal theory. In the reviews, Rothfels followed Rudolf Smend (1882–1975), an other authority on jurisprudence (Verfassung und Verfassungsrecht – 1928). An essential part of Carl Schmitt̕s intellectual personality was the history of Prussia, especially Clausewitz. Rothfels̕ “Carl von Clausewitz” (1920) was an important work in the shaping of Schmitt̕s political orientation. After 1945 Schmitt made use of Rothfels̕ Prussian history. Schmitt and Smend read and commented on Rothfels’ “The German Opposition to Hitler. An Appraisal” (1948). Here we find Smend with a noble gesture on Rothfels’ side. In his remarks, Schmitt gives the impression that he was close to the Prussian opposition to Hitler.
Maren Röger, War Children in Poland. Nazi Policies and Experiences in the Polish People’s Republic
Despite the strict orders against social interaction, thousands of war children – children of German occupiers and local women – were born. Inasmuch as the authorities were informed about the German father, the National Socialist racial planners decided on further procedures. Children considered “racially valuable” were taken away from their Polish mother. Yet the increasing infiltration of racial ideology into the legal realm also increased the rights of illegitimate children and their mothers. In the case of the Incorporated Polish Territories, where Nazi family law was introduced, this led to the paradoxical situation that fathers could be sued for child support payments despite the simultaneous prohibition of sexual relations between Poles and Germans. The article firstly provides an overview of the policies of the Nazi occupiers towards these war children and secondly investigates the measureswhich the socialist state subsequently applied to the “war mothers”. Also, the experiences of the war children after 1945 are reconstructed on the basis of biographical interviews.
Claudia Moisel, History and Psychoanalysis. On the Genesis of John Bowlby’s Attachment Theory
Currently the history of psychoanalysis as well as psychological-psychiatric expert discourses is being researched in varied ways in the Anglosphere. This is also true in the expanding interdisciplinary field of “Childhood Studies”. In this context, the article explores the example of current research into the Attachment Theory of the renowned British child psychiatrist John Bowlby (1907–1990). During the 1950s, Bowlby’s influential study of institutionalised children for the World Health Organisation established “Maternal Deprivation” as a central analytical category for early childhood; his memorable explanation on the development and prevention of psychological problems broadly affected family policy. The article also aims at a methodological sounding of the relationship between history and the “psycho-sciences” in two ways: Firstly, by making the constructed character of psychological, psychiatric and psychoanalytic concepts visible; and secondly, by generating attention for the abundance of historically relevant sources and literature, which has been generated in this context, but has not been taken into consideration sufficiently by research.
Uwe Danker, Parliamentary Continuity Studies on the Nazi Period: The Case of Schleswig-Holstein. Methodological Potentials and Limitations
The article presents the approach and the central results of a current study on personal and structural continuities in the Parliament of Schleswig-Holstein after 1945. Unlike studies of other institutions which exhibit strong homogeneity on the professional and social level, studies of parliamentary bodies have to presuppose a high degree of heterogeneity among the parliamentarians. Research questions thus have to be formulated differently. Methodologically the investigation strikes a middle course between a mere listing of researched memberships and full biographies. The article puts a two-tier model with five “basic orientations” up for discussion, in which the members of the research group describe generalised positions towards life (and survival) during National Socialism. The derived “types” represent the core of individual roles during the Nazi period. In this manner the profile of Schleswig-Holstein can be described with a much higher degree of differentiation and finer contours than achieved in previous studies of parliamentary bodies. In comparison with other German states, Schleswig-Holstein appears as a special case with a high degree of formal entanglements. Content analysis connects biographies with individual political actions on how to deal with the past: Even in this politically pertinent field, the previous biography of parliamentarians was only one factor among many affecting decisions, proclamations and contributions to debates. Popular presuppositions about correlations on this level lead astray.
Obituary
In memory of Karl Dietrich Bracher
Note
Innovations with the Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte