Der Weltklimakonflikt Probieren geht über Studieren, weiß der Volksmund. Was man am eigenen Körper spürt, das tut ganz unmittelbar weh – und befördert so unangenehme Erkenntnisse, die man lieber verdrängt hätte. In diesem Sinne leistete Orkan „Kyrill“, der am 18. Januar über Europa zog, was unzählige wissenschaftliche Warnungen bisher kaum vermocht hatten: Er schreckte die Deutschen auf. Denn er demonstrierte hautnah, wie verheerend sich der Klimawandel auch in unseren gemäßigten Breiten auswirken wird. Wenn nicht mehr nur Bangladesch und New Orleans überschwemmt werden, sondern der deutsche Bahnverkehr zusammenbricht und das Meer die Nordfriesischen Inseln zerfrisst, dann gewinnt eine Gefahr plastische Umrisse, die hierzulande eher als ferne Bedrohung wahrgenommen wurde. Die durch die Treibhausgasemissionen verursachten weltweiten Klimaveränderungen sind eine fundamental neue Herausforderung. Noch nie in der Geschichte der Erde hat es einen so grundlegenden Wandel biologischer und physikalischer Prozesse gegeben, der zudem noch menschengemacht ist. Die Dimension der Aufgabe verändert auch die klassischen Koordinaten der Außenpolitik. „Nicht länger kann effektive Außenpolitik sich in der Verteidigung enger so genannter ‚nationaler Interessen‘ erschöpfen“, schreiben in dieser IP Wolfgang Sachs und Hermann E. Ott vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie: „Das nationale Interesse umfasst heute über eine Vielzahl von Rückkopplungs- und Kaskadenmechanismen das Wohlergehen aller Menschen auf diesem Planeten. Das bedeutet aber auch: Das nationale Wohl ist nicht länger der Bezugsrahmen für eine aufgeklärte Außenpolitik, sondern vielmehr das Gemeinwohl der Weltgesellschaft.“ Was heißt das konkret für die deutsche Politik? „Die wachsende Interdependenz der Probleme und der politischen Arenen“, so Umweltminister Sigmar Gabriel in dieser IP, erzwinge auch in der Umweltpolitik einen Paradigmenwechsel: „Der Reparaturbetrieb der Vergangenheit wird zum Konstruktionsbüro für die Zukunft.“ Die Klimakatastrophe ist kein unausweichliches Schicksal. Noch bleiben 15 Jahre Zeit, um durch radikales energiepolitisches Umsteuern die schlimmsten Folgen abzuwenden. Dabei muss Europa die globale Führungsrolle übernehmen. Jetzt, unter deutscher EU-Präsidentschaft, müssen die entscheidenden Weichen gestellt werden.
Sabine Rosenbladt, Chefredakteurin
Der Weltklimakonflikt 6 Wolfgang Sachs und Hermann E. Ott Öljunkies auf Entzug! Umwelt- und Ressourcenkrise: Bewährungsprobe für die Weltinnenpolitik Der Kuchen wird kleiner, der Hunger größer, die Anzahl der Gäste auch: Die Grenzen des Wachstums kehren als geopolitische Konflikte zurück, als soziale Grenzen fossiler Energienutzung. Die Umwelt- und Ressourcenkrise gerät zur Bewährung postnationaler Politik, ihre Überwindung zum Maß globaler Gerechtigkeit.
16 Gerd Rosenkranz Zum Erfolg verdammt Klimawandel und Rohstoffkrise können nur gemeinsam gemeistert werden Der Schlüssel zur Bewältigung der beiden Großrisiken des 21. Jahrhunderts liegt in einer veränderten Energiepolitik, die auf Einsparung, Effizienz und Erneuerbarkeit setzt. Die EU hält diesen Schlüssel in der Hand – es liegt an ihr, die globale Energiewende einzuleiten, welche die Bürger längst wollen und die Energiewirtschaft noch immer blockiert.
28 Sigmar Gabriel „New Deal“ für Wirtschaft und Umwelt Für eine neue Umweltpolitik, die sich nicht gegen den Markt richtet, sondern ihn nutzt Ökologie und Ökonomie wurden lange Zeit fälschlich als Gegensatzpaar gehandelt. Eine neue Umweltpolitik richtet sich nicht gegen den Markt, sondern nutzt ihn, um umweltfreundlichen Technologien und ressourcensparenden Innovationen zum Durchbruch zu verhelfen. Dafür hat der Staat die Rahmenbedingungen zu setzen und die Impulse zu geben – eine Strategie, von der beide Seiten gleichzeitig profitieren.
38 Claudia Kemfert Die Kosten des Klimawandels Der Mensch heizt die Erde auf – was muss er dafür bezahlen? Steigende Temperaturen, steigender Meeresspiegel, sinkendes Land: Die globale Erwärmung ist in vollem Gang, verursacht von Jahr zu Jahr enormere Schäden, welche die Weltwirtschaft in die Rezession treiben können. Dagegen sind die Kosten einer sofortigen Klimaschutzpolitik deutlich geringer – und zwingen die CO2-Verursacher zu Handel und Kooperation.
46 Peter Höppe Apocalypse now Klimawandel und Naturkatastrophen: Vor uns die Sintflut Krisenherd Klima: Hurrikan Katrina wütete in New Orleans und vernichtete im Rekordschadensjahr 2005 über 125 Milliarden Dollar. War der Wirbelstrum Vorbote noch schlimmerer Zerstörungen? Die Georisikoforscher der Münchener Rück warnen: Wetterbedingte Naturkatastrophen nehmen zu – höchste Zeit, die globale Erwärmung noch zu bremsen.
54 Reinhard Loske / Jan Zilius Vorreiter um jeden Preis? Konzepte gegen die Klimakrise. Eine Debatte Ob und wie weit wir in Deutschland und der EU nennenswerte C02-Reduktionsziele erreichen, hängt vor allem von der Wahl unserer Energieträger ab: Dürfen wir weiter Kohle verfeuern? Was bedeutet der Austieg aus der Kernenergie? Welchen Beitrag können Sonne, Wind und Biomasse leisten? Zwei Antworten, zwei Meinungen – aus Energiepolitik und Energiewirtschaft.
60 Reinhold Kopp Hol den Tiger aus dem Tank Biokraftstoffe – Königsweg zu einer nachhaltigen Mobilität? Klimawandel, Energiekrise und weltweit wachsender Verkehr setzen auch die Automobilindustrie unter Druck. Der Einsatz von Biokraftstoffen der zweiten Generation ermöglicht aus Sicht von Europas größtem Fahrzeughersteller einen Ausweg – er vermeidet CO2-Emissionen, erhöht die Versorgungssicherheit und ermöglicht kosteneffiziente Mobilität.
66 Frank Biermann Berlin ist am Zug Europa muss mit dem Süden eine Weltklimapolitik formulieren – auch ohne die USA Bei der Eindämmug der Erderwärmung wächst der EU eine Führungsrolle zu. Will sie an den Zielen Kyotos festhalten und ein universelles Klimaregime aufbauen, darf sie sich nicht auf Amerikas Verlangen nach unverbindlichen Absprachen einlassen. Ob sie damit Erfolg hat, entscheidet auch das Land, das derzeit die EU-Ratspräsidentschaft innehat: Deutschland.
75 Petra Holtrup Mostert Transatlantisches Tauwetter Warum die Chancen für eine neue US-Klimapolitik besser stehen denn je Kyoto hin, Kyoto her: Einen echten Durchbruch im Kampf gegen den Treibhauseffekt wird es ohne Mitwirkung der USA nicht geben. Grund zur Hoffnung bieten neben dem Wahlsieg der Demokraten im vergangenen Herbst die klimapolitischen Initiativen abseits der Regierungspfade. Hier kann und muss der transatlantische Dialog ansetzen.
82 Christof Mauch und Kiran Klaus Patel Raubbau und Rettung Natur- und Umweltschutz in den USA und Deutschland: ein Vergleich In den USA wie in Deutschland war Umweltschutz lange Zeit gleichbedeutend mit der selektiven Bewahrung ausgewählter Naturschönheiten bei gleichzeitiger Plünderung der Naturressourcen. Erst seit kurzem bestimmt die gemeinsame Einbettung in eine globale Umwelt die politische Agenda – mit unterschiedlichen Konsequenzen.
Internationale Politik 92 AMERIKA Irakisches Roulette von John C. Hulsman Der Irak-Krieg und seine Folgen für die amerikanische Innenpolitik
Die von der Regierung Bush angeordnete Truppenverstärkung wird die Lage im Irak nicht grundlegend ändern. Wichtiger ist die Frage, welchen politischen Niederschlag sie in Amerika finden wird. Denn der Irak wird immer mehr zum beherrschenden Thema werden und mit entscheiden, wer der nächste Präsident der USA wird.
98 NAHOST Warum ich Israel kritisiere von Alfred Grosser Die israelische Politik ist unrecht. Wer sie bekämpft, ist kein Antisemit Ich wurde als Jude von den Deutschen verachtet – und glaubte nach Auschwitz doch an unsere gemeinsame Zukunft. Ich verstehe nicht, dass Juden heute andere verachten und sich das Recht nehmen, im Namen der Selbstverteidigung unbarmherzig Politik zu betreiben. Verständnis für die Leiden der anderen – gilt dieser Grundwert Europas nicht erst recht für Israel?
110 DEUTSCHE AUSSENPOLITIK Dabei ohne Debatte von Jochen Thies Plädoyer für einen außen- und sicherheitspolitischen Diskurs in Deutschland Vor rund 15 Jahren betrat das wiedervereinigte Deutschland die Weltbühne. Doch eine außen- und sicherheitspolitische Debatte über die Rückkehr des Landes in die internationale Politik findet bis heute nicht statt. Mittlerweile ist diese Auseinandersetzung überfällig – auch wegen der bedrohlichen Lage in Afghanistan.
116 GLOBALISIERUNG Vorneweg statt hinterher von Ditmar Staffelt Deutschland braucht eine Globalisierungsstrategie Deutschland kann einen wichtigen Beitrag zur politischen Steuerung der Globalisierung leisten. Besonders im Klimaschutz verfügt das Land über einen reichen Erfahrungsschatz und das notwendige technische Know-how. Hier sollte es eine Vorreiterrolle übernehmen und sich in der multipolaren Weltordnung selbstbewusst platzieren.
124 RUSSLANDBILDER Hurra, wir konsumieren! von Stefan Scholl Russlands Verhältnis zum Westen zwischen Kaufrausch und Borat-Bashing Die politischen Journale Russlands beschäftigten sich nicht erst zur Jahreswende mit dem Verhältnis Russlands zur Welt. Gerade die Beziehungen zum Westen stellen für die großen Moskauer Zeitschriften einen ständigen Anlass dar, um Russlands Rolle im internationalen Geschehen immer wieder neu zu bestimmen.
128 BUCHKRITIK Wende oder Ende von Danyel Reiche, Matthias Corbach, Reinhard Loske, Thomas Rid und Jan Techau Rezepte zur Rettung des Planeten, Einblicke in die Führungsspitze von Al-Qaida und Annäherung an ein Mysterium namens „Leadership“
Kolumnen 90 WERKSTATT DEUTSCHLAND von Karl-Rudolf Korte Koalition der Willigen Warum die Bundesregierung ihr Potenzial nicht ausschöpft
108 ÖKONOMIE von Birger P. Priddat Elite hier, Einfalt dort Welche Konsequenzen hat die Viergliederung des Hochschulsystems?
122 KULTUR von Lorenz Jäger Willkommen in der Wirklichkeit Neue Vorstöße und alte Rückzüge im Historikerstreit
136 TECHNOLOGIE von Tom Schimmeck Versprochen, gebrochen Genforschung und Gentherapie: Was bleibt von den großen Hoffnungen?
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