Aufsätze
Hans Günter Hockerts
Todesmut und Lebenswille. Die Flugblattaktion der Geschwister Scholl am 18. Februar 1943
Die Flugblattaktion, die Hans und Sophie Scholl am 18. Februar 1943 in der Münchner Universität durchführten, ist in das kulturelle Gedächtnis eingegangen: Das Bild der in den Lichthof herunterflatternden Blätter gilt als Ikone der deutschen Freiheitsgeschichte. Doch steht auch der Vorwurf im Raum, die Aktion sei so leichtsinnig unternommen worden, dass sie die Entdeckung und Verhaftung des ganzen Widerstandskreises ausgelöst habe. Die genaue Rekonstruktion weist erstmals nach, dass die Geschwister durchaus nicht alle Vorsicht fallen ließen, sondern mit einem Notfallplan Vorsorge trafen. Anhand neuer Quellen wird zudem die Legende widerlegt, die Warnung vor einem unmittelbar bevorstehenden Zugriff der Gestapo habe dazu geführt, dass die Geschwister spontan und überstürzt handelten.
Hans Günter Hockerts
Defiance of Death and Will to Live. The Leaflet Action of the Scholl Siblings on 18 February 1943
The leaflet action executed by Hans and Sophie Scholl at Munich University on 18 February 1943 has entered cultural memory: The image of leaflets falling down into the atrium is considered an icon of the history of German freedom. There is, however, also the accusation that the action was undertaken recklessly, causing the exposure and arrest of the whole resistance circle. For the first time the exact reconstruction proves that the siblings did not abandon all safeguards, but rather took precautions with an emergency plan. Using new sources, the article refutes the legend, that the siblings had acted spontaneously and rashly due to a warning of an imminent Gestapo hit.
Stefanie Middendorf
Verwaltungsvereinfachung als Ausnahmepraxis? Exekutive Ermächtigungen und Haushaltspolitik 1914/18 bis 1945
Hinter dem spröden Begriff Verwaltungsvereinfachung steht die Vorstellung, der Staat solle gezielter und entschlossener handeln – eine Forderung, die im 20. Jahrhundert immer wieder laut wurde. In den europäischen Krisenzeiten nach dem Ersten Weltkrieg verfing das „Evangelium der Effizienz“ (Ernst Fraenkel) insbesondere im Bereich der Haushaltspolitik. Die Staatsfinanzen standen im Zentrum zeitgenössischer Debatten um Demokratie und Diktatur, und sie verwiesen auf die Erfordernisse einer internationalen Ordnung der Ökonomie. Stefanie Middendorf analysiert anhand der deutschen Erfahrungen zwischen 1914 und 1945, wie in der staatlichen Budgetplanung ein Aggregatzustand der Ausnahmeherrschaft entstand, der transformative Wirkung entfaltete und alltägliche Praktiken des Regierens zu Triebkräften der Ermächtigung werden ließ.
Stefanie Middendorf
Administrative Simplification as Exceptional Practice? Executive Empowerment and Budgetary Policy, 1914/18 to 1945
The austere term administrative simplification is shaped by the notion, that the state should act with more focus and more decisively – a demand, which was repeatedly raised during the 20th century. In European times of crisis after the First World War, the “gospel of efficiency” (Ernst Fraenkel) was particularly influential in the field of budgetary policy. State finances were at the centre of contemporary debates about democracy and dictatorship and pointed to the prerequisites of an international order of the economy. By using the German experiences between 1914 and 1945, Stefanie Middendorf analyses how state budgetary planning developed into an aggregate state of ruling by exception, which exhibited transformative effect and let everyday practices of governing turn into driving forces of empowerment.
Wilfried Loth
Die unvollendete Annexion. Frankreich und die Saar 1943 bis 1947
Der Gründung des Saarlands im Dezember 1947 ging ein langwieriger Suchprozess voraus. Wie sollte man Frankreich die Erträge des Kohlereviers an der Saar sichern, ohne erneut Opfer eines Plebiszits der Saar-Bevölkerung zu werden? Die Wirtschaftsabteilung des Pariser Außenministeriums empfahl dazu im Dezember 1944 die Annexion eines erweiterten Saar-Territoriums verbunden mit der Ausweisung der gesamten Bevölkerung. Die Regierung de Gaulle agierte auf dieser Linie, entschied dann aber im Sommer 1945, nur einen Teil der Bevölkerung auszuweisen. Die übrigen Bewohner sollten durch eine „richtig verstandene Assimilationspolitik“ in die französische Nation integriert werden. Erst im Winter 1946/47 führten die Entwicklung des Meinungsbilds an der Saar und die Notwendigkeit, sich gegenüber den westlichen Siegermächten der Unterstützung des sozialistischen Koalitionspartners zu versichern, zur Beschränkung auf den wirtschaftlichen Anschluss.
Wilfried Loth
The Incomplete Annexation. France and the Saar, 1943 to 1947
The founding of the Saarland in December 1947 was preceded by a protracted search process: How should France secure the output of the coal fields on the Saar without once again becoming the victim of a plebiscite by the Saar population? In December 1944, the economic department of the French Ministry of Foreign Affairs proposed the annexation of an extended Saar-Territory combined with the expulsion of the entire population. The de Gaulle government operated on this basis, but in the summer of 1945 decided to only expel part of the population. The other inhabitants were to be integrated into the French nation by a “correctly understood policy of assimilation”. Only in the winter of 1946/47 did the development of public opinion on the Saar and the necessity to secure the support of the Socialist coalition partner vis-à-vis the western victorious powers lead to the limitation to economic integration.
Philipp Oswalt
Die Potsdamer Garnisonkirche. Wiederaufbau zwischen militärischer Traditionspflege, protestantischer Erinnerungskultur und Rechtsextremismus
Das Projekt, die Garnisonkirche in Potsdam wiederaufzubauen, geht auf die Initiative des Bundeswehroffiziers Max Klaar und der Traditionsgemeinschaft Potsdamer Glockenspiel zu-rück, die der Stadt Potsdam 1991 einen Nachbau des Glockenspiels der Kirche schenkte und dann erfolgreich für die Wiederaufbauidee warb. Nach anfänglicher Ablehnung wandte sich die evangelische Kirche dem Projekt im Jahr 2000 zu. Innerkirchlichem Protest zum Trotz entschied man sich bald mit Rücksicht auf mögliche Spender für eine äußerlich weitgehend originalgetreue und bruchlose Rekonstruktion. 2017 erfolgte die Grundsteinlegung für den Nachbau des Kirchturms. Das Projekt wird inzwischen überwiegend aus Bundesmitteln finanziert und spaltet bis heute die Potsdamer Stadtgesellschaft.
Philipp Oswalt
Potsdam’s Garrison Church. A Rebuilding between the Nurturing of Military Tradition, a Protestant Culture of Remembrance and Right-Wing Extremism
The project of rebuilding Potsdam’s Garrison Church goes back to an initiative by German officer Max Klaar and the Traditionsgemeinschaft (Tradition Association) Potsdamer Glockenspiel, who presented the city of Potsdam with a reconstruction of the glockenspiel of the church in 1991 and subsequently advocated successfully for the rebuilding idea. After initial rejection, the Protestant Church has supported the project since 2000. Despite protest within the church, it was decided to go for an externally faithful and seamless reconstruction in view of the potential donors. In 2017 the foundation stone was laid for the replica of the church steeple. The project is now mostly paid for from federal funds and splits the society of the city of Potsdam to date.
Miszelle
René Smolarski
„Dem deutschen Widerstand“. Die Entstehung der Briefmarken-Gedenkausgabe zum 20. Jahrestag des Attentats auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944
Die Herausgabe von Briefmarken ist ein langwieriger und von vielen Interessen geleiteter Prozess. Trotz ihres Quellenwerts für die Alltags- und Mentalitätsgeschichte und als Barometer des Sagbaren, ist die Beschäftigung mit philatelistischen Quellen nach wie vor primär ein Feld der außeruniversitären Forschung. Die Vielschichtigkeit und politische Relevanz der Briefmarkenemission soll in diesem Beitrag anhand des Entstehungsprozesses der Gedenkausgabe zum 20. Jahrestag des Attentats auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 aufgezeigt werden. Die Betrachtung dieser Gedenkausgabe erscheint daher besonders relevant, weil dieser Jahrestag Veränderungen im bundesdeutschen Widerstandsgedenken zeigt, wie auch an den Auseinandersetzungen um die Briefmarken-Gedenkausgabe deutlich wird.
René Smolarski
“For the German Resistance”. The Genesis of the Postal Stamp Memorial Set on the 20th Anniversary of the Assassination Attempt against Adolf Hitler on 20 July 1944
The issuing of stamps is a protracted process influenced by many interests. Despite their value as sources for the history of everyday life and thought and as a barometer of what can be said, dealing with philatelic sources is still mostly a field for extramural research. In the present article, the complexity and political relevance of emitting stamps is demonstrated using the example of the genesis of the memorial set on the 20th anniversary of the Assassination Attempt against Adolf Hitler on 20 July 1944. Examining this memorial set is particularly relevant because this anniversary marked changes in the West German conception of the resistance, as the disputes about the stamp memorial set clearly show.
VfZ-Schwerpunkt
Tobias Becker
Only Rock’n’Roll? Rock-Musik und die Kulturen des Konservativen
Rock’n’Roll erscheint traditionell oft rebellisch, subversiv und progressiv konnotiert. Solche Zuschreibungen ignorieren jedoch nicht nur Subgenres wie den Rechtsrock, sondern auch die Kritik, die dem Mainstream-Rock schon seit seinen Anfängen vorwarf, den gesellschaftlichen Status quo eher abzubilden und zu stützten als in Frage zu stellen. Rock’n’Roll also ein konservatives Genre? Was können Begriffe wie konservativ und progressiv überhaupt bedeuten, wenn es um Popkultur, Musik und speziell um Rock’n’Roll geht? Woran machen sich solche Zuschreibungen fest? Diesen Fragen geht der Aufsatz entlang einer gerafften Geschichte des Rock von den 1950er bis zu den 1980er Jahren in transnationaler Perspektive nach. Sofern der Rock überhaupt rebellisch ist, so zeigt der Beitrag, kann er sich gegen eine als konservativ wahrgenommene Mainstream-Kultur ebenso richten wie gegen eine als progressiv perzipierte.
Tobias Becker
Only Rock’n’Roll? Rock Music and the Cultures of Conservatism
Rock’n’Roll traditionally appears to exhibit a rebellious, subversive and progressive connotation. Such ascriptions however not only ignore sub-genres such as Rechtsrock (right-wing extremist rock), but also criticism, which from the onset accused Mainstream Rock of merely portraying and supporting the social status quo rather than questioning it. Is Rock’n’Roll therefore a conservative genre? What do terms such as conservative and progressive really mean, when they are applied to pop culture, music and specifically Rock’n’Roll? Which findings are used to support these attributions? The article investigates these questions along an abbreviated history of Rock from the 1950s to the 1980s in transnational perspective. The contribution shows that, inasmuch as Rock is rebellious at all, it can be directed against a mainstream culture which is perceived as conservative just as much as against one which is perceived as progressive.
VfZ-Online
Neu: Ergänzende Materialien zu Nikolai Wehrsʼ Aufsatz in der April-Ausgabe und ein Beitrag in der Rubrik „VfZ Hören und Sehen“
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